Er ist zweifellos eines der kuriosesten Museen der Schweiz: Der Gletschergarten in Luzern. Da gibt es riesige und einzigartiger Gletschertöpfe, eine ganze Sammlung wertvoller Alpenreliefs, darunter jenes von Franz Ludwig Pfyffer von Wyher, entstanden 1762 bis 1786, das die alpine Region um den Vierwaldstättersee zeigt, ferner Steine, Kristalle, Fossilien, ausgestopfte Vögel, Knochen eines Höhlenbären, Modelle von Schweizer Chalets, eine Abteilung Alt-Luzern mit entsprechenden Bildern und Möbeln, eine „Schultheissenstube“, Phantasieprodukt eines Schreiners.
Das alles, untergebracht in einem „Schweizerhaus“ des ausgehenden 19. Jahrhunderts (das aber überhaupt kein „Schweizerhaus“ ist, sondern allenfalls das, was Touristiker und manche Baumister um 1900 für ein Schweizerhaus hielten), ist eingebettet in eine künstliche alpine Landschaft mit Aussichtsturm und Bergpfaden und kleinem Gletscher-Diorama. Dazu freut ein Spiegellabyrinth maurischen Stils die kleinen und grossen Kinder.
Eine kunterbunte Mischung also, ein leicht angestaubter kurioser Gemischtwarenladen zwischen historischer Gartenanlage und Heimat- und Naturmuseum.
Am Anfang stand ein Zufall
Entstanden ist das alles aus Zufall. Im Oktober 1872 wollte Josef Wilhelm Amrein-Troller (1842–1881) auf seinem Grundstück im Luzerner Wey-Quartier einen Weinhandel betreiben, grub einen Keller aus – und stiess auf erste Gletschertöpfe. Am Ende waren es 16. Die Entdeckung war eine geologische Sensation weit über Luzern hinaus.
Amrein wechselte kurzerhand sein Geschäft und setzte, mit guter Nase für Aktuelles, auf Geologie, Urgeschichte, Natur – und auf den eben einsetzenden Tourismus. Nach Amreins Tod behauptete sich seine Witwe Marie (1849–1931) in langen Erbschaftsstreitigkeiten und leitete das Famiienunternehmen mit Tatkraft. Sie war es, die 1898 das Spiegellabyrinth ankaufte, das ein Publikumsmagnet der Landi 1896 in Genf war und dem Gletschergarten, obwohl thematischer Fremdkörper, zu neuer Attraktivität verhalf.
Und nun die „Felsenwelt“, die erste grosse Erweiterung seit diesem Ankauf, die bisher grösste Ausweitung des Gletschergartens überhaupt: Seit kurzem lädt sie die Besucherinnen und Besucher ins Innere des Felsens ein. Kavernen, Gänge und Treppen sind tief in jenen Sandstein hineingesprengt, aus dem just nebenan Karl Pfyffer von Altishofen 1821 den berühmten Löwen hauen liess, was den Luzernern einen idyllischen Platz und den Touristinnen und Touristen, die meist keinerlei Ahnung haben von Sinn oder Unsinn dieses Denkmals, Gelegenheit zu romantischen Selfies bescherte. 200 Jahre sind seit der Einweihung des Löwen ins Land gegangen. Seit 1873 gibt es den Gletschergarten mit den Töpfen, mit dem Museum und allem Drum und Dran – vorerst als Privatfirma der Familie Amrein-Troller, die während Jahrzehnten von dieser Unternehmung lebte, heute als private Stiftung.
Befreiungsschlag für die Zukunft?
Vielleicht war der Erwerb des exotischen Spiegellabyrinthes damals ein Befreiungsschlag. Marie Amrein-Troller musste ihrem Unternehmen neue Publikumsschichten zuführen und nach der Depression am Ende des 19. Jahrhunderts die nötigen neuen Einnahmen generieren. Möglich, dass sich der Gletschergarten, seit 2008 geleitet von Andreas Burri, zu Beginn des 21. Jahrhunderts in ähnlicher Situation sah.
Die ganze Anlage brauchte, sollte sie in die Zukunft hinein Bestand haben, einen markanten Schub, um fürs grosse Publikum und nicht nur für Spezialisten attraktiv zu bleiben – oder für viele überhaupt erst attraktiv zu werden. Einerseits: Das frühere Wohnhaus der Familie Amrein-Troller, in putzigem Heimatstil und mit repräsentativen Interieurs ab 1874 errichtet und längst Museum, ist schön renoviert und es gab thematisch auf Geologie und verwandte Gebiete ausgerichtete Wechselausstellung sowie Konzerte und andere Veranstaltungen.
Andererseits: Das leicht antiquierte Image konnte der Gletschergarten nur schwer loswerden. Und die Konkurrenz wurde grösser und mächtiger und lauter: Auch das Verkehrshaus schaffte sich ein Spiegellabyrinth an. Buhlen um Publikumsgunst? Kooperation würde anders aussehen.
Die Erneuerung schien unausweichlich. Für sie steht die „Felsenwelt“. Die Besucherinnen und Besucher sind eingeladen, in den Berg einzutreten und Geologie und Erdgeschichte des Ortes hautnah zu erleben, statt sich über Schautafeln und Vitrinen voller Steine belehren zu lassen. Der Stiftungsrat des Gletschergartens entwickelte mit Direktor Andreas Burri verschiedene Modelle einer Erneuerung und Erweiterung, bis die Idee „Felsenwelt“ konkret wurde.
Die Umsetzung lag beim Basler Architekturbüro Miller & Maranta, bei Ingenieuren und Sprengmeistern.
In die gesamten Kosten von 20 Millionen (mit Gartengestaltung, Umbauten am „Schweizerhaus“, neuen Ausstellungsbauten und mit neuem Zugang zum Spiegellabyrinth) teilten sich Stiftungen und Gönner sowie die öffentliche Hand. Die Albert-Koechlin-Stiftung trug zum Beispiel sechs Millionen, Martin und Marianne Haefner drei Millionen, die Messerli-Stiftung eine Million bei. Stadt und Kanton Luzern sicherten je drei Millionen zu.
„Mittelpunkt der Zeit“
Der Gletschergarten spricht in seinem Prospekt von der „Reise zum Mittelpunkt der Zeit“. Das klingt plakativ und werbewirksam – und sagt nichts aus. Der Anklang an Jule Vernes Roman „Die Reise zum Mittelpunkt der Erde“ (1864) ist aber unverkennbar. Soll man den genialen französischen Phantasten tatsächlich bemühen? Lieber nicht.
Im Gegensatz zum Abtauchen in den Schlund des isländischen Vulkans Snaefellsjökull ist der Eintritt in den Fels, den der Gletschergarten anbietet, real, wenn auch um einiges prosaischer und sehr viel bequemer und kürzer als die ihr Ziel verfehlende Reise Otto Lidenbrocks und seines Neffen. Jule Vernes Romanfiguren wollten zu den Antipoden, verwechselten aber Nord mit Süd und wurden aus dem Stromboli-Krater wieder ans Tageslicht geschleudert.
Miller & Maranta können da nicht mithalten, aber auch im Gletschergarten betritt man das Erdinnere, auch da findet man, wie bei Jules Verne, einen See. Und auch da gibt es schliesslich einen Ausweg: Er führt über Treppen 30 Meter in die Höhe und ans allmählich immer intensivere Tageslicht. Oben auf der „Sommerau“ kann man das Panorama geniessen, bevor man über den Saumweg wieder absteigt.
Erdgeschichte als Prozess
Der in Beton gebaute Eingang zur „Felsenwelt“ nimmt die in rund 20 Millionen Jahren entstandenen Faltungen der Sandsteinschichten auf. Der mehrfach seine Richtung ändernde Weg und recht dunkle Weg führt die Besucherinnen und Besucher zunächst leicht abwärts durch den Sandstein, an dessen Oberflächen sich das geologische Geschehen ablesen lässt, bis er einen kleinen See erreicht. Von diesem tiefsten Punkt aus gelangt man durch die Felsen nach oben und erreicht sukzessive das Tageslicht. Es ist ein Gang vom Dunklen zum Licht – und vor allem ein Gang nahe an den gefalteten Gesteinsschichten.
Erfahren lässt sich sehr konkret, dass Erdgeschichte nicht ein abgeschlossenes Faktum ist, sondern auch heute Veränderungen mit sich bringt. Hier ist eine braune Verfärbung durch eisenhaltiges Wasser zu bemerken, dort setzen sich der Feuchtigkeit wegen Algen an, dort wiederum bilden sich Kalkablagerungen: Die „Felsenwelt“ wird sich weiterhin und nicht einmal so langsam verändern. Knapp unter der Erdoberfläche entdecken wir – als sei es ein archäologischer Blick aus der Zukunft in unsere Gegenwart – „versteinerten“ Plastikmüll. Das Erzählen der geologischen Geschichte des Ortes umfasst auch die Entstehung der Beton-Architektur: Davon berichten Bohrlöcher, Metallklammern, Musterungen der Holzverschalungen oder hier und dort roh belassene Betonoberflächen.
Die „Felsenwelt“ vermittelt spannende und manche Sinne (auch das Gehör kommt auf seine Rechnung) umfassende Einblicke ins Innere des Luzerner Sandsteins. Mehr von dieser Geschichte bekommt allerdings mit, wer über entsprechende Informationen verfügt und zum Beispiel an Führungen teilnimmt. Andreas Burri ist da ein gewandter Kommunikator.
Künstliche Ersatz-Wirklichkeiten
Der Gletschergarten handelt vor allem von der geologischen Entwicklung des eigenen Ortes. Erdkunde ist schwer zu vermitteln. Ohne fachkundige Begleitung oder ohne intensive Lektüre wird der Laie kaum Einblick in ihre Geheimnisse gewinnen können. Ob der Gletschergarten diese Hilfe überhaupt leisten kann? Die Skepsis schmälert seine Bedeutung nicht. Sie verlagert sie allenfalls. Der Gletschergarten kann heute kaum mehr als Lehrstätte der Geologie dienen. Das neue Erleben des Fels-Inneren ist einerseits spektakulär, bringt aber vielleicht einige Besucher zum spontanen Fragen nach dem Woher und Wozu. Antworten dazu liefern heute neue Technologien und ganz andere Informationssysteme, als Museen sie bieten können.
Das Gesamt des Gletschergartens ist eher ein Zeitzeugnis für das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wachsende Interesse an Erd- und Naturkunde, an der Prähistorie, an den Pfahlbauern und an der auch mythenumwobenen Vergangenheit der noch jungen modernen Schweiz. Er bezeugt auch die damals wachsende Bedeutung des Tourismus, der den Gästen neben echten Bergerlebnissen auch künstliche Ersatz-Wirklichkeiten anbot. Der Gletschergarten tat das bis hin zu lebenden Gämsen, Murmeltieren und ausgestopften Tieren, die aber längst wieder aus dem Ensemble verschwunden sind.
Vielleicht lässt sich auch die neue „Felsenwelt“ in ähnlichem Sinn als eine Art Surrogat deuten. Sie verschafft den Besuchern trotz des echten Sandsteins eher die Illusion des Eindringens ins Erdinnere als ein archaisches Höhlenerlebnis und muss, trotz aller Sinneseindrücke, eine Künstlichkeit bleiben, die ohne Anstrengung und erst noch behindertengerecht zu erleben ist. Man bekommt kaum nasse Füsse, selten wird jemand stolpern. Wem das Treppensteigen zu viel wird, den befördert der Aufzug rasch nach oben ans Tageslicht.
Wir erleben den Gletschergarten heute als historische Gartenanlage und ebenso als Konglomerat von Natur- und Wohnmuseum und Erlebnispark. Er wird aber, mit der „Felsenwelt“, auch zum Museum der Museologie, zum „Museum-Museum“. Damit wird die Institution Gletschergarten zu einem historischen, bis in unsere Gegenwart und vielleicht auch in die Zukunft weitergeführten Kulturdenkmal mit allem, was es zu bieten hat an Wirklichkeit, an Ersatz-Wirklichkeit, an Reliefs, an Raritäten und Kuriositäten.
Zu seiner Identität gehört, wie die Gletschertöpfe, aber auch sein kuriosester Fremdkörper, das exotische Spiegellabyrinth, seine bisherige Hauptattraktion. Vielleicht – hoffentlich! – übernimmt künftig die „Felsenwelt“ diese Aufgabe.
Kürzlich erschien im Verlag Chronos in Zürich Andreas Bürgis Publikation „Urwelten und Irrwege. Eine Geschichte des Luzerner Gletschergartens und der Gründerfamilie Amrein, 1873–2018".