Vor einigen Monaten erschienen die ersten fünf Bände der Murty Classical Library of India. Wer von diesem Jahrhundert-Projekt noch nicht gehört hatte – bis 2100 sollen 500 Werke erscheinen – mochte kopfschüttelnd die Namen und Titel überfliegen. Nicht Mahabharata und Ramayana las er, sondern The Story of Manu von Allasana Peddana, Sur’s Ocean des Dichters Surdas, eine Sammlung von Sufi Lyrics von Bullhe Shah. Nur gerade The History of Akbar, die berühmte Biografie des Grossmoguls durch den Höfling Abu Fazl hörte sich bekannt an.
Am seltsamsten klang der Titel von Band 3, Therigatha, Poems of the First Buddhist Women. Gerade dieser Band zeigt aber, was für ein spannendes und augenöffnendes Projekt diese Bibliothek zu werden verspricht. Es ist eine Sammlung von Gedichten von buddhistischen Nonnen, dank ihrer spirituellen Erleuchtung Theris genannt, die ‚Älteren’. 2300 Jahre alt, ist es die weltweit älteste literarische Gedicht-Sammlung von Frauen.
Nicht nur historische Tiefe zeichnet die Gedichte aus. Der Herausgeber zitiert in seiner Einführung Ezra Pounds Feststellung: ‚Literature is News that stays News’. Trotz ihres Alters sind die Gedichte voller Frische, Transparenz und Leidenschaft – nur dass die Lust auf das Geliebte und Schöne nun dessen Gegenteil – den Verzicht – besingt:
„As I destroyed anger and the passion for sex
I was reminded of the sound of bamboo being split
I go to the foot of a tree and think: ‚Ah, happiness,’
and from within that happiness, I begin to meditate.“
Es waren Entdeckungen wie diese, die Rohan Murty aufmerken liessen. Er, der Sohn des IT-Pioniers Narayana Murthy, war auf dem besten Weg, in die Fussstapfen seines Vaters zu treten, als er sich in Harvard auf einen Doktor in Computerwissenschaften vorbereitete. Aber Murty jun. hatte bereits mit einem kleinen Buchstaben gezeigt, dass er anders war: er änderte seinen Namen von Murthy zu Murty, vielleicht, um Google-Spürhunde in die Irre zu führen.
Hingerissen von der philosophischen Reife
Ernsthafter war die Vielfalt seiner Interessen, die ihn vom rechten Pfad eines Gründer-Erben abbrachte. Er belegte so viele Kurse in byzantinischer Kunst und Geschichte, dass sich sein akademischer Betreuer ernsthaft Sorgen um die Doktorprüfung machte. Doch Murty schuf diese so glanzvoll, dass er gleich in die Society of Fellows aufgenommen wurde, die erste Stufe für eine Harvard-Karriere.
Irgendwann traf er bei seinen Ausflügen in die geisteswissenschaftliche Fakultät einen indischen Professor, der ihm nahelegte, auch der Kultur der Heimat sein Augenmerk zu schenken. Murty begann Sanskrit zu studieren, sowie klassisches Kannada, seine Muttersprache. Er war bald einmal hingerissen, nicht nur von der literarischen Subtilität, sondern auch der philosophischen Reife dieser Literatur.
Vor sich hin modernde Manuskripte
Zu seinem Erstaunen stellte er fest, dass indische Mathematiker und Philosophen Fragen gestellt hatten, die in Europa und Ägypten erst Jahrhunderte später auftauchten. Bei einem Gespräch in der Asia Society in Bombay letzte Woche erwähnte Murty den Mathematiker Hemachandra. Er hatte die Fibonacci-Zahlenreihe entdeckt, zwei Jahrhunderte bevor der Italiener ihr seinen Namen gab. Hemachandra tat es übrigens nicht mit Zahlen, sondern in Form eines Gedichts, bei dem die Metrik – die Länge der Silben – die Zahlenreihe abbildete.
Murty entdeckte auf seinen Streifzügen durch Sammlungen und Archive aber auch etwas Anderes: Nur wenige Spezialisten kannten solche Schriften, die vielbelesenen Pandits sterben aus, und in den indischen Archiven modern Manuskripte vor sich hin – literarische Schätze, die für immer zu verschwinden drohen. Er erinnerte sich, wie leicht bei seinen Byzantik-Studien der Zugang zu den Griechen und Lateinern gewesen war – ein rascher Zugriff auf Loeb Classical Library. Es ist die Sammlung, die für den anglophonen Sprachraum alle wesentlichen literarischen Zeugnisse der europäischen Antike in Originalsprache und Übersetzung kostengünstig zur Verfügung stellt.
Alle vierzehn Sprachkulturen
Murty beschloss, eine Sanskrit Classical Library zu finanzieren und auf die Beine zu stellen. Aber er hatte seine Rechnung ohne Sheldon Pollock gemacht, den Indologie-Professor der Columbia University. Warum nur Sanskrit? fragte dieser. Waren die Zustände in der ältesten Literatursprache schon lamentabel genug, so waren die literarischen Zeugnisse in den anderen Sprachen Indiens noch viel gefährdeter. Er überredete Murty, alle vierzehn Sprachkulturen einzubeziehen – die Idee der Murty Classical Library of India war geboren.
Murty stellte einen Betrag von 5.2 Millionen Dollar zur Verfügung, die Harvard University Press warf ihre weltweite Reputation in die Waagschale, Pollock stellte einen Pool von vierzig Wissenschaftlern und 37 Übersetzern zusammen. Fünf Jahre später, im Januar 2015, präsentierten die beiden ihre ersten fünf Bände. Jedes Werk erscheint in zwei Sprachen (und Schriftsystemen), in einer neuen Übersetzung, mit einem wissenschaftlichen Apparat – und ist kostengünstig.
Conversation Killer
In seinem öffentlichen Auftreten entspricht Murty dem Cliché des scheuen Akademikers, er wirkt linkisch und befangen. Aber sitzt er einmal in seinem Sessel und sieht sich, wie letzte Woche in Bombay, einem freundlich-kritischen Publikum gegenüber, kommt er rasch in Fahrt. Wie er zu seinem Interesse für Geisteswissenschaften gekommen sei, lautete eine Frage. Seine Antwort: Immer wenn er bei einer Studenten-Party in Harvard gefragt wurde, was er studiere, sei seine Antwort – ‚Computerwissenschaften’ – ein conversation killer gewesen. „Aber Kunstgeschichte? Das hat sogleich einen Schwall weiterer Fragen ausgelöst.“
Auch in Bombay verschonte Murty sein Publikum von Computerlogik, ausser er sprach über das ‚Gedicht’ von Hemachandra und dessen mathematische Relationen, die auch in der Natur, etwa der Zahl von Verästelungen im Blattwerk von Pflanzen vorkämen. Und er schwärmte von Panini’s Sanskrit-Grammatik, die bereits Fragen angesprochen habe, die auch Computersprachen beschäftigt.
Verkümmernde Humanwissenschaften
Dass der Abend bei der Asia Society nicht zu einer Andachtsfeier wurde, war ebenfalls Murty zu verdanken. Denn statt sich als Retter der indischen literarischen Kultur feiern zu lassen, bekannte er, die MCLI werde wohl zu spät kommen, um diese Schätze zu sichern. „Ich bin überzeugt, dass in hundert Jahren niemand mehr Sanskrit lernt, und schon gar nicht die anderen altindischen Sprachen“. Beinahe kein Mensch mehr studiere hier diese Sprachen, und die Sanskrit-Kurse an den Universitäten, so es sie noch gebe, seien kaum belegt, von der Qualität des Lehrpersonals ganz zu schweigen. Im Ausland sei es ähnlich – „die Humanwissenschaften verkümmern überall“.
Die Veranstaltung ging ihrem Ende zu, als er dies sagte. Da meldete sich mein Nachbar, ein älterer Mann namens John Anthony zu Wort. Er sei erstaunt, diese Diagnose gerade aus dem Mund Murtys zu hören. Sie sei grundfalsch. Sind es nicht gerade Computersprachen und Algorithmen, die heute alle Formen kulturellen Ausdrucks und Austauschs, in immer neuen Variationen, weltweit und sofort verbreiten? Sein Sohn produziere Trickfilme mit Themen aus dem Mahabharata. „Und wissen Sie, was ich auf meinem Handy gespeichert habe?“ fragte er und streckte sein Gerät in die Höhe. „Streaming Music von einem Rock-Konzert in Delhi, mit Texten von ... ja, von Bullhe Shah!“. Es ist der Sufi-Poet und Autor eines der ersten fünf Bücher der Murty Classical Library of India.