Noch vor Auszählung aller Stimmen spricht Präsident Erdogan von "Sieg".
Die grösste Oppositionspartei, die CHP, befürchtet Abstimmungsmanipulation. Sie verlangt eine Neuauszählung von 60 Prozent der Stimmen.
55,3 Millionen Türkinnen und Türken waren aufgerufen, darüber zu entscheiden, ob die Türkei ein Präsidialsystem einführen soll.
Der Urnengang fand nach einem sehr ungleichen Abstimmungskampf statt. Die Gegner der Reform bekamen kaum Gelegenheit, sich öffentlich zu äussern. Mit repressiven Mitteln, wüsten rhetorischen Ausfällen und massiven Drohungen verlangte Erdogan von seinen Bürgern, ein Ja in die Urne zu legen. Am Fernsehen durften die Oppositionspolitiker nicht auftreten, einige von ihnen wurden festgenommen.
Laut der NGO „Transparency International“ sind allein im März 112 Gegner der Reform festgenommen worden. 150 dissidente Journalisten sitzen im Gefängnis. Zehn politischen Parteien wurde verboten, öffentlich gegen die Reform aufzutreten. Exiltürken wurden in ganz Europa ausspioniert und bedroht.
Eine Lektion, auch für die Schweiz
Die Opposition befürchtet, dass die Türkei mit der neuen Verfassung in eine Diktatur abdriftet. Erdogan könnte bis mindesten 2024 die Geschicke des Staates leiten, ohne von einem Parlament nennenswert behindert zu werden.
Erdogan sagte am Vorabend der Abstimmung, das türkische Volk würde jetzt „jenen europäischen Ländern eine Lektion erteilen, die uns in den vergangenen zwei Monaten mit aller Art von Gesetzlosigkeit einschüchtern wollten“. Explizit nannte er Deutschland, Österreich, Belgien, die Schweiz und Schweden.
Nach einem Sieg an diesem Sonntag stellte Erdogan auch die Wiedereinführung der Todesstrafe in der Türkei in Aussicht.
Fast unbeschränkten Einfluss
Mit der neuen Verfassung soll in der Türkei ein Präsidialsystem entstehen. Danach könnte der Präsident per Dekret regieren und nach Belieben den Ausnahmezustand verhängen. Er würde auch seine Minister und ihre Stellvertreter wählen. Auf die Ernennung der Richter hätte er grossen Einfluss. Kritiker befürchten bei einer Annahme der Reform ein Ende der unabhängigen Justiz.
Erdogan könnte zudem die AK-Partei weiterhin beherrschen, was ihm fast unbeschränkten Einfluss brächte.
Die neue Verfassung soll jene von 1982 ersetzen, die die damalige Militärregierung geschrieben hatte und die vom Volk mit grosser Mehrheit angenommen worden war, in der Zwischenzeit aber mehrmals leicht abgeändert wurde.
Umfragen über einen möglichen Ausgang des Referendums sind widersprüchlich und wenig aussagekräftig. Viele Oppositionelle fürchten einen Abstimmungsbetrug und glauben, dass Erdogan ein eventuelles Nein zur Reform nicht auf sich sitzen lassen würde. „Ein Nein wird der Sultan sicher nicht akzeptieren“, sagt ein kurdischer HDP-Politiker. Erdogan könnte bei einem Nein – so befürchtet die Opposition – seinerseits von Abstimmungsbetrug sprechen, eine neue Abstimmung ansetzen und ihr Resultat zu seinen Gunsten zurechtbiegen.
Im ganzen Land sind fast 170'000 Abstimmungsurnen aufgestellt. Die OSZE verfolgt die Abstimmung mit elf Expertengruppen. Sie dürfen aber nur Stichproben durchführen. Abgeordnete der Regierung und der Opposition sind in den Abstimmungslokalen teilweise zugelassen, um den Urnengang und die Auszählung zu beobachten.
(J21)