Anfang August hatten syrische radikale Islamisten, offenbar Leute der Nusra-Front und des IS, den libanesische Grenzflecken Arsal gestürmt und vorübergehend besetzt. Unter Druck der libanesischen Armee und nach Verhandlungen - vermittelt von lokalen Geistlichen - hatten sie den Flecken wieder geräumt. Sie hatten jedoch 33 Geiseln auf die andere Seite der syrischen Grenze geschleppt. Dies waren teils Soldaten der libanesischen Armee, teils Polizisten. Diese waren im überfallenen Polizeiposten und in der lokalen Armeekaserne gefangen genommen worden.
In der Zwischenzeit ist es anscheinend fünf der Verschleppten gelungen zu fliehen. Drei andere wurden bei Fluchtversuchen erschossen. Weitere kamen nach Verhandlungen frei. Doch mindestens zwölf Soldaten sind weiterhin Geiseln des IS. Festgehalten werden sie im libanesisch-syrischen Grenzraum. Dort wird der IS vom libanesischen Hizbullah bekämpft, der auf Seiten der syrischen Armee in den syrischen Bürgerkrieg eingegriffen hat und eine wichtige Stütze für die syrische Armee darstellt.
IS mit den besten Zukunftsaussichten
Es scheint, dass in der Zwischenzeit die einstigen Kämpfer der Nusra-Front an der libanesischen Grenze ganz oder teilweise zum IS übergelaufen sind. Dies ist eine Entwicklung, die auch in anderen Teilen Syriens vor sich geht; der IS hat am meisten Geld und Waffen. Er gilt unter vielen der Feinde Asads als jene Widerstandsgruppe mit den besten Zukunftsaussichten.
Der Islamische Staat steht weiterhin über Vermittler in Verhandlungen mit der libanesischen Armee. IS fordert, die Geiseln sollten gegen 400 gefangene Islamisten, die sich im libanesischen Gefängnis von Ramieh befinden, ausgetauscht werden. Die libanesische Regierung hat dies abgelehnt. Daraufhin haben die IS-Terroristen am 4. September eine erste Geisel geköpft. Es handelt sich um den sunnitischen Soldaten Ali al-Sayed. Seine Leiche mit abgetrenntem Kopf ist inzwischen der libanesischen Armee übergeben worden. Am 6. September gaben die Geiselnehmer bekannt, sie hätten einen weiteren Soldaten, diesmal den Schiiten Abbas Medledsch, ebenfalls enthauptet. Die libanesischen Familienangehörigen begehren auf. Einige haben Strassen gesperrt, um auf die Regierung Druck auszuüben. Andere haben im Gegenzug 17 syrische Flüchtlinge als Geiseln genommen. Diese wurden in einer Garage festgehalten. Am 7. September gelang ihnen die Flucht.
Islamistische Zelle im Gefängnis
Im libanesischen Gefängnis von Ramieh sollen sich unter mehr als 3‘000 Gefangenen etwa 300 islamistische Aktivisten befinden, die noch nicht verurteilt sind. 94 von ihnen warten im Gefängnis seit 2007 auf ihren Gerichtstermin. Sie wurden im Verlauf von Zusammenstössen festgenommen, die sich damals im Flüchtlingslager Nahr al-Bared bei Tripolis zwischen einer dortigen islamistischen Gruppe und der Armee stattgefunden hatten.
Im Gefängnis, so berichten lokale Journalisten, hätten diese 300 ein "Emirat" gegründet. Sie hätten alle Zellentüren in ihrem Gefängniskomplex entfernt und verkehrten untereinander nach ihrem Ermessen. Sie verfügten "Tag und Nacht" über Internetanschluss und seien daher in Kontakt mit der Aussenwelt. Manchmal würden sie sogar von pro-islamistischen Fernsehsendern aufgefordert, ihre Meinung zu äussern. Sie sollen auch ein "Gericht" organisiert haben, in dem sie Mitgefangene verurteilen und bestrafen, die sich nicht an die von ihnen aufgestellten Regeln halten. Einer, der sich nicht an die Regeln hielt, wurde erwürgt. Der Gefängnisdirektor erklärt, er benötige einen "politischen Beschluss" der Regierung, um gegen sie vorzugehen zu können und um die Zustände im Gefängnis zu normalisieren.
Trotz des Vetos der Regierung gegen die Auslieferung von Terroristen, gibt es offenbar Kreise, die der Ansicht sind, eine Abschiebung von noch nicht Verurteilten könnte möglich werden.
Drohender Bürgerkrieg
Die Enthauptung eines schiitischen Soldaten ist politisch besonders brisant, weil sie die Gefahr mit sich bringt, dass Hizbullah, die kämpferische Partei der libanesischen Schiiten, gegen syrische Islamisten vorgehen könnte, statt diese Aufgabe den staatlichen Stellen zu überlassen. Hizbullah-Sprecher hatten vor dem zweiten Geiselmord gewarnt, wenn ein Schiite ermordet werde, würden sie an Islamisten, die sich in den syrischen Flüchtlingslagern in Libanon verborgen hielten, Rache üben. Bisher war es Aufgabe der Armee, auf den Überfall auf Arsal und dessen Folgen zu reagieren.
Hizbullah verfügt über mehr Mittel und bessere Waffen und Kämpfer als die Armee. Hizbullah hat aber auch mehr Feinde in Libanon als die Armee. Wenn die schiitische Kampfgruppe innerhalb Libanons eingriffe, würde sie wahrscheinlich Gegenaktionen von Seiten der politischen Widersacher der Schiitenpartei provozieren. Dies sind in erster Linie die Sunniten Libanons. Hinter ihnen steht Saudi-Arabien. Der Bürgerkrieg, den Libanon bisher immer wieder ganz knapp vermeiden konnte, könnte endgültig auszubrechen. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass die Armee nachdem Überfall von Arsal federführend bleibt.
Saudische Waffen für die Armee
Saudi-Arabien hat versprochen, die libanesische Armee mit Waffen im Wert von über drei Milliarden Dollar aufzurüsten. Ein Teil der Waffen ist bereits in Frankreich bestellt und soll bald eintreffen. Die saudische Hilfe soll dazu führen, dass die libanesische Armee ein ernsthaftes Gegengewicht zu Hizbullah wird.
Hizbullah macht der Armee Avancen. Seine führenden Politiker sagen öffentlich, die Armee und Hizbullah sollten zusammenspannen und gegen den Islamischen Staat vorgehen. Die Islamisten des "Kalifats" stellten eine Bedrohung nicht nur für Syrien und den Irak sondern auch für Libanon dar.
Die neuen Waffen allein werden nicht genügen, um das Ungleichgewicht zwischen Armee und Hizbullah auszugleichen. Die Armee muss auch lernen, mit den neuen Waffen umzugehen. Die libanesischen Soldaten und Offiziere müssen so ausgebildet werden, dass sie Hizbullah glaubhaft entgegentreten können. Solange dies nicht der Fall ist, bleibt die Lage in Libanon prekär. Ob der Frieden bewahrt werden kann, oder ob innerer Streit ausbricht, hängt in erster Linie vom Verhalten des Hizbullah ab, erst in zweiter Linie vom libanesischen Staat und seiner Armee.
Allerdings kann man annehmen, dass Hizbullah zurzeit kein Interesse daran hat, den libanesischen Staat oder seine innerlibanesischen Gegenspieler, die Sunniten und deren Verbündete, herauszufordern.
Die Lage der Gottespartei ist angespannt, weil der Krieg in Syrien ihre besten Kämpfer in Anspruch nimmt; viele von ihnen sterben. Es wäre nicht im Interesse von Hizbullah neben dem Krieg in Syrien auch einen Krieg in Libanon zu beginnen. Hingegen wäre es im Interesse des "Islamischen Staates". Unruhen in Libanon würde Hizbullah in seinem eigenen Land festbinden. So hätten die Hizbullah-Kämpfer weniger Kapazitäten, um ihn Syrien dem Asad-Regime beizustehen.