Die AKP, Partei Erdoğans, hat mit 49,4 Prozent der Stimmen ein absolutes Mehr von 317 Parlamentssitzen gewonnen. Damit kann die Partei eine Regierung bilden. Doch es fehlen ihr 14 Parlamentssitze, um ein Referendum zu erzwingen, mit dem die Verfassung geändert werden könnte.
Das Ergebnis bedeutet: Erdoğan und seine Partei können zwar jetzt durch Gesetzesänderungen seine Position stärken. Doch die AKP ist nicht in der Lage, die Verfassung zu ändern. Mit einer solchen Verfassungsänderung möchte Erdoğan seine Kompetenzen stark erweitern.
Alles dominierende Persönlichkeit
Der Staatspräsident ist laut Verfassung eine Persönlichkeit mit repräsentativen Funktionen. Demgegenüber hat der Ministerpräsident exekutive Macht. In der Praxis ist dies nur bedingt der Fall. Erdoğan wird wohl nach wie vor – und mehr denn je – seine Macht ausspielen. Als einflussreichster Mann in der AKP wird er einen Ministerpräsidenten einsetzen, der nach seiner Pfeife tanzt. Vielleicht wird dies erneut Ahmet Davutoğlu, der bisherige Regierungschef, sein.
Erdoğan wird ohne Zweifel weiterhin die grossen politischen Linien vorgeben. Geschieht dies nicht in seiner Eigenschaft als Staatspräsident, so geschieht es eben als alles dominierende Persönlichkeit der Regierungspartei. Doch gerade weil ihm offiziell die exekutiven Befugnisse fehlen, wird Erdoğan alles daransetzen, um via Gesetzgebung seine Kompetenzen auszubauen und zu festigen.
Die Kurden bleiben im Parlament
Die Wahlresultate zeigen auch, dass die pro-kurdische Partei DHP ("Demokratische Partei der Völker") die 10 Prozent-Hürde knapp übersprang. Sie erhielt 10.8 Prozent der Stimmen. In den Wahlen am 7. Juni hatte sie 13,1 Prozent erhalten. Mit andern Worten, sie hat jetzt etwa eine Million Stimmen verloren. Sie sichert sich nun 59 Sitze im Parlament statt 80 wie zuvo.
Doch der Umstand, dass sie die 10 Prozent-Hürde nahm, war entscheidend. Wäre dies nicht geschehen, wären die Stimmen, die die DHP erhalten hat, unter die anderen Parteien aufgeteilt worden, und zwar entsprechend ihrer Parteienstärke. Dies hätte die siegreiche AKP über die Grenze von 330 Sitzen hinausgehoben, die für ein Verfassungsreferendum nötig gewesen wären.
Einige Nationalisten wählten "nützlich"
Die nationalistische MHP hat die grössten Stimmenverluste zu verzeichnen. Ihr Anteil ging von 16.5 Prozent zurück auf 12 Prozent. Dies bringt ihr 40 Sitze gegenüber 79 im vorherigen Parlament. Man hat anzunehmen, dass ein bedeutender Teil der bisherigen MHP-Wähler "nützlich" wählten. Sie gaben ihre Stimme der AKP, weil sie erkannten, dass nur diese, nicht die MHP, in der Lage sei, die bisherige Stabilität in der Türkei aufrecht zu erhalten und weiterzuführen. Die MHP als partnerlose Minderheitspartei könnte dies nur schwerlich und hätte kaum Einfluss.
Die „Republikanische Volkspartei“ (CHP), die in der Tradition Atatürks steht, gewann mit nur geringen Verlusten 25 Prozent der Stimmen und 134 Parlamentssitze. Auch in ihrem Fall hat offenbar die AKP-Propaganda gewirkt, die grob formuliert lautete: "Entweder wir oder das Chaos!"
"Lasst uns alle Brüder und Türken sein"
Die schweren Unruhen, die während des Wahlkampfs ausgebrochen waren, haben laut Ansicht der Wahlverlierer der AKP genützt. Die pro-kurdische DHP und die "laizistische" CHP argwöhnen, dass die Gewalt und die Unruhen von geheimen parastaatlichen Organen toleriert oder gar gefördert worden seien. Erdoğans AKP hob im Wahlkampf immer wieder hervor, die staatlichen Organe hätten mehrere Verschwörungen niedergeschlagen. Ziel der Gülen-Bewegung, der PKK und des „Islamischen Staats“ sei es gewesen, das Land zu schädigen oder zugrunde zu richten.
Nach seinem Wahlsieg schlug Erdoğan versöhnliche Töne an. Er erklärte, die Wähler hätten gezeigt, dass sie "Aktion und Entwicklung wünschen, nicht Diskussionen". Und weiter: "Lasst und Brüder und Türken sein, alle zusammen!" Auch das Ausland sollte die Tatsache respektieren, dass eine Partei mit der Hälfte aller Stimmen die Macht errungen habe. Er fügte hinzu: "Ich habe jedoch eine solche Reife nicht gesehen!".
Glück im Unglück für die Kurden
Sein pro-kurdischer Gegenspieler, Selahattin Demirtaş, sagte, die Wahl sei nicht "aufrichtig und ausgeglichen" verlaufen. Seine Partei hatte ihre Wahlkampagne nach dem Terroranschlag von Ankara und den Angriffen auf ihre Parteilokale im ganzen Land kurz vor den Wahlen eingestellt.
Demirtaş wertete den Umstand, dass seine Partei die 10 Prozent- Schwelle genommen hatte, als einen Sieg unter den gegebenen Umständen. Was den Schluss zulässt, dass er weiter für die Kurden, die andern Minderheitsvölker und die Linksparteien kämpfen will. Aus Enttäuschung über die Stimmenverluste der Kurden brachen in der grössten kurdischen Stadt, Diarbakir, Unruhen aus. Die Polizei schritt ein, und eine Person wurde getötet.
Konfrontation oder Versöhnung?
Nach seinem Wahlsieg muss Erdoğan wählen: Entweder setzt er wie bisher auf Konfrontation und verschafft sich durch neue Siege über „Verschwörungen“ – ob sie nun stattfanden oder nicht – einen weiteren Machtzuwachs.
Oder aber, er versucht, die Türken zu versöhnen und das gespaltene Land wieder zu einen. Würde er diese Option wählen, stünde er vor drei schwierigen Aufgaben: Er würde wohl den „Islamischen Staat“ in Syrien – und soweit präsent in der Türkei – energischer als bisher bekämpfen. Zudem müsste er die PKK in einen Friedensprozess einbinden. Mit der bisher verhassten Gülen-Bewegung müsste er eine Versöhnung anstreben, anstatt sie zu verteufeln.
Auf kurze Frist gesehen, wäre es wohl einfacher, den Kampf gegen alle drei (IS, PKK, Gülen) so wie bisher weiterzuführen. Er könnte dann hoffen, dass ihm dieser Kampf weitere Erfolge bringt.
Doch mittelfristig würde sein harter Kurs wahrscheinlich zu Spannungen führen, dem Land schaden – und auch die gegenwärtige Führung in Gefahr bringen.