Es ist eine eindrückliche Zeiterscheinung: Weltweit prägen immer mehr Populisten die Politik. In Europa ignorieren Autokraten internationale Abmachungen. Für Exponenten politischer Parteien in der Schweiz sind Parolen wichtiger als Lösungen. Weltweit geht die Kompromissfähigkeit verloren. Was sind die Konsequenzen?
Offensichtlich steuern wir auf eine vermehrt polarisierende Welt zu. Politische Errungenschaften der letzten 75 Jahre werden infrage gestellt. Unabhängigkeitsgelüste einzelner Regionen spalten nationale Einheiten. Politische Scharfmacher profilieren sich. Der EU droht eine Ost-West-Spaltung.
Viele Menschen sind mit dem Status quo ihres Lebens unzufrieden und rufen nach Change. Gleichzeitig sinkt weltweit die Bereitschaft, sich für Lösungen im Rahmen der internationalen Gemeinschaft zu engagieren. In der Gesellschaft macht sich Egoismus breit. In der Schweiz erodiert das Milizsystem.
Was auf der Strecke bleibt
Wer sind die Verlierer oder was bleibt auf der Strecke bei diesem Trend? Es sind friedenssichernde Organisationen wie die Uno, wohlstandsfördernde Staatengemeinschaften wie die EU („in Vielfalt geeint“). Auch der verantwortungs- und anspruchsvolle Zusammenhalt innerhalb der Nation wird gefährdet (Beispiel: Spanien/Katalonien), ebenso die Akzeptanz nationaler Regierungen (Störfeuer der AfD in Deutschland). Auf der Strecke bleiben schliesslich auch moderate Reformbestrebungen in der Schweiz (Rentenreform).
Trump ruft „America first!“, Putin säubert Russland von politischen Gegnern. Erdogan etabliert sein autoritäres Präsidialsystem in der Türkei. Die Französin Le Pen verklärt den „Front National“. May und der Brexit stehen für das verantwortungslose Spiel mit dem Feuer ohne Rücksicht auf Verluste. Blocher poltert gegen die Personenfreizügigkeit und die Bilateralen mit der EU. – Ihnen allen geht es nicht um den Wert eines Ganzen, sondern um den Vorrang von ihnen persönlich bevorzugter Teilaspekte.
Erosion der Werte
Nach den prägenden Erfahrungen zweier Weltkriege im letzten Jahrhundert sind drei Generationen herangewachsen, die ein prosperierendes Umfeld erlebten. Krieg zwischen Nationen ist kein Thema mehr, Frieden und Wohlstand erscheinen als fundamentale Menschenrechte. Inzwischen kennen grosse Teile der Bevölkerung materielle persönliche Existenzängste nur noch vom Hörensagen. Nachbarschaftliche Hilfe erübrigt sich, persönliches Engagement für ein gemeinnütziges Ziel wird schon gar nicht ins Auge gefasst. – Alles Schwarzmalerei?
Natürlich soll man nicht verallgemeinern. Nicht alle Menschen ticken gleich. Doch ein Trend lässt sich nicht leugnen: Der Egoismus nimmt in der Gesellschaft zu. Der persönliche Machtfaktor verdrängt ein lösungsorientiertes Handeln, Kampf statt Kompromiss, Kriegsrhetorik statt Vernunft feiern in der Politik ein Comeback. Gewinnvermeidung (genannt „Gewinnoptimierung“) ersetzt die Gewinnsteuer bei den wirtschaftlichen Global Players.
Auf die Feststellung, dass Werte verblassen, entgegnen manche: „Welche Werte? Was mir nützt, ist wertvoll.“
Die neuen Guidelines
Neue Guidelines ersetzen die alten Werte. Die Verklärung der heilen Vergangenheit (die gar niemand so erlebt hat) führt zu vergangenheitsorientierten statt zukunftsfokussierten Zielsetzungen. Konservatives Verhalten ersetzt das einst liberale Vorbild. Die Konsequenz: einzelne Printmedien nennen sich jetzt unverfroren konservativ-liberal.
Ideologisches Gehabe prägt den Auftritt vor einem unmündigen Publikum und wird beklatscht. „Amerika first!“ (Trump), „Asylsuchende und NGOs raus!“ (Orban), „Merkel jagen!“ (Gauland, AfD), „Die Personenfreizügigkeit muss jetzt weg!“ (Blocher).
Was ist solchem Gerede gemeinsam? Sturheit, Selbstüberschätzung, Abschottung statt Öffnung, nationale Erregtheit statt globalem und strategischem Einordnen. Kampf ist wichtiger als Konsens. Der Mythos nationaler Unabhängigkeit wird verklärt. Globale Einflüsse wie Klimaerwärmung werden geleugnet oder ignoriert. Doch es gibt eben Tatsachen, denen an der Staatsgrenze kein Einreiseverbot auferlegt werden kann.
Unabhängig wovon?
Katalonische Nationalisten kämpfen für die Unabhängigkeit von Spanien. Obwohl keine der klassischen Voraussetzungen für einen so drastischen Schritt gegeben ist, hetzen sie das Volk gegen die Regierung auf. Britische Brexit-Fans sehen ihr Heil in der Loslösung von der EU, obwohl Theresa May auch im September 2017 weder Plan noch Vorstellung über die zukünftige Situation mit der EU hat. Warum tun sie das? Sie sind weder unterdrückt, noch wissen sie die Mehrheit ihrer Bevölkerung hinter sich. (Die Mehrheit bei einer Abstimmung repräsentiert bekanntlich nicht die Mehrheit der Bevölkerung. Diese meldet sich nachträglich zu Wort: „Wenn wir das gewusst hätten …“).
Kämpfer für Unabhängigkeit meinen damit vermutete Nachteile gegen vermutete Vorteile einzutauschen: Weniger Geld für andere (Steuern, Beitragszahlungen), dafür mehr Geld für uns. Eine Milchbüchlein-Rechnung!
Kollektiver Egoismus funktioniert als Motivator. „Unabhängigkeit“ tönt immer gut. Doch Unabhängigkeit in der globalisierten Welt mit ihren grossen Herausforderungen, denen nur auf globaler Ebene begegnet werden kann, ist eine Illusion. Umkehrfolgerung: Wir erfreuen uns der Freiheit, des Wohlstands und Friedens in Europa dank internationaler Vereinbarungen, grenzüberschreitender Sicherheitsmassnahmen, zielgerichteter Kooperationen und besonnener Menschen in wirtschaftlichen und politischen Führungspositionen.
Und bei uns?
Das Abstimmungsresultat zur Rentenreform vom 24. September 2017 zeigt mit aller Deutlichkeit, dass einige der Exponenten unserer politischen Parteien den Kampf dem Kompromiss vorziehen. „Reform ja, aber nicht so!“, tönte es siegesgewiss. Doch in unserer direkten Demokratie wird es keine Reformen geben ohne Kompromisse auf der einen und anderen Seite, auch bei der nächsten Rentenreform, dem fünften Anlauf. Seit nunmehr über 22 Jahren scheitert die Altersvorsorge an Polit-Egoisten.
Polarisierende Zeiterscheinungen sind Ausdruck mangelnder ganzheitlicher Betrachtung. Was darauf folgt: permanenter Kampf statt unvermeidbarer Kompromiss. Kein idealer Zustand jedenfalls.