Der 2. Januar eines jeden Jahres ist in einer spanischen Stadt, und nur in dieser, ein Feiertag. Am 2.Januar nämlich feiern die Bürger Granadas die Vertreibung der Nasriden – jener Dynastie arabischen Ursprungs, die bis dahin die letzte Bastion islamischer Präsenz auf der iberischen Halbinsel darstellte. In der königlichen Kapelle Granadas mit den Gräbern Ferdinands und Isabellas (gleich an der Kathedrale gelegen) ist ein Bild aus dem 19.Jahrhundert zu sehen, auf dem Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragon hoch zu Ross die Unterwerfung des letzten Herrschers von Granada, Abu Abdallah (auch Boabdil genannt) entgegennehmen.
Boabdil hatte es vorgezogen, seine letzte Bastion, die Bergfestung Alhambra, nicht zu verteidigen, sondern diese den später vom Borgia Papst Alexander VI. als „katholische Könige“ ausgezeichneten Ferdinand und Isabella zu übergeben. Dafür bekam Boabdil die Garantie eines freien Abzuges, freier Religionsausübung der verbliebenen Araber, eigene Gerichtsbarkeit. Alle diese Vergünstigungen hatten aber nicht lange Bestand.
Wer von Granada nach Süden zum Mittelmeer fährt, passiert einen Hügel, von dem aus man zum letzten Mal Granada erblicken kann, „Seufzer des Mauren“ ist diese Stelle genannt. Hier soll, der Legende nach, Boabdil zum letzten Mal seinen Blick auf das geliebte Granada geworfen haben. Seiner Mutter werden die Worte zugeschrieben: „Was jammerst du wie ein Weib über den Verlust der Stadt, die Du als Mann nicht verteidigen wusstest?“ Kurz darauf schiffte sich der letzte muslimische Herrscher auf Spaniens Boden der Küste nach Nordafrika ein. Er starb 1536 in der Stadt Fez, wo er Zuflucht gesucht hatte. Die über 750jährige Präsenz von Muslimen, von Arabern und Berbern auf der Iberischen Halbinsel war zu Ende.
Geburt der spanischen Nation
Die Nasriden waren aber schon lange vor ihrer Niederlage Vasallen der christlichen Spanier. Um ihre Herrschaft in Granada behaupten zu können, hatten sie sich 1248 sogar an der Seite des christlichen Kastilien an der Eroberung Sevillas von der fundamentalistisch-islamischen Berberdynastie der Almohaden beteiligt.
In Granada feiern die Menschen an jedem 2.Januar nicht in erster Linie diese Niederlage des Islam. Sie feiern den Beginn der spanischen Nation. Den Grundstein dazu legten Ferdinand und Isabella durch die Vereinigung ihrer Königreiche Kastilien und Aragon. Nachdem die muslimischen Teilkönigreiche (die Taifas) in den voran gegangenen Jahrhunderten eins nach dem anderen von den christlichen Armeen des Nordens im Zuge der Reconquista wieder erobert waren, stand nur noch Granada als letzte Bastion des Islam auf der Iberischen Halbinsel. In dieser Epoche hatten das fast wieder ganz christliche Spanien, ja die gesamte damalige christlich-katholische Welt einen besonderen Grund, jetzt auch die letzten Muslime auf der Halbinsel zu besiegen. Denn 1453 war Konstantinopel in die Hände der muslimischen Osmanen gefallen. Die Einnahme Granadas galt also als psychologisch wichtiges Ereignis im Kampf gegen den Islam.
Ein Geschenk Gottes
1492 war aber auch noch in anderer Hinsicht ein bedeutungsschweres Jahr. Im Auftrag der spanischen Krone segelte der Genuese Christopher Columbus nach Westen und „entdeckte“ – aus abendländischer Perspektive gesehen – Amerika. Fortan kamen die Schiffsladungen voll von Reichtümern, Gold zum Beispiel, aus dieser für Europa „neuen Welt“ nach Spanien. In Sevilla, das mit dem Guadalquivir mit dem Meer verbunden ist, später in der Hafenstadt Cadiz, sass die Verwaltung, welche den Zufluss der Reichtümer registrierte und verteilte. In der Hauptkirche der Stadt Ronda, in der Nähe von Sevilla, kann man heute einen grossen Altar bewundern, der mit Gold aus den neuen Kolonien belegt ist. Auch eine silberne Madonna ist zu sehen, die gebeugt über einem Halbmond steht, Symbol des christlichen Sieges über die spanischen Muslime. In Sevilla befindet sich das Archivo General de Indias, das Indienarchiv. 1785 wurde es auf königlichen Erlass von Karl III. hin gegründet Heute ist es in der ehemaligen Börse untergebracht. Insgesamt umfasst der Bestand rund 43‘000 Bände, die sich auf 80 Millionen Seiten und sechs Regalkilometer erstrecken.
Später, in den Wirren der Reformationszeit, erfanden die Spanier einen neuen ideologischen Überbau und eine neue ideologische Rechtfertigung für die Ausbeutung ihrer überseeischen Besitztümer: Gott habe dem katholischen Spanien die Kolonien gegeben – als Kompensation, sozusagen, für die Verluste, die der Katholizismus durch die Häresie des Mönches Martin Luther erlitten habe.
Ende der Koexistenz
Die Gründung bzw. Vereinigung Spaniens, wie sie die Bürger von Granada an jedem 2.Januar feiern, war allerdings auch das Ende eines Zeitalters, in welchem Muslime, Christen und Juden von Cordoba ausgehend einigermassen friedlich zusammen gelebt hatten. Cordoba war die bedeutendste Metropole Europas (schreibt Georg Bossong, Historiker in Zürich), nur Konstantinopel, das Bagdad der Abbassiden und das chinesische Chang An waren ebenbürtig, während London und Paris noch keine weltweite Bedeutung hatten. Cordoba zählte mehr als 500‘000 Einwohner, hatte Hunderte von Moscheen, Schulen, Akademien.
Noch heute ist die grosse Moschee von Cordoba eines der eindrucksvollsten Sakralbauten weltweit. Die christlichen Eroberer rissen einen Teil ab und ersetzten ihn durch eine katholische Kathedrale. Dennoch haben weite Teile der Moschee ihren ursprünglichen grossartigen Eindruck erhalten. Manche Historiker argumentieren, dass durch den Bau der Kathedrale auch die Moschee erhalten worden sei – weil man sich nun in den folgenden Jahrhunderten um den Erhalt beider Gotteshäuser habe kümmern müssen.
Der in der Nähe Cordobas vom Kalifen Abdelrahman III. erbauten Palaststadt Medinat al-Zahra zollten viele Herrscher, etwa der byzantinische Kaiser, ausserordentlichen Respekt. Dort gab es eine Bibliothek von etwa 400‘000 Bänden. Allerdings war das Kalifat von Cordoba ein fragiles Gebilde. Das Schicksal von Medinat al-Zahra ist trauriger Beweis dafür. 936 war mit dem Bau dieser Prachtstadt begonnen worden, doch schon knapp ein Jahrhundert später ging sie unter – in einem Bürgerkrieg, der auch das Ende des Kalifats von Cordoba bedeutete.
Vertriebene Muslime, vertriebene Juden
Gut 400 Jahre später unterzeichneten Ferdinand und Isabella in der Alhambra von Cordoba, die der letzte Nasride Boabdil verlassen musste, jenes berüchtigte Dekret, das Muslime verpflichtete, zum Katholizismus zu konvertieren oder auszuwandern und das die Juden des Landes verwies. Damit machten die katholischen Fundamentalisten Ferdinand und Isabella eine Entwicklung friedlichen Zusammenlebens zunichte, die, wäre sie weiter entwickelt worden, Europa und die orientalisch-muslimische Welt womöglich manche Konfrontation erspart hätte. Georg Bossong schreibt: „Ein Reich, ein Glaube, Spanien war ein geeintes Land mit einer Religion.“ 1566 wurde zudem die Verwendung der arabischen Sprache in Wort und Schrift untersagt. Zwischen 1609 und 1614 mussten die Moriscos das Land verlassen – jene Araber, die sich zwangsweise zum Christentum bekehrt hatten, aber oft insgeheim ihrem muslimischen Glauben treu geblieben waren: ethnisch-religiös motivierte Vertreibung, von der Menschen in Europa bis auf den heutigen Tag immer wieder heimgesucht werden.
Zudem waren unter Tomás de Torquemada, dem persönlichen Beichtvater Isabellas von Kastilien und späteren Grossinquisitor schon nach der Eroberung Granadas Muslime und Juden, die zum Katholizismus konvertiert waren, verfolgt worden – weil sie, angeblich oder tatsächlich, insgeheim ihrem alten Glauben anhingen.
Heiliger Krieg gegen Andersgläubige
Aber religiösen Fundamentalismus gab es auch auf muslimischer Seite. Auf dem Gebiet des heutigen Marokko bildete sich eine streng asketische Gruppe von Kriegermönchen (wie sie Georg Bossong nennt), welche in die Geschichte Andalusiens als Almoraviden eingingen (von ribat, Wehrkloster). Sie herrschten in Nordafrika und später in Al-Andalus von 1046 bis 1147 predigten einen starren Ur-Islam und begannen einen Dschihad, einen heiligen Krieg gegen Andersgläubige. Schnell eroberten sie grosse Teile Nordafrikas. Als sich die muslimischen Teilreiche in Andalusien, die Taifas, immer mehr von der christlichen Reconquista bedroht fühlten, holten sie die Almoraviden zu Hilfe. Die aber errichteten ein streng muslimische Reich, und untersagten alle Lebensformen des freizügigen Al-Andalus, die mit ihrem Stammesislam nicht übereinstimmten.
1009 etwa liessen die Almoraviden das berühmte Buch des iranischen Denkers Al-Ghazali verbrennen. Der hatte eine Synthese zwischen Religion und Vernunft gesucht. Auf den Besitz von Ghazalis Werk „Die Wiederbelebung der Religionswissenschaften“ stand die Todesstrafe. Später wurden diese Almoraviden von den ebenfalls aus Berbern bestehenden Almohaden abgelöst (von al muwahhiduun – jene, die an einen einzigen Gott glauben). Sie herrschten von 1147 bis 1269. Unter dieser Dynastie mussten berühmte Philosophen wie Ibn Rushd, auch als Averroes bekannt und der jüdische Gelehrte Ibn Maimun (Maimonides) Al-Andalus verlassen, obwohl sie zuerst bei den Alomohaden gut gelitten waren. Ibn Rushd, einer der grössten arabischen Denker, versuchte die griechische Philosophie wiederzubeleben, in ihm erreichte, wie Georg Bossong schreibt, der „islamische Aristotelismus“ seinen Höhepunkt. Im Abendland galt Ibn Rushd als der „arabische Aristoteles“. Er versuchte, Vernunft und Glauben in Einklang zu bringen. Ibn Rushd wurde zunächst Leibarzt des Almohaden Sultans Yaqub Ibn Yussuf. Doch auf Druck des konservativen muslimischen Berber-Klerus musste der Sultan Ibn Rushd musste aus Cordoba verbannen.
Dasselbe Schicksal ereilte Ibn Maimun. Unter den Almohaden sah er sich gezwungen, 1159 aus Al-Andalus zu fliehen. Später wurde er in Kairo Leibarzt des grossen islamischen Heerführers Salah el-Din (Saladin). Auch Ibn Maimun versuchte, die Philosophie des Aristoteles mit der Religion, mit dem Glauben, in seinem Fall mit dem jüdischen Glauben in Einklang zu bringen.
Christlicher und islamischer Fundamentalismus
Insgesamt bedeutet die Herrschaft der beiden Berberdynastien das weitgehende Ende der convivencia, des friedlichen Zusammenlebens von Muslimen, Christen und Juden. Juden wurden verfolgt und flohen entweder in die christlichen Königreiche des Nordens oder in jenen islamischen Orient, in dem Angehörige von religiösen Minderheiten weiter als "Schutzbefohlene" friedlich leben können. Ähnliche Fluchtwege nehmen die Mozaraber, jene Christen, die ihren Glauben bewahrt, ihre Lebensweise aber weitgehend den Muslimen angepasst hatten.
Dennoch bleiben Erinnerungen an die bessere Zeit islamischer Herrschaft in Spanien. Der amerikanische Schriftsteller Washington Irving, der 1829 die Alhambra besuchte und dort länger lebte, schreibt in seinem Buch „Tales of the Alhambra“ - allerdings reichlich idealisierend - über die Araber, die ab 711 einen grossen Teil Spaniens erobert hatten: „Abgeschnitten von ihren Heimatländern, liebten sie das Land, von dem sie glaubten, Gott habe es ihnen gegeben. Sie bemühten sich, es zu verschönen mit all jenem, was dem Glück der Menschen dienen konnte. Ihre Machtbasis gründeten sie auf einem System weiser gerechter Gesetze, liebevoll förderten sie Künste und Wissenschaften, und sie förderten die Landwirtschaft, Handwerk und Handel. Allmählich formten sie ein Imperium, das an Wohlstand keines gleichen unter den christlichen erreicht hatte.“
Doch das Ende, das im Jahr 1492 kam, war schrecklich. Der Historiker Georg Bossong bringt es auf den Punkt, wenn er schreibt: „Das Al-Andalus der Taifa-Zeit (d.h. der muslimischen Klein- und Teilstaaten, Anm. d. Autors) wurde zerrieben zwischen christlichem und islamischem Fundamentalismus. Die Konfrontationen zwischen den Religionen hat die Oberhand behalten, es kam zum gnadenlosen Kampf zwischen einem europäisch radikalisierten Christentum und einem afrikanisch radikalisierten Islam. Kreuzzug gegen Dschihad.“
Quellen: Georg Bossong, Das maurische Spanien, Verlag C.H.Beck, München2010 – Washington Irving: Tales of Alhambra, ReadaClassic.com, USA – Pierre Guichard: Al-Andalus 711-1492. Hachettes Literatures 2000 – Verschiedene Beiträge aus Wikipedia