Frankfurt, gesehen mit den Augen von Barbara Klemm. Die Ausstellung im Historischen Museum Frankfurt und der Begleitband erzählen, wie die Fotografin über mehrere Jahrzehnte das Leben in Frankfurt beobachtet und dargestellt hat.
Diese Zeitreise führt durch Themen und Ereignisse, wie sie für eine Stadt wie Frankfurt typisch sind. Der Projektleiter und Kurator Jan Gerchow und Barbara Klemm haben thematische Bildgruppen gebildet, aber in ihnen zeigen sich zwei Besonderheiten. Denn innerhalb dieser Gruppen gibt es keine chronologische Ordnung, die von früheren zu späteren Aufnahmen führte. Der zeitliche Ablauf ist kein Ordnungsprinzip. Welches ist es aber dann? Es ist der Blick der Fotografin. Die Bilder wurden so zusammengestellt, dass sie jeweils verbindende inhaltliche oder formale Elemente haben. Hat man dieses Prinzip einmal verstanden, erkennt man, wie sich die Bilder gegenseitig ergänzen und erläutern. Erst dann erschliessen sich kompositorische Elemente, die man leicht übersehen kann. Barbara Klemm sind diese Elemente offenbar wesentlich wichtiger als die zeitliche Abfolge. Sie stellt Bilder nebeneinander, zwischen denen Jahrzehnte liegen können.
Hintergründiger Humor
Der Blick von Barbara Klemm erfasst nicht nur Gemeinsamkeiten und Kontraste. Sie hat auch einen Sinn für Skurrilität, Situationskomik oder unfreiwillige Selbstentlarvung. So steht am Anfang ihrer Karriere ein Bild mit dickbäuchigen Saalordnern der NPD, die sich 1969 vor dem Cantate-Saal postiert hatten. Dieses Bild wurde vom «Spiegel», dem «Observer» und «Paris Match» übernommen und könnte auch zur damaligen Wahlniederlage der NPD beigetragen haben.
Der hintergründige Humor von Barbara Klemm geht aber noch viel weiter, wie manche Zusammenstellungen der Bilder zeigen. So sieht man auf einer Doppelseite links ein Foto von 1980, das eine Militärparade am amerikanischen Hauptquartier zeigt. Gegenüber auf der rechten Seite sind drei möglicherweise afrikanische Konzertbesucher in der Jahrhunderthalle Höchst von 1973 abgebildet. Die erinnern frappant an die afrikanische Mode oder Bewegung der sogenannten «Sapeurs», die sich noch in den prekärsten Lebensverhältnissen mit grösster Sorgfalt äusserst luxuriös kleiden. Man sieht also auf dieser Doppelseite zwei Möglichkeiten des männlichen öffentlichen Auftritts. Eine andere Doppelseite zeigt spielende Kinder auf einem Autoschrottplatz, rechts wird ein stark angejahrtes Auto am Mainufer von einem Vater und seinen Kindern liebevoll gepflegt.
Alle Fotos sind schwarzweiss und alle tragen die gleiche fotografische Handschrift. Kenner sprechen auch vom unverwechselbaren «Klemm-Blick», und tatsächlich gibt es zahlreiche Fotos, die man ihr spontan zuordnen kann. Aber die Bilder der Frankfurt-Ausstellung beziehungsweise des dazu gehörigen Bandes unterschieden sich von anderen Zusammenstellungen, etwa den «Strassenbildern» oder den «Künstlerporträts». Denn einige Bilder reflektieren auch den redaktionellen Alltag. Seit 1970 war Barbara Klemm als Redaktionsfotografin der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» für die Politik und das Feuilleton tätig. Und wenn ihr Kollege Lutz Kleinhans vom Lokalteil nicht verfügbar war, vertrat sie ihn. So entstanden eine Reihe von Bildern, die primär der Aktualität geschuldet waren und nicht unter rein fotografisch-ästhetischen Gesichtspunkten entstanden. Aber selbst bei diesen Fotos zeigt sich immer noch die hohe Kunst Klemms.
Porträt von Andy Warhol
Natürlich enthält der Band auch Bilder, die längst zu Ikonen der Fotografie geworden sind. Dazu gehört das Porträt von Andy Warhol vor dem Gemälde von Tischbein, «Goethe in der Campagna». Dieses Bild zeigt geradezu exemplarisch, wie meisterhaft Barbara Klemm Schärfen und leichte Unschärfen als gestalterisches Mittel einsetzt.
Dieses Foto ist nicht, wie man denken könnte, das Ergebnis einer aufwendigen Inszenierung. Diese Art einiger Fotografen, sich selbst in den Vordergrund zu drängen, ist ihre Sache nicht. Sie tritt bescheiden und still auf, hat nur eine unauffällige Kamera in einer kleinen Tasche – vorzugsweise in ihrer Handtasche – und möchte nicht auffallen. Die Begegnung mit Wahrhol war völlig ungeplant. Als sie privat das Städelmuseum besuchte, entdeckte sie Andy Warhol in der Eingangshalle. Ihr wurde gesagt, dass er einen Fototermin mit einem anderen Zeitungsfotografen habe. Bei dem erkundigte sich Barbara Klemm, ob er etwas dagegen habe, wenn sie, ohne irgendwie zu stören, auch ein paar Fotos mache.
Allerdings laufen bei ihr Porträtsitzungen anders ab. Sie bereitet sich sehr sorgfältig vor und führt mit ihren Porträtierten Gespräche. Darüber vergisst sie manchmal, wie sie etwas ironisch anfügt, das eigentliche Fotografieren. Ihren Fotos sieht man an, wie sehr es ihr gelingt, die Persönlichkeit des Porträtierten bildnerisch zum Ausdruck zu bringen.
Dynamik und Vielfalt
Ihre Aufnahmen von den Studentenunruhen im Zusammenhang der 68er-Bewegung haben nicht nur einen hohen historischen Wert, sondern erweisen auch ihr Gespür für politische Themen. Mit ihrer Kamera erfasste sie die Atmosphäre während der Vorlesungen von Grössen wie Alexander Mitscherlich, sie war dabei, als Studenten das Rektorat der Universität besetzten oder Theodor W. Adorno herausfordernd gegenübertraten. Und die Bildserien über die Hausbesetzungen, die Proteste gegen den Vietnamkrieg oder den Bau der Startbahn West rufen schlagartig die damaligen erhitzten und erbitterten Auseinandersetzungen zurück. Aber auch hier blitzt wieder ihr Witz durch, wenn sie zum Beispiel Joschka Fischer 1969 vor der Universität mit einem Helm auf einer Leiter sitzend fotografiert. Da hat er etwas von einem Buddha.
Die Ausstellung und das Begleitbuch stützen sich auf das umfangreiche Archiv der Fotos von Barbara Klemm. Als Jan Gerchow ihr die Idee dazu vortrug, war sie zunächst skeptisch, weil sie fürchtete, dass das Bildmaterial nicht genug hergeben könnte. Dann aber zeigte sich, dass sie mit ihrem Engagement und ihrer Beharrlichkeit über Jahrzehnte eine eindrucksvolle visuelle Dokumentation erarbeitet hat. Der Betrachter erlebt Frankfurt in seiner ganzen Dynamik und Vielfalt, von einfachen Strassenszenen über die Hektik an den Börsen bis zu Empfängen im Zusammenhang mit den Buchmessen, von feierlichen politischen Ereignissen bis hin zum Elend von Obdachlosen.
Diese optische Dokumentation ist auch deswegen so eindrucksvoll, weil sich Barbara Klemm als Erzählerin mit der Kamera stilistisch treu geblieben ist. Ein Foto von 1970 unterscheidet sich kaum von einem, das etwa um 2010 entstanden ist, und gerade deshalb treten Konstanz und Wechsel der gesellschaftlichen Ereignisse frappierend klar vor Augen.
Historisches Museum Frankfurt: Barbara Klemm – Frankfurt Bilder, bis 1. April 2024
Barbara Klemm: Frankfurt Bilder. Steidl, Für das Historisches Museum Frankfurt, herausgegeben von Jan Gerchow. Mit einem Essay von Eva Demski, 288 Seiten, 250 Schwarzweissfotografien, November 2023, 40 Euro