Der legendäre Kriegsfotograf Tim Page ist im Alter von 78 Jahren gestorben. Dabei war der Brite bereits als 25-Jähriger in Vietnam für tot erklärt worden. Nun überleben ihn seine empathischen Bilder aus Indochina.
Tim Page starb am 25. August 2022 in seinem Haus in Fernmount (Australien) an Leberkrebs. Eine der letzten Aufnahmen, die ein Freund auf Facebook postete, zeigt ihn, wie er gezeichnet, aber friedlich in seinem Bett liegt und einen Joint raucht. Es war das angemessene Ende für einen Fotografen, dessen Leben lange Zeit wild und turbulent gewesen war und der als 20-Jähriger in Vietnam eine Karriere als Kriegsfotograf begonnen hatte, in deren Verlauf er viermal verwundet wurde, im April 1969 so schwer, dass ihn die Ärzte eines Militärspitals für tot erklärten.
Er war, unterwegs für «Time Life», bei Cu Chi aus einem Helikopter der US-Army gesprungen, um einem Soldaten zu helfen, verwundete GIs an Bord zu hieven. Der Sergeant trat vor ihm auf eine Mine, die ihm beide Beine wegriss, während Tim Page über dem rechten Auge von einem drei Zentimeter langen Stück Schrapnell getroffen wurde, das tief in sein Gehirn eindrang. Er überlebte, nach mehreren Operationen und Monaten aufwändiger Therapie. Immerhin, was er als Fotograf am meisten fürchtete, hatte er nicht verloren: seine Augen.
Ein komplexer Humanist
Schwer verwundet war es ihm noch gelungen, das Objektiv seiner Kamera zu wechseln und ein paar Bilder zu schiessen, bevor er im Helikopter kollabierte und sein Herz dreimal zu schlagen aufhörte. Er hörte die Sanitäter noch diskutieren, wie viele Minuten er noch leben würde. «Ich pflegte mich hinzusetzen und mein eigenes Blut und Hirn aus den Ritzen der Leicas zu kratzen», schrieb er 1988 in seiner Autobiografie «Page after Page». Sauber aber seien seine Kameras nie mehr geworden.
Tim Page war als Fotograf und Mensch eine Studie in Widersprüchen, ehrgeizig und kollegial, furchtlos und ängstlich, genial und labil. «Er sagte immer, dass es wichtiger sei, ein guter Mensch zu sein als ein grosser Fotograf», erinnert sich sein australischer Kollege Bob Behane: «So schien denn sein Humanismus in seinem Fotojournalismus stets durch.»
«Ein durchgeknallter Irrer»
Michael Herr, Autor der 1977 erschienenen «Dispatches», nennt Tim Page, als der in Vietnam war, «einen durchgeknallten Irren», der seine Ausrüstung im Felde «mit ausgeflippten Utensilien, Halstüchern und Perlen» vervollständigte. Herr erinnert sich auch, dass ihm Page einst von einem Verleger erzählte, der ihn anfragte, ob er nicht ein Buch schreiben wolle, das den Krieg seiner Faszination beraube.
«Den Krieg seines Glamours berauben!», habe Page geantwortet: «Wie verdammt nochmal soll einer das machen?» Es wäre, so der Fotograf, als würde man versuchen, den Sex seines Glamours zu berauben, als würde man versuchen, den Rolling Stones ihren Glamour zu stehlen: «Du weisst, das ist schlicht nicht möglich.»
Trotzdem sei der Krieg, sagte Tim Page 2001 der britischen Wochenzeitung «The Observer», am Ende eine Verschwendung menschlicher Ressourcen: «Sicher, du kannst es zwar wie einen Film aussehen lassen – du kannst ein Tableau vivant daraus kreieren –, aber dann drehst du deine Kamera, egal um wie viele Grad, und was du siehst, ist pures Leid. Wer sind die Opfer? Jeder ist im Krieg ein Opfer.» Page half mit, 1971 den Psychiater Daniel Ellsberg zu überzeugen, die Pentagon Papers zu publizieren, jene Dokumente des Pentagons, die zeigten, wie die amerikanische Regierung die Bevölkerung über den Verlauf des Krieges in Vietnam belog.
Ein 17-jähriger Ausreisser
Tim Page hatte als 17-Jähriger, bereits mit einer 15-Jährigen verheiratet, seine Pflegeeltern in England verlassen und ihnen eine kurze Notiz geschrieben: «Liebe Eltern, verlasse das Zuhause, um nach Europa zu gehen und mich vielleicht der Navy anzuschliessen und die Welt zu sehen. Weiss nicht, wie lange ich weg sein werde.» Er war lange weg und reiste über Europa hinaus in den Nahen Osten, nach Iran, Indien, Pakistan und Nepal und landete schliesslich in Laos, als der zweite Indochina-Krieg begann. Verlegenheitsjobs hatten ihn über Wasser gehalten, er hatte als Koch, Bierbrauergehilfe, Verkäufer von Enzyklopädien und Glühbirnen sowie als Zigaretten- und Haschischschmuggler gearbeitet.
In Laos begann Page als Autodidakt für United Press International (UPI) zu fotografieren und machte mit Aufnahmen eines Putschversuchs in Vientiane im Jahre 1965 auf sich aufmerksam. Von Laos aus verschlug es ihn nach Vietnam, wo er vier Jahre lang bis zu seiner schweren Verwundung 1969 als freier Fotograf für UPI, AP, Magazine von «Time-Life», den «Paris Match» und andere Zeitschriften tätig war.
Ein unerschrockener Draufgänger
An die Front pflegte er, wie es auch andere Fotografen taten, per Motorrad zu fahren. Sonst flog er in Helikoptern der US-Armee, die Presseleute jeweils aufluden, wenn Platz vorhanden war. «Der Krieg in Vietnam war der erste und letzte Krieg, der keine Zensur kannte und in dem das Militär die Presse aktiv zur Teilnahme ermutigte, und Page ging überall hin und berichtete über alles», heisst es auf der Website des Fotografen.
Als Kriegsfotograf erwarb sich Tim Page den Ruf eines draufgängerischen, unerschrockenen Akteurs, der keine Gefahr scheute und sich mit gewöhnlichen Soldaten im Felde gut verstand. «Pages vielleicht eindrucksvollste Aufnahmen sind jene von GIs», schreibt der britische Autor William Shawcross im Vorwort zum Bildband «Tim Page’s Nam», der 1983 erschienen ist: «Arme Weisse und Schwarze, gepflückt aus dem ignoranten und oft unschuldigen Herzland Amerikas und ohne Verständnis und Vorbereitung auf eine völlig fremde und Furcht einflössende Welt.»
Ein «Gonzo-Fotograf»
Nachdem er die 1970er-Jahre in den USA als «Gonzo-Fotograf» verbracht und, von Drogen wie LSD getrieben, für Musikmagazine wie «Crawdaddy» und «Rolling Stone» fotografiert hatte, kehrte Tim Page nach England zurück und reiste in der Folge wiederholt nach Vietnam, etwa um Opfer von Agent Orange zu fotografieren, jenem Krebs erregenden Entlaubungsmittel, das die Amerikaner im Krieg über den Dschungeln des geteilten Landes skrupellos versprüht hatten.
Im benachbarten Kambodscha suchte er wiederholt nach zwei verschollenen Fotografenkollegen, Sean Flynn und Dana Stone, die am 6. April 1970 auf gemieteten Motorrädern auf dem Highway 1 aufgebrochen waren, um Kämpfer der Roten Khmer zu finden, und die nie zurückgekehrt waren. Ihm missfalle die Vorstellung, sagte Page über Flynn, dass sein Geist gequält werde: «Es hat etwas Gespenstisches, im Einsatz vermisst zu werden.» Dass es ihm nicht gelungen war, seine beiden vermissten Freunde zu finden, beschäftigte ihn bis ans Lebensende.