Das Normale ist nicht das Spektakuläre. Die Aufgabe für Fotografen wird schwieriger, denn ihre Bilder müssen vielschichtiger werden. Wie erzählt man vom ersten bescheidenen Glück?
Andreas Herzau hat sich dieser Aufgabe gestellt. Nachdem er das Land zu Zeiten der Bürgerkriege bereist hatte und im Vorfeld der ersten wirklich demokratischen Wahlen im Jahr 2006 neue Eindrücke gewonnen hatte, stellte er sich selbstkritisch die Frage, ob nicht auch sein Blick einseitig auf das Dunkle gerichtet ist. Anfang 2020 bereiste er Liberia wieder, um den Versuch zu unternehmen, die zunächst unspektakuläre Normalität in seinen Bildern zum Ausdruck zu bringen.
Wie verstehen?
Wie es heute weitgehend üblich ist, verzichtet Herzau auf Bildlegenden. Man weiss also nur, dass die Bilder im Jahr 2020 entstanden sind. Alles andere muss der Betrachter selbst erschliessen. Bei einigen Bildern ist das einfach, weil die Inhalte geradezu ins Auge springen. Bei anderen aber bleibt der Kontext völlig unklar. Damit stellt Andreas Herzau an die Betrachter unausgesprochen eine höchst brisante Frage: Versteht er wirklich mehr, wenn der Inhalt eines Bildes mit Worten benannt wird?
Dem Bildband ist ein Text des kenianischen Autors Binyavanga Wainaina beigefügt, in dem er sich über die Stereotype des europäischen Afrikabildes in höchst ironischer Weise lustig macht. Geradezu ätzend macht Wainaina klar, dass die europäischen Sprachmuster auch bei den besten Absichten immer Sinngehalte transportieren, die der Vielschichtigkeit der afrikanischen Kulturen überhaupt nicht gerecht werden. Dahinter steckt, wenn man Wainaina richtig versteht, nicht einmal eine böse Absicht, sondern es ist eine europäische Sichtweise, aus der ein Europäer wohl nur mit grösster Mühe und Bescheidenheit herauskommt.
Mit seinen Bildern möchte Herzau diesen Stereotypen entgehen. Er verzichtet also auf Worte und schafft stattdessen Beziehungen zwischen den Bildern, die sich erst nach und nach erschliessen. Beim Betrachten des Bandes wird man selbst zum Reisenden, der sich zurechtfinden muss und der bei genügender Geduld und Offenheit mit einem Mal Beziehungen wahrnimmt, die er kurz zuvor noch übersehen hat.
Diese Beziehungen stellen sich nicht in erster Linie über die Inhalte der Bilder her. Das geschieht zwar auch, aber noch wichtiger ist, dass Herzau Formen und Farben miteinander korrespondieren lässt. Er ist nun einmal ein denkender Fotograf, der Zeichen, Formen, Kontraste und Farben aufspürt, die das zum Ausdruck bringen, was er auf dem Weg Liberias jetzt als wichtig erachtet. Das ist ästhetisch zu verstehen. Die Bilder sind etwas anderes als die gesprochene Sprache.
Dabei bedient sich Herzau fotografisch verschiedener Mittel. Er zeigt Personen, Plätze, Strassen und Gebäude so gegenständlich, dass man sich problemlos auf den Bildern zurechtfindet. Dann aber geht er in Details und konzentriert sich zum Beispiel auf einzelne Gesichter, wobei er den Kontext ausblendet. Und dann fokussiert er auf Formen und Farben mit nur schwachem oder sogar ohne direkten gegenständlichen Bezug, so dass man diese Bilder einfach nur auf sich wirken lassen sollte.
Ein wichtiges Ausdrucksmittel Herzaus ist auch die Schwarz-Weiss-Fotografie. In dem Band sind Kontaktabzüge einzelner Filmstreifen, die allerdings aus den 1990er Jahren – der Zeit der Bürgerkriege – stammen, abgebildet. Darauf sieht man seine Markierungen und Notizen. Und die Schwarz-Weiss-Bilder zwischen den farbigen Abbildungen wirken wie Ruhepole und eröffnen zugleich noch einmal andere Eindrücke von diesem Land und dieser Gesellschaft auf dem Weg in eine friedlichere Zeit.
Andreas Herzau ist es gelungen, einen neuen Blick auf Liberia zu werfen. Seine Bilder erfordern vom Betrachter die Bereitschaft, sich in ihre Ästhetik und ihre innere Logik einzufinden. Dann kann sich die positive Botschaft auf ihn übertragen. Ein eigenes Erlebnis des Friedens.
Andreas Herzau: Liberia. Fotografien in SW und Farbe, 146 Seiten, Nimbus. Kunst und Bücher, Wädenswil 2021, 36 CHF, 32 Euro