Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte hat sich für die Praxis der Sklaverei seines Landes vor 150 Jahren entschuldigt. Geht das eigentlich?
«Jahrhundertelang haben der niederländische Staat und seine Vertreter die Sklaverei ermöglicht, gefördert, bewahrt und davon profitiert», sagte Rutte. Menschen seien zu «Handelsware» gemacht, ausgebeutet und missbraucht worden. Unter staatlicher Autorität sei die menschliche Würde auf grausamste Weise verletzt worden. «Dafür bitte ich im Namen der niederländischen Regierung um Entschuldigung.»
Dass diese Praktiken aus heutiger Sicht verächtlich sind, bedarf keiner Begründung. Sklaverei verträgt sich nicht mit unseren ethischen und rechtlichen Grundüberzeugungen. Aber kann sich ein Regierungschef im Namen seines Landes für Vorgänge «entschuldigen», die in einer völlig anderen Zeit stattgefunden haben? Zweifel sind angebracht.
Vergebung
Wer sich entschuldigt, muss Schuld auf sich geladen haben. Entsprechend ist der Gedanke schwierig, dass sich jemand für etwas entschuldigen sollte, das er gar nicht selbst, sondern einer seiner Vorgänger verursacht hat. Gerade in Deutschland ist diese Frage virulent. Kann man sich für die Vergehen der Väter und Grossväter entschuldigen? Ganz sicher nicht. Man kann um Vergebung der Opfer bitten, man kann beteuern, aus den Irrwegen der Väter und Grossväter die richtigen Schlüsse zu ziehen, aber man kann sich nicht für sie entschuldigen.
Problematisch wird der Begriff der Schuld gerade dann, wenn er sich auf Organisationen wie einer Firma, eines Landes oder eines Staates bezieht. Denn es wandeln sich die Organisationsformen und die Verfassungen. Dazu gibt es diverse Wechsel auf den Führungsetagen beziehungsweise in den Regierungen.
Der Wechsel des Personals auf den wirtschaftlichen und politischen Führungsetagen ist mehr als eine rein zeitliche Abfolge. Dahinter steckt auch die Tatsache, dass sich im Laufe der Zeiten Stile und Optionen verändern. Die gegenwärtige Regierung in Holland würde ganz sicher nicht mehr so handeln wie ihre Vorgänger vor 150 Jahren. Das ist trivial und kein Anlass für Entschuldigungen.
Wertewandel
Wertewandel ist ein häufig gebrauchtes Wort. Nimmt man es ernst, bedeutet es, dass wir heute andere Werte haben als vor 150 Jahren. Was aus heutiger Sicht abwegig erscheint, war früher normal – und umgekehrt: Frühere Tabus zum Beispiel im Bereich der Sexualität erscheinen heute als lächerlich. Wer sich heute für Praktiken vor 150 Jahren entschuldigen will, tut so, als wären Werte ewig und würden keinem Wandel unterliegen.
Gegen dieses Argument gibt es aber einen völlig berechtigten Einwand: Denn in Bezug auf die Sklaverei gab es auch schon vor mehr als 200 Jahren heftige Opposition. Der amerikanische Sezessionskrieg legt davon ein blutiges Zeugnis ab. Aber er zeigt auch, dass sich das Denken über Sklaverei im Umbruch befand. Auch richtige Einsichten brauchen ihre Zeit, um sich durchzusetzen.
Dass jemand eine richtige Einsicht zu einer bestimmten Zeit nicht hatte, ist zwar bedauerlich, aber ein Grund für eine Entschuldigung läge erst dann vor, wenn er sich geradezu böswillig gegenüber einer evidenten Wahrheit verschlossen hätte. Eine unbequeme Wahrheit besteht darin, dass Sklaverei über weiteste Strecken der Menschheitsgeschichte völlig selbstverständlich und keineswegs nur von Europäern praktiziert wurde.
Etikettierung
Mark Rutte entwertet den Begriff der Entschuldigung. Nicht nur, dass er sich nicht für etwas entschuldigen kann, wofür er nicht verantwortlich ist, sondern es fehlen ihm auch die Adressaten. Er könnte sich bestenfalls an die Nachkommen der früheren Sklaven wenden. Aber brauchen die Entschuldigungen? Geht es nicht vielmehr um Integration und Chancengleichheit?
Da liegt vieles im Argen. Wenn Integration und Chancengleichheit aber im Zeichen nachträglicher Entschuldigungen angestrebt werden, finden diese Bemühungen im Zwielicht statt. Dann geht es nicht allein um die Würde der hier und jetzt lebenden Menschen, sondern um eine Art Wiedergutmachung. Wollen diese Menschen aber wirklich unter der Perspektive wahrgenommen werden, dass sie die Nachkommen von Sklaven sind? Entschuldigungen verfestigen diese Zuschreibung.