Im Kalten Krieg galt die Türkei als der südliche Eckpfeiler der Nato. Heute ist die Türkei Mitglied der Nato. Doch es sieht so aus, als ob der einstige Eckpfeiler des westlichen Bündnisses umgangen oder umflutet werden könnte – nicht gegen den Willen der Türkei, sondern mit ihrer Zustimmung.
Konstante der Weltpolitik seit 1792
Die Eckpfeiler-Position ist viel älter als die Sowjetunion. Konstantinopel war westlicher Vorposten gegen das Zarenreich, seitdem Russland die Hegemonie im Schwarzen Meer errungen hatte. Dies kann man mit dem Vertrag von Jassy auf 1792 datieren. Durch diesen Friedensvertrag mit Russland verlor das Osmanische Reich seine Herrschaft über das Schwarze Meer. Odessa wurde kurz zuvor von Zarin Katharina der Grossen gegründet und ist später zum grössten Hafen der Sowjetunion geworden. Seither ist Konstantinopel-Istanbul der Riegel, der eine Ausdehnung der russischen Macht in den Mittelmeerbereich kontrolliert.
Die Aufrechterhaltung dieser Sperre war das ganze 19. Jahrhundert hindurch eines der wichtigsten Anliegen des britischen Imperiums. London sorgte dafür, dass das immer „kränkere“ Osmanische Reich aufrecht blieb und seine Hauptstadt Konstantinopel-Istanbul behalten konnte, trotz aller russischen Versuche, sich der Meerengen zu bemächtigen.
Als diese Politik in Gefahr zu sein schien, weil der russische Zar Nikolaus I. die türkische Flotte im Schwarzen Meer zerstörte und seine Truppen nach Anatolien einfallen liess, löste Grossbritannien im Gegenangriff zusammen mit Frankreich den Krimkrieg aus (1853-56). Die europäischen Mächte im Bündnis mit der Pforte segelten durch das Schwarze Meer und belagerten die Russen in der Festung Sewastopol auf der Krim-Halbinsel. Ihr teuer erkaufter Sieg bewirkte, dass Konstantinopel als Riegel des Westens erhalten blieb.
Vom Bund mit Russland zum Nato-Beitritt
Zu einer neuen weltpolitischen Konstellation kam es erst ein halbes Jahrhundert später im Vorfeld des Ersten Weltkrieges, als die Russen und die Engländer ihre Gegensätze in Asien bereinigten, um gegen das aufsteigende Deutschland zusammenzuarbeiten. Das Zarenreich wurde im Grossen Krieg Verbündeter der Engländer und Franzosen, während das Osmanische Reich die Partei Deutschlands und Österreichs ergriff. Damals versprachen England und Frankreich ihrem Bundesgenossen Russland den Besitz Konstantinopels, wenn das Osmanische Reich besiegt und aufgeteilt werde. Doch die russische Revolution brach aus, bevor es so weit war, und Istanbul blieb Bestandteil der neuen Türkischen Republik.
Die Konvention von Montreux aus dem Jahr 1936, die heute noch gilt, macht die Türkei zum Wächter der Meerengen. Sie garantiert die allgemeine freie Durchfahrt, hat aber das Recht, in Kriegszeiten die Passage von Kriegsschiffen zu verbieten. Die Durchfahrt von Kriegsschiffen der Nicht-Schwarzmeerstaaten ins Schwarze Meer ist in der Konvention an genau bestimmte Voraussetzungen gebunden.
Stalin versuchte 1946 die Montreux-Verträge durch ein Regime zu ersetzen, das die Sowjetunion und die Türkei gemeinsam zu Wächtern der Meerengen machen würde. Gleichzeitig erhob er territoriale Forderungen an der Schwarzmeerküste im Osten der Türkei. Doch die Amerikaner widersetzten sich und suchten mit der Truman-Doktrin sowohl Griechenland wie die Türkei gegen sowjetische Einflüsse und Besitzansprüche zu schützen. Dies führte 1952 zum Eintritt der Türkei in die Nato.
Russland plötzlich auch im Süden der Türkei
Nun ergibt sich eine neue Konstellation durch die Präsenz Russlands südlich der Türkei in Syrien. Sie ist zwar getarnt als Hilfe für den unabhängigen Staat Syrien. Doch heute ist anzunehmen, dass Russland gedenkt, auf unbestimmte Zeit in Syrien zu bleiben; die Basen in Tartus und bei Latakiya wird es auf absehbare Zeit schwerlich wieder aufgeben.
Erdogan scheint bereit, sich auf diese Lage einzustellen. Er hat am 22. Oktober dem Fernsehkanal „Rossija 1“ erklärt: „Ich brauche die Hilfe meines respektierten und wertvollen Freundes Putin für unseren gemeinsamen Kampf gegen den Terrorismus in dieser Region. Wir sind bereit, alle nötigen Schritte der Zusammenarbeit mit Russland in dieser Hinsicht zu tun.“
Die vorgesehene Zusammenarbeit betrifft Syrien und den Irak. In Syrien beabsichtigte die türkische Politik seit Jahren die Bildung einer Sicherheitszone an der türkischen Grenze auf der syrischen Seite. Jahrelang hatte sie bei den amerikanischen Verbündeten darum geworben, dass eine solche Zone durchgesetzt werde.
Washington hatte abgelehnt. Die Begründung war, um eine solche Zone gegenüber Damaskus durchzusetzen, müsste die syrische Luftwaffe neutralisiert werden. Dies wäre nicht abgegangen ohne ein grösseres Engagement der amerikanischen Luftwaffe gegen die syrische und hätte sich leicht zu einem vollen Nahostkrieg in Syrien ausweiten können. Nahostkriege wollte jedoch die Obama-Regierung nach den amerikanischen Erfahrungen im Irak und dem schlechten Ausgang des Eingreifens in Libyen keine mehr führen.
Russland, neue Vormacht im Nahen Osten
Nun gibt es eine neue militärische Vormacht in Syrien, und Erdogan hat – nach anfänglichem Streit über ein abgeschossenes russisches Kriegsflugzeug – erkannt, dass er sich mit ihr arrangieren muss. Die Koordination mit Russland läuft vorläufig noch über häufige direkte Telephongespräche Erdogans mit Putin. Später wird sie vielleicht institutionalisiert werden. Schon heute bringt sie beiden Seiten Gewinn. Die Türkei bekommt ihre Sicherheitszone, ohne dass Russland oder Syrien sich dagegen aussprechen. Die Türkei sagt Russland zu, sie wolle den Terrorismus gegen den IS aktiv bekämpfen und hat damit auch begonnen.
Der „andere“ Terrorismus ist in den Augen der Türken die Gegenwart der syrischen Kurden als politische und militärische Kraft direkt an ihrer Grenze. Die Schaffung der Sicherheitszone wendet sich primär gegen sie. Die Zone jenseits der syrischen Nordgrenze soll verhindern, dass die syrischen Kurden sich zu einem zusammenhängenden territorialen Streifen entlang der ganzen türkischen Nordgrenze zusammenschliessen.
Mit den irakischen Kurden, weiter im Osten, hat die Türkei seit Jahren wirtschaftlich und politisch zusammengearbeitet. Sie tut es nun auch militärisch, indem sie Truppen auf irakischem Boden, nördlich von Mosul, in einem Gebiet unterhält, das von den irakischen Kurden (Peschmerga) gehalten und Richtung Mosul ausgedehnt wird. Diese türkischen Truppen sind offiziell da, um irakische Kurden auszubilden. Doch gemäss türkischen Informationen haben sie in den jüngsten Tagen den Peschmerga Schützenhilfe gegen den IS geleistet durch Unterstützung mit Artillerie- und Panzerfeuer. Bagdad prostestiert energisch, aber offenbar machtlos gegen die türkische Präsenz auf irakischem Territorium.
Türkisch-russische Absprachen in Syrien?
Man hat anzunehmen, dass es Absprachen zwischen Erdogan und Putin darüber gibt, wie weit die türkische Sicherheitszone in Syrien nach Süden ausgedehnt werden soll und darf. Die Stadt al-Bab wird gegenwärtig vom IS beherrscht. Die syrischen Kurden wie auch ihre Gegner, die türkischen Truppen (beide zusammen mit ihren jeweiligen lokalen Hilfstruppen), suchen al-Bab zu erobern.
Ob es Absprachen mit Putin darüber gibt, wer sie erobern darf, die Türken oder die syrischen Kurden, weiss man nicht. Doch man kann es vermuten. Das Resultat der Kämpfe um al-Bab wird einen Hinweis darauf geben, wie weit die türkische Sicherheitszone in Nordsyrien nach dem Süden hinab ausgedehnt werden kann.
Heute schon kann man sagen: Was Erdogan mit amerikanischer Hilfe nicht schaffte, hat er nun – mindestens in ersten Ansätzen – mit Zustimmung Russlands erreicht: die Schaffung seiner Sicherheitszone.
Zusammenarbeit in beider Interesse
Natürlich wird Putin versuchen, Erdogan weiter als Verbündeten und Klienten zu behalten. Es kommt seinen Plänen zupass, dass wegen der strittigen Frage der Auslieferung Gülens die Beziehungen zwischen Washington und Ankara gespannt bleiben werden.
Im Wirtschaftsbereich gibt es bedeutende gemeinsame Interessen, deren Verwirklichung der türkischen und der russischen Seite zum Nutzen gereichen kann, allen voran atomare Zusammenarbeit beim Bau von Kraftwerken und die geplante Rohrleitung für Gas durch das Schwarze Meer und die Türkei mit Verlängerung bis nach Italien. Sie würde Russland erlauben, das Gas-Transitmonopol der Ukraine von Russland nach Europa zu brechen.
Viele kleinere, sofort zu verwirklichende Geschäfte sind bereits wieder in Betrieb genommen worden, wie die Lieferung von Früchten und Gemüse an Russland und Tourismus von Russen in der Türkei, ferner türkische Bauarbeiten in Russland, alles bezahlt mit russischem Gas und russischen Grossprojekten in der Türkei.
Auf zwei Hochzeiten tanzen
Was die Meerengen angeht, so kann Russland zurzeit darauf zählen, dass die Türkei den russischen Schiffsverkehr, kommerziell wie auch militärisch, nicht belästigen wird. Den Verträgen nach könnte Ankara die Durchfahrt von Kriegsschiffen verbieten, falls Krieg herrscht. Krieg gibt es zwar in Syrien und in der Ukraine. Doch es sind keine erklärten Kriege. Gegenwärtig steht die Türkei den Russen zu nah, um ihnen Hindernisse in den Weg zu legen.
Wie sich das Verhältnis in Zukunft entwickeln wird, bleibt abzuwarten. Die Türkei kann ihre offizielle Bindung zur Nato wieder in den Vordergrund spielen, falls sie das als opportun ansieht, oder sie kann sich auf engere Zusammenarbeit mit einem Russland einstellen, von dem sie sowohl im Norden, im Osten und neu, durch die russische Präsenz in Syrien, nun auch im Süden umfasst wird.