Am Anfang von Thomas Hürlimanns literarischem Schaffen stehen zwar so stille Erzählungen wie „Die Tessinerin“ oder „Das Gartenhaus“. Dass er aber auch ein ausgesprochen komödiantisches Talent besitzt, bewies er schon früh mit Stücken wie „Stichtag“, „Der letzte Gast“ oder eben mit dem „Franzos im Ybrig“, jener Dialektkomödie, die 1991 die Zusammenarbeit des Autors mit der Chärnehus-Truppe und ihrer Regisseurin Barbara Schlumpf begründet hatte. Hürlimann kann Dialoge schreiben und hat Sinn für Situationskomik. Er beherrscht aber auch die leiseren Töne, die ein Abgleiten ins allzu Schwankhafte verhindern.
Sein jüngstes, am 19. Oktober im Einsiedler Kino Etzel uraufgeführtes Stück „De Casanova im Chloster“ ist eine Trouvaille: zum einen, weil der Stoff historisch ist und zum andern, weil er genau jene Mischung von derber Komik und existentiellem Tiefgang aufweist, die Hürlimanns Sicht auf die Welt bestimmt. Wie aus der mit grosser Sorgfalt gestalteten Schrift des Kulturvereins Chärnehus hervorgeht, war Casanova im Jahr 1760 tatsächlich zu Besuch in Einsiedeln und trug sich mit dem Gedanken, sein Leben hinter Klostermauern zu beenden: ob aus spirituellem Bedürfnis oder aus Angst vor Gläubigern und gehörnten Ehemännern, ist nicht überliefert. Immerhin finden sich in seinen Memoiren die Worte: „… mich wandelte eine unbegreifliche Laune an – nämlich, Mönch zu werden.“ Und es wird auch der Grund genannt, der ihn davon abhielt, „der teuflischen Versuchung, in ein Mönchskloster einzutreten“, nachzugeben: die Begegnung mit einer schönen Frau natürlich. Wie könnte es anders sein!
Diese Episode im Leben des notorischen Frauenverstehers Casanova hat Hürlimann als Vorlage für sein neuestes Stück gedient. Es handelt von der Ankunft des Venezianers in Einsiedeln, von seiner Begegnung mit der Mönchsgemeinschaft, von der Verwirrung, die er oben im Kloster und unten im Gasthaus „Pfauen“ anrichtet, und schliesslich von der letzten Nacht, die als rauschender Abschied von der Welt gedacht ist, am Ende aber nur wieder in eine erneute Jagd nach Triebbefriedigung mündet.
In Thomas Hürlimanns Stück ist Casanova ein müde gewordener Don Juan, der sich, von seiner unstillbaren Gier nach Verführung umgetrieben, insgeheim danach sehnt, irgendwo anzukommen und Ruhe zu finden. „Meinen Wegen sieht man an, dass es Heimwege sind“, lässt der Autor, Robert Walser zitierend, ihn einmal sagen. Dem traurigen Jäger der Lust gegenüber stehen auf der einen Seite eine etwas vertrottelte Truppe von Mönchen, die von weltlichem Treiben nichts zu wissen scheinen, auf der andern eine Schar von Frauen, die, ob alt oder jung, frustriert oder unerfahren, nur darauf warten, von einem wie diesem Casanova aufs Kreuz gelegt zu werden. Und er nutzt es aus mit allen Mitteln, die ihm, dem Komödianten, dem Hochstapler und Zyniker, zur Verfügung stehen. Den Mönchen schmeichelt er mit frommen Worten, den Frauen mit abgegriffenen Komplimenten. Auf den Leim gehn sie ihm alle.
Nein, politisch korrekt ist das nicht – schon gar nicht in Zeiten von „Me too“-Kampagnen gegen die Weinsteins dieser Welt. Doch darum schert sich weder der Autor noch seine Regisseurin, die gemeinsam alles auffahren, was diese einmalige Kombination aus Möncherei und Liebeskunst hergibt. Barbara Schlumpfs Inszenierung, die das Derb-Deftige der Vorlage vielleicht etwas gar strapaziert, macht vor keinem sich aufdrängenden Klischee Halt: nicht vor Mönchen, die sich an Casanovas Liebesgeflüster aufgeilen, und nicht vor Frauen, die sich dem Erstbesten hingeben, wenn er sie nur zu nehmen versteht. Casanova verführt vornehmlich mit Worten. Dass es immer die gleichen sind und er längst nicht mehr weiss, wem er alles mit dem Nagel seines kleinen Fingers zu Wollust verholfen hat, realisieren sie nicht oder erst, wenn es längst zu spät ist.
Der aufreizend rot lackierte Fingernagel auf Dürers betenden Händen ist denn auch zum Signet einer Aufführung geworden, die sich lustvoll dem Spiel mit allerlei Tabubrüchen hingibt. Sehr zum Vergnügen des Publikums, unter das sich am Premierenabend auch ein paar Mönche des Klosters gemischt hatten, aber auch der Schauspieltruppe, die einmal mehr mit ebenso viel Talent wie Spielfreude bei der Sache ist. Allen voran Zeno Schneider, der seinen Casanova wunderbar zwischen Lebensgier und Lebensüberdruss oszillieren lässt, aber auch die übrigen Mitglieder dieser eingeschworenen Truppe – Rosmarie Oechslins resolute Wirtin und ihre herrlich urnernde Serviertochter, die schmallippige Witwe Nussbaumer, die rabiate Mutter Oberin, genannt „die Heilige Beisszange“, der dauerbesoffene Pater Daniel und Bruder Beppo, dem die ewige Verdammnis im Süügade droht, um nur einige von ihnen zu nennen – zeigen Leistungen, die weit über die Möglichkeiten landläufiger Laienensembles hinausgehen. Und nicht zu vergessen den Bruder Sargtoni mit den brennenden Kerzen auf dem schwarzen Hut, den wir schon vom „Franzos im Ybrig“ her kennen und dessen Auftritte dem Schwank jene existentielle Brüchigkeit verleihen, die für Hürlimanns literarisches Schaffen so bezeichnend ist. Etwas mehr Vertrauen in diese leiseren und dunkleren Töne hätte der bisweilen sehr auf Knalleffekte hin angelegten Inszenierung zweifellos gut getan.
Weitere Vorstellungen ab 25. Oktober bis 2. Dezember. Vorverkauf Paracelsus Apotheke, Tel. 055 418 40 75, oder www.chaernehus.ch.
„De Casanova im Chloster“, Komödie von Thomas Hürlimann, Schriften des Kulturvereins Chärnehus Einsiedeln, Nr. 44.