Die Wahlplakate erklärten: "Deine Stimme beschützt Jemen". Am Montag gab es lange Schlangen von Wählern in Sanaa, die stundenlang darauf warteten, ihre Stimme abzugeben. Für wen? - Für den einzigen Kandidaten für die Präsidentschaft des Landes, den bisherigen Vizepräsidenten Abd Rabbo Mansour al-Hadi. Nur er kann die Wahlen gewinnen, denn es gibt keinen anderen Kandidaten.
Hoffnung auf Neubeginn
Gewählt wird trotzdem und zwar mit Begeisterung. Die Nobelpreisträgerin und Ikone der jemenitischen Protestbewegung, Tawakkol Karman, erklärte nach ihrer Stimmabgabe mit dem eisernen Optimismus, der als ihr Markenzeichen gelten kann: "Heute bauen wir den neuen Jemen, wir bauen das demokratische und glückliche Land, das die gesamte Jugend und die Frauen sich erträumt haben!"
Aussenstehenden erscheint die Wahl als leeres Ritual. Doch den Jemeniten ist sie offensichtlich sehr wichtig. Die Jemeniten haben in der Tat einen guten Grund, dieses Wahlritual durchzuführen. Der bisherige Präsident, der 33 Jahre lang geherrscht hatte, weigerte sich, sein Amt aufzugeben, bevor nicht ein Nachfolger regulär gewählt worden sei. Dann, so versprach er, werde er endgültig abtreten.
Er hat allerdings zum ersten Mal seinen bevorstehenden Rücktritt bereits im vergangenen Sommer angekündigt und später hat er ihn viele Male in Aussicht gestellt. Doch bisher fand er jedesmal eine Ausrede, um sein Versprechen nicht einzuhalten.
Die Machtmittel des bisherigen Präsidenten
Er war in der Lage, sein Wort zu brechen, weil er immer noch über die Mittel verfügte, sich in seinem Präsidentenpalast zu verteidigen und Teile des Landes mit "seinen" Truppen zu kontrollieren. Seine Einheiten waren und sind noch immer jene, die seine Verwandten - ein Sohn, zwei Vettern, ein Bruder - kommandieren. Es sind auch die bestausgerüsteten Truppen des Landes, die von den Amerikanern Waffen und auch aus Saudi-Arabien Rüstungsgüter und Gelder erhalten. Die Präsidialgarde gehört zu ihnen, die neben anderen Aufgaben den Präsidentenpalast in Sanaa bewacht und verteidigt. Auch andere Einheiten wie die Anti-Terrortruppen, die von den Amerikanern ausgerüstet und ausgebildet worden sind, stehen unter dem Befehl eines Präsidentenneffen. Sie werden an den inneren Fronten Jemens eingesetzt: im Norden, wo es eine Kampfesfront gegen die Houthi Rebellen gibt und im Süden, wo sie zwei Widerstandsherde eindämmen müssen, den der jemenitischen al-Qaida in der südlichen Provinz Zinjbar und in der zentralen Wüste von Shabwa, sowie die Sezessionsbewegung von Aden, die ganz Südjemen wieder von Jemen abtrennen möchte.
Es sind diese Truppen, die im Zusammenspiel mit den Sicherheitsdiensten von Sanaa und der zweiten Stadt Taez die Macht des bisherigen Präsidenten bis heute gewaltsam aufrecht erhalten haben. Einige der bewaffneten Stämme des Landes, unter ihnen auch teilweise jener des Präsidenten selbst, die Sanhan, halten zu ihnen. Diese Einheiten befinden sich auch jetzt noch unter dem Oberbefehl der Verwandten des bisherigen Präsidenten. Nur falls es dem neuen Präsidenten, al-Hadi, gelingt, die Loyalität dieser Truppenkommandanten für sich zu gewinnen oder sie durch ihm loyale Offiziere zu ersetzen, findet ein echter Machtwechsel statt.
Rebellion in der Luftwaffe
Dies ist ein Prozess in kleinen Schritten, der zwar begonnen hat, von dem aber niemand wirklich weiss, wie rasch er ablaufen wird und wie vollständig er sich durchführen lässt. Was man sehen kann ist: In der Luftwaffe haben sich einige der führenden Offiziere gegen ihren Oberkommandanten erhoben. Dieser ist ein Bruder des bisherigen Präsidenten, und die abtrünnigen Offiziere und Piloten lassen ihren Generalleutnant Abdullah al-Yemeni erklären, dass ihr Kommandant nicht fähig sei, eine Luftwaffe zu kommandieren, er sei ungebildet und korrupt. "Niemand hat Vertrauen zu ihm. Er ist nur Kommandant, weil er der Bruder des Präsidenten ist". Die Luftwaffenoffiziere haben letzte Woche vorübergehend die Anflugspisten auf dem (zivilen und militärischen) Flughafen von Sanaa gesperrt.
Man weiss weiter, dass al-Hadi, der in den letzten Monaten als amtierender Staatschef wirkte, eine Kommission von 35 hohen Offizieren ernannnt hat, die mit der schwierigen Aufgabe betraut ist, die beiden feindlichen Teile der Streitkräfte wieder zu vereinigen und auszusöhnen.
Die Gegenfront gegen Ali Saleh
Dies ist notwendig, weil es neben den Ali Saleh Abdullah und seinen Verwandten treu ergebenen Truppen auch wichtige Armeeeinheiten gibt, die auf Seiten der Feinde des bisherigen Staatschefs stehen. Sie haben sich unter Panzergeneral Ali Muhsen schon im März 2011 für die Demonstranten erklärt; seither sind andere Einheiten zu ihnen übergelaufen, und sie haben periodisch in Sanaa und in anderen Städten Jemens den Saleh treuen Einheiten Kämpfe und Scharmützel geliefert. Sie halten Teile der Hauptstadt besetzt. Auch sie haben ihre Verbündeten unter den bewaffneten Stämmen des Landes, die ihrerseits ebenfalls eines der Quartiere der Hauptstadt besetzt halten.
Ein neues Oberhaupt
In diesen Zusammenhängen macht das Ritual der Einmann-Wahlen einigen Sinn. Der alte Chef wird abgewählt und ein neuer Chef, einstimmig gewählt. Der bisherige wird nun wohl, so hoffen alle, endgültig abtreten, und das bedeutet, dass seine Schützlinge - in erster Linie in der Armee - sich umsehen müssen, wie sie sich nun situieren wollen.
Wenn sie wirklich blosse Kreaturen sind, werden sie abtreten. Dann ist ihre Zeit vorbei. Wenn sie einige Eigenständigkeit besitzen, gewissermassen einen eigenen politischen Charakter, mit einem eigenen politischen Anhang, den sie entweder schon besitzen oder nun umgehend zu gewinnen vermögen, müssen sie sich umsehen, wie sie mit der neuen politischen Konstellation unter al-Hadi umgehen, um ihre Positionen zu wahren oder gar auszubauen.
Die bisherigen Kommandanten haben dabei mit neuen Konkurrenten zu rechnen, die bisher kaum gegen sie auftreten konnten. Bis heute waren sie als wesentliche Bausteine in die Machtpyramide des scheidenden Präsidenten eingebaut. Dies schützte sie gegen Aussenseiter.
Präsident für zwei Jahre?
Der neue Präsident wird natürlich versuchen, seine eigene Machtpyramide aufzubauen. Er hat für sofort nach der Wahl einen grossen Versöhnungkongress angekündigt. Doch er ist ein Übergangspräsident, er hat nur zwei Jahre Zeit, um seine Macht auszubauen. In zwei Jahren soll es neue Parlaments- und Präsidentenwahlen geben.
Die ganze Regelung, die nun durchgespielt wird, ist mit Hilfe der Golfstaaten zustande gekommen. Die Amerikaner begünstigten sie zwar, doch es waren die Golfherrscher - federführend das kleine, aber energische Qatar - die diese Regelung in zähen Verhandlungen mit den jemenitischen Partnern auf beiden Machtfronten trotz mehrfacher Rückschlägen zustande brachten.
Es handelt sich um eine "arabische" Lösung, tief in den arabischen politischen Traditionen verankert. Westliche Diplomaten hätten sie schwerlich erfinden können, weil ihnen das Grundkonzept "Wahlen für einen Mann", auf dem sie aufbaut, völlig widersinnig erscheinen muss. Wahlen müssen in westlichen Augen ein Auswahl bieten, die der Wähler zu treffen hat, also zwischen mindestens zwei Kandidaten ablaufen.
Es gibt jedoch das althergebrachte und sogar religiös verankerte Prinzip der "Bai'a" in der arabischen Politik schon seit der Zeit vor dem Propheten. Das Wort bedeutet eigentlich "Einkauf", es wird aber mit "Wahl" übersetzt. Eine Versammlung von Würdenträgern "kauft" einen neuen Chef, wenn der alte stirbt oder unbrauchbar wird. Sie "wählt" ihn in dem Sinne, dass sie sich auf ihn einigt und sich dadurch seiner Autorität unterstellt.
Neue Formen für eine alte Institution
Auch die Jemeniten leben heute in einer modernen Welt, nicht mehr unter alleinigem Einfluss ihrer eigenen altangestammten "islamischen" Hochkultur. Deshalb wird heute die "Bai'a" modern durchgeführt, als demokratische Wahl, mit allen dazu gehörigen ursprünglich westlichen Paraphernalia: Wahlpropaganda, Wahlversammlungen, Urnen, Stimmzettel, Farbe für Wählerfinger, Wahllokale, Warteschlangen. Allerdings geschieht das diesmal auch, indem die "Bai'a" ihre Essenz bewahrt. Man wählt einen Nachfolger des bisherigen Machthabers, auf den man sich in den vorausgehenden informellen Gesprächen und Traktationen geeinigt hat. In Sanaa war es das Parlament - Regierungspartei und Opposition -, das den einen Kandidaten ausgewählt hatte.
Man hat sich auf ihn im Voraus geeinigt, weil man gefunden hatte, dass er unter den gegebenen Umständen die bestmögliche unter vielen weniger aussichtsreichen Führungsvarianten verkörperte. Ihm konnten die meisten der beteiligten Machtgruppierungen zustimmen.
Die Rebellen im Süden und Norden lehnten ab
Im Jemen waren es nicht alle Gruppen. Die Rebellen im Norden und Süden gelobten Wahlboykott, und in der südlichen Hauptstadt Aden wurden vier Soldaten, die die Urnen bewachten, erschossen; im ganzen Land waren es mindestens acht. Am Nachmittag des Wahlmontags musste die Hälfte der Wahllokale in Aden geschlossen werden.
Der neue Präsident, al-Hadi, stammt aus dem Süden, und Hoffnung besteht, dass er mit den unzufriedenen Südländern eine Autonomielösung aushandeln kann. Was allerdings viel Zeit und Energie benötigen wird.
Die Protestbewegung schloss sich weitgehend an
In Jemen haben sich offensichtlich auch grosse Teile der Protestbewegung entschlossen, mitzustimmen und dadurch die getroffene Übergangslösung mitzutragen. Ursprünglich waren sie dagegen, weil sie die Straffreiheit für Ali Saleh Abdullah und seine Sicherheitschergen ablehten, die ein wichtiger Bestandteil der ausgehandelten Gesamtlösung war.
Auch heute noch gibt es Mitglieder der Protestbewegung, die sich weigern, mitzustimmen, weil sie Bestrafung, ja Rache für die Untaten der Truppen und Sicherheitsleute des Staatschefs und seiner selbst als des für ihr Verhalten Verantwortlichen fordern. Ihr Argument lautet oft: Ein Bruder oder ein naher Verwandter sei erschossen oder verwundet worden, und sein Blut könne nicht ungerächt bleiben.
Der in europäischen Augen nahe liegende Einwand gegen die Wahlen, dass diese keine Wahlen seien, weil sie ja nur einen einzigen Kandidaten aufwiesen, wird allem Vernehmen nach seltener vorgebracht.
Der politische Umbau steht noch bevor
Nach dem Abschluss des symbolischen Aktes der "Bai'a" muss nun allerdings die neue politische Ordnung verwirklicht werden, die durch die Person des neu bestimmten obersten Machthabers gegeben sein wird.
Im jemenitischen Fall soll es eine Übergangslösung werden, die den Übergang zu erhofften demokratischen Zeiten vorzubereiten hat. Dies ist eine Konzession an die Protestbewegung, deren Ziele in der nun beginnenden Übergangsphase unberücksichtigt bleiben. Zwar wird hoffentlich nicht mehr Ali Saleh Abdullah regieren, jedoch sehr wohl sein Vizepräsident und Nachfolger, gestützt auf einen Machtapparat, der sich von dem seines Vorgängers kaum unterscheiden wird. Bestenfalls werden neue Personen als untere Träger der Macht in ihn eingebaut werden.
Zwei Jahre Übergangszeit
Doch die nun angesetzte kurze Übergangsfrist lässt immerhin die Möglichkeit offen, dass dann ein Übergang zu neuen politischen Strukturen initiiert werden könnte. - Wie werden sie aussehen? Niemand weiss es genau, auch die Demonstranten, welche die ganze Bewegung vor einem Jahr ausgelöst haben und sie weiter voranzutreiben versuchen, wissen es nicht. Etwas schwebt ihnen vor, das sie Demokratie nennen und das einen Machtwechsel auf Grund von Wahlen erlauben sollte, sowie mehr Transparenz der staatlichen Machtstrukturen, die eine Voraussetzung wäre für die Abnahme der allzu verbreiteten Korruption.
Das jemenitische Gemeinwesen leidet allerdings unter so vielen Übeln, beginnend mit der Unterernährung grosser Massen von Kindern, der Marginalisierung der Frauen, der Arbeitslosigkeit gewaltiger Mengen von mehr oder weniger ausgebildeten Oberschulabgängern, Armut und Hunger auf dem Lande, Wassermangel durch Übernutzung der Grundwassers, Erschöpfung der Erdölvorkommen, die bisher dem Land Devisen einbrachten, Bevölkerungszuwachs, mit dem die schwachen Erziehungs- und Wirtschaftsstrukturen nicht Schritt halten können, bis hin zu den eigentlich politischen Problemen wie den bewaffneten Aufständen im Norden und Süden des Landes und die Widersprüche zwischen Stammesordnung und städtischem Leben, zwischen Organisationsformen moderner, wirtschaftlich produktiver Gemeinwesen und religiös bedingten Ordnungsvorstellungen - und unendlich viel mehr.
All dies muss schon in der nun beginnenden Übergangszeit energisch angepackt werden, wenn Jemen in den nächsten zwei Jahren als einigermassen funktionierender Staat überleben und sich trotz allem irgendwie vorwärts entwickeln soll.