«Wenn du Angst hast, im Gefängnis zu landen, dann bist du als Zeitungsmann am falschen Ort», bemerkte Neil Sheehan einst. Diesem Credo hat der amerikanische Bauernsohn irischer Abstammung Zeit seines Lebens nachgelebt: ab 1962 als Kriegsberichterstatter in Vietnam für die Nachrichtenagentur United Press International (UPI) und die «New York Times», später als «Times»-Korrespondent im Pentagon und im Weissen Haus. 1971 war Sheehan die treibende Kraft hinter der Veröffentlichung der geheimen Pentagon-Papiere, für die seine Zeitung den Pulitzerpreis gewann. Vergangene Woche ist der legendäre Reporter laut Angaben seiner Familie im Alter von 84 Jahren in Washington DC an den Folgen von Parkinson gestorben.
Neil Sheehan, der in Korea kurz als Soldbuchhalter in der Armee gedient hatte, kam für 25 Dollar die Woche als relativ unerfahrener 25-jähriger Agenturreporter nach Vietnam. Als Anti-Kommunist war er überzeugt, dass Amerikas Mission in Südostasien gerecht und notwendig war. Doch vier Jahre später verliess er das Land desillusioniert und zornig. «Ich kann schlicht nicht anders, als mich zu grämen, dass wir uns selbst verderben, indem wir diesen Krieg führen», schrieb er 1966 im Magazin der «New York Times».
Ein Gefangener des Krieges
Sheehan, inzwischen 29-jährig, führte im Artikel aus, warum er so dachte: «Ich wundere mich, wenn ich die zerbombten Bauernweiler sehe, die Waisen, die auf den Strassen Saigons betteln und stehlen, und die Frauen und Kinder, die mit Napalm-Verbrennungen auf den Pritschen der Spitäler liegen, ob die Vereinigten Staaten oder irgendeine andere Nation das Recht haben, einem anderen Volk für ihre eigenen Interessen solches Leid und solche Entwürdigung zuzufügen.»
Wie viele andere, die in Vietnam gewesen waren, liess ihn der unselige Krieg nicht mehr los. Nach der Publikation der «Pentagon Papers» entschloss er sich, ein Buch über einen amerikanischen Offizier zu schreiben, der für ihn wie kein zweiter das Elend, die Korruption und die Sinnlosigkeit des Krieges in Südostasien verkörperte: «A Bright Shining Lie: John Paul Vann and America in Vietnam». Vann, ein idelistischer Oberstleutnant der US-Armee, war überzeugt, dass die USA den Krieg mit einer besseren Strategie, die weniger Opfer gefordert und weniger Zerstörung verursacht hätte, den Krieg hätten gewinnen können. Die Einschätzung des Heeresoffiziers basierte auf seinen Erfahrungen als Militärberater der südvietnamesischen Armee (ARVN) in den frühen 1960er-Jahren.
Ein ehrbarer Offizier
Das Schlüsselerlebnis für John Paul Vann waren 1963 Kämpfe in Ap Bac, einem Weiler im Mekong-Delta, wo der Vietcong eine rund zehnmal so grosse Einheit der ARVN demütigte und fünf Helikopter abschoss, die von Amerikanern pilotiert wurden – ein Desaster, das die Military Assistance Command Vietnam (MACV), die 1962 von Präsident John F. Kennedy ins Leben gerufen worden war, umgehend zu vertuschen suchte. «Es war für ihn nicht vorgesehen, eine Niederlage zu akzeptieren», schrieb Neil Sheehan in seinem Buch über Vann: «Er war Oberstleutnant der US-Armee. Er war zwar nur Berater ohne Befehlsgewalt, aber dieser Krieg war emotional sein Krieg geworden, und er konnte emotional nicht nachvollziehen, weshalb man ihn dazu zwang, ihn zu verlieren …»
Weil er bei Vorgesetzten mit seiner Kritik auf taube Ohren stiess, wandte sich John Paul Vann an die Vertreter der Presse. Einer der jungen Reporter, die er kontaktierte, war UPI-Korrespondent Neil Sheehan, der zusammen mit David Halberstam von der «New York Times» sowie Malcolm Browne und Peter Arnett von der Nachrichtenagentur AP eine neue Form der Kriegsberichterstattung initiierte. Die «jungen Wilden» liessen sich nicht mehr länger mit beschönigenden Informationen abspeisen, mit denen sie das MAVC bei den nachmittäglichen Pressekonferenzen in Saigon, den ironisch benannten «Five O’Clock Follies», fütterte.
Ein voluminöses Buch
Die Korrespondenten wagten sich, was in Vietnam im Gegensatz zu späteren Kriegen der USA noch möglich war, mit den Truppen an die Front und erlebten das Kriegsgeschehen aus erster Hand, weitgehend unbeeindruckt von Androhungen der Militärzensur oder von den Risiken des Kriegsgeschehens. «Unsere belastenden Erfahrungen vereinten uns für ein gemeinsam Anliegen und wir schlossen Freundschaften, die ein Leben lang hielten», erinnert sich Peter Arnett.
Neil Seehan widmete 16 Jahre seines Lebens dem 861-seitigen Buch über John Paul Vann. Er lebte zurückgezogen wie ein Mönch und litt wiederholt unter Geldsorgen, da er sich von der «Times» unbezahlt hatte beurlauben lassen. Als «Die grosse Lüge» 1988 endlich erschien, witzelten Freunde, der Autor sei «das letzte Opfer des Vietnamkriegs» geworden. Das Schreiben, von einem schweren Autounfall unterbrochen, war für Sheehan und seine Familie eine Herausforderung gewesen, für die er jedoch am Ende mit einem National Book Award und einem Pulitzerpreis belohnt wurde.
«Wenn es ein Buch gibt, das den Vietnamkrieg im schier Homerischen Ausmass seiner Leidenschaft und seiner Torheit beschreibt, dann ist es dieses Werk», schrieb der Rezensent der «New York Times». Buchkritiker stellen es auf eine Stufe mit anderen herausragenden Vietnam-Büchern wie Michael Herrs «Dispatches» oder Francis Fitzgeralds «Fire in the Lake».
Ein mutiger Whistleblower
Ex-Aussenminister und Vietnam-Veteran John Kerry sagte 2017, er habe das ganze Ausmass des Zornes gegen den Krieg erst verstanden, als er «A Bright Shining Lie» gelesen habe. Das Buch zeige, wie über die ganze Länge der Befehlskette «Leute ein Kauderwelsch von Informationen von sich gaben und aufgrund dieser Lügen und Verdrehungen Leben verloren wurden». Für Neil Sheehan selbst war Vietnam «unser erster vergeblicher Krieg», in welchem «Leute für nichts starben». 1970 hatte er in einer Titelgeschichte der «New York Review of Books geschrieben, die USA bräuchten «eine vernünftige und ehrliche Untersuchung der Kriegsverbrechen und der Grausamkeiten in Vietnam».
Der fragliche Beitrag soll Neil Sheehan geholfen haben, das Vertrauen von Daniel Ellsberg, einem Analysten der regierungsnahen Denkfabrik Rand Corporation, zu gewinnen. Ellsberg hatte als Mitglied einer Kommission geholfen, im Auftrag von Verteidigungsminister Robert McNamara eine 47-bändige, geheime Geschichte des amerikanischen Einsatzes in Vietnam zu verfassen. Das Geschichtswerk, als «Pentagon Papers» bekannt, zeigte auf, wie vier amerikanische Regierungen von Eisenhower über Kennedy und Johnson bis Nixon die Nation jahrelang über den Verlauf des Krieges belogen hatten.
Ein findiger Journalist
Daniel Ellsberg, desillusioniert über den Fortgang des Krieges, suchte nach einem Abnehmer, der Auszüge aus den 7000-seitigen Unterlagen veröffentlichen würde, die er verbotenerweise kopiert hatte. Stets eine Anklage wegen Hochverrats fürchtend, entschied er sich für Sheehan und die «New York Times», die er von früher her kannte. Er überliess dem Reporter den Schlüssel zu seiner Wohnung in Cambridge (Massachusetts), damit der dort die Dokumente studieren und sich Notizen machen konnte. Die Pentagon-Papiere selbst mochte Ellsberg noch nicht aushändigen.
Neil Sheehan aber befürchtete, Daniel Ellsberg könnte unabsichtlich verraten, dass er im Besitz der brisanten Unterlagen war, und so das FBI auf sich aufmerksam machen, was wohl zur Folge gehabt hätte, dass der Bericht nie publik geworden wäre. Deshalb kopierte er mit Hilfe seiner Frau in zwei Kopierläden in Boston Tausende von Seiten, nachdem der Whistleblower für Ferien die Stadt kurz verlassen hatte, und schleppte die Kopien kofferweise per Flugzeug nach New York. Er wagte es nicht, die Koffer einzuchecken, sondern buchte einen Extrasitz, um sie im Flieger stets angeschnallt neben sich zu haben. Zwar hatte Sheehan, bereits schwer krank, diese Geschichte 2015 einem Reporter der «New York Times» erzählt, er wollte sie aber erst nach seinem Tod veröffentlicht sehen.
Ein gewagtes Unternehmen
Nach Sheehans Rückkehr und einiger Bedenkzeit begann In New York ein Team der «Times», das während Wochen unter falschen Namen in einer Zimmerflucht des Hotels «Hilton» einquartiert war, die Pentagon-Papiere zu sichten und für die Publikation vorzubereiten. Die Juristen der Zeitung fürchteten, die Veröffentlichung der Papiere könnten zu existenzgefährdenden Bussen oder gar zu Anklagen wegen Verrats führen, und auch Verleger Arthur Ochs Sulzberger war erst skeptisch. Die ganze Operation, meinte er, schmecke nach «20 Jahren bis lebenslänglich Gefängnis».
Doch Sulzberger gab am Ende für die Veröffentlichung grünes Licht und am 13. Juni 1971 erschienen in der «New York Times» unter Neil Sheehans Namen die ersten Artikel über die «Pentagon Papers». Die Reaktion der Regierung Richard Nixons war voraussehbar und heftig. Justizminister John Mitchell beschuldigte die «Times», den Espionage Act, ein Bundesgesetz von 1917, zu verletzen, und forderte die Zeitung auf, die Veröffentlichung weiterer Artikel umgehend zu stoppen. Die Zeitung weigerte sich, aber dem Weissen Haus gelang es, eine richterliche Verfügung zu erwirken, die jegliche weitere Publikation verbot.
Ein historisches Gerichtsurteil
Inzwischen hatte auch die «Washington Post» begonnen, Geschichten über die Pentagon-Papiere zu veröffentlichen, da sie von Daniel Ellsberg ebenfalls Kopien der umstrittenen Dokumente erhalten hatte. Andere amerikanische Zeitungen zogen nach. Am 30. Juni 1971 bekräftigte der US-Supreme-Court mit 6 zu 3 Stimmen das Recht von «Times» und «Post», über die von Ellsberg geleakten Unterlagen zu schreiben und bekräftigte das Primat der Meinungsfreiheit, wie es der 1. Verfassungszusatz garantiert, gegenüber Versuchen der Regierung, das Erscheinen von Artikeln per vorläufiger Zurückhaltung («prior restraint») zu verbieten.
«Einige Leute wollen uns glauben machen, dass wir Diebstahl und Verrat begangen haben, indem wir die Pentagon-Papiere publizierten», sagte Neil Sheehan 1971 anlässlich einer Preisverleihung für seinen investigativen Journalismus. «Ich glaube, dass wir dem amerikanischen Volk … in Ansätzen Rechenschaft über eine Schuld gegeben haben, die nie zurückgezahlt werden kann.» Amerika, so Sheehan, habe den Regierenden 45’000 seiner Söhne und 100 Milliarden seines Vermögens gegeben: «Doch wenn man es Diebstahl nennt, etwas zu berichten, und Verrat, etwas zu veröffentlichen, so sei das so. Lassen wir Gott uns den Mut geben, mehr vom Gleichen zu begehen.»
Quellen: AP, The New York Times, The Washington Post, The New York Review of Books, Wikipedia