Doch von vorn: Die Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrates vom 27. Februar war zum Schutz der Zivilbevölkerung Libyens vor der Soldateska Muammar Gaddafis gedacht, aber derart doppeldeutig formuliert, dass sie verschiedene Interpretationen zulässt. Ob sie die Lieferung von Waffen an den „Nationalen Übergangsrat“ erlaubt, entzweit den Westen ebenso wie der erbitterte Streit in der US-Administration. Die republikanische Opposition im US-Kongress lehnte sogar die bisherige Zurückhaltung Barack Obamas als Ermutigung Gaddafis ab und forderte den Präsidenten auf, öffentlich den Willen zur Führung und den Stolz über die militärische und politische Stärke der USA zu dokumentieren.
Wieder einmal also hat es den Anschein, dass der Wert solcher Resolutionen und damit auch des Sicherheitsrates selbst in Frage steht. Dass NATO-Generalsekretär Anders Fogh Ramussen kategorisch die Bewaffnung der Rebellen ausschloss, weil die UNO-Charta nur im Falle eines Völkermordes die volle militärische Intervention vorsieht, dürfte die Entsendung von Bodentruppen nicht verhindern, es sei denn Gaddafis Artillerie kann schnellstens ausgeschaltet werden.
Ägypten soll völlig neue Verfassung bekommen
Doch im gesamten arabischen Raum stehen Probleme zur Entscheidung an. In Ägypten entluden sie sich Anfang 2010 mit dem gewaltsamen Tod mehrerer koptischer Christen im Süden und fanden genau ein Jahr später in Alexandria eine schreckliche Fortsetzung. Auch nach einer Serie von Verfassungsreformen wird die Sharia als Hauptquelle der Rechtsprechung genannt, und wer sich in Kairo ums Amt des Präsidenten bemüht, darf nicht mit einer Frau mit ausländischer Staatsbürgerschaft verheiratet sein. Verbände klagen darüber, dass die Reform das patriarchale Regiment etwa im Scheidungs- und Erbfallrecht zu zementieren droht. Noch immer können vierzig Prozent aller Frauen weder lesen noch schreiben. Um weiteren Protesten zuvorzukommen, hat der Oberste Militärrat nunmehr verkündet, dass das im September zu wählende Parlament eine völlig neue Verfassung erarbeiten solle.
Verhältnis zu Syrien bleibt die Grundfrage im Libanon
Libanon steht traditionell im Banne verhinderter Verfassungsreformen und der politischen Schwäche der Zentralregierung, an der vor allem die Hisbollah interessiert ist. Die Unterstützung für den neuen sunnitischen Ministerpräsidenten durch die schiitische „Partei Gottes“ trägt noch keine erkennbaren Früchte. Stattdessen gehören politische Frontenwechsel zur Tagesordnung und drehen sich vor allem um die Qualität der Beziehungen zu Syrien. Die Ermordung des früheren Ministerpräsidenten Rafiq Hariri Mitte Februar 2005, die eine UN-Sonderkommission noch heute untersuchen will, belegt, einmal mehr die Spannungen bis an die Grenze von Zerreißproben, ebenso die aktuellen Beschuldigungen der Hisbollah, das „Bündnis des 14. März“ würde die syrischen Demonstrationen gegen Bashar al-Assad mit Waffen zu unterstützen.
Bishr nur Bauernopfer in Syrien
Das Baath-Regime kämpft ums Überleben, und niemand weiß, wie viele Opfer der aufgestaute Hass fordern wird. Unvergessen sind die vielen zehntausend toten Moslembrüder, die Anfang 1982 in Hama niedergemetzelt wurden. Die Entlassung des greisen Ministerpräsidenten und die Ankündigung späterer Reformen – wenn die angeblich vom Ausland gesteuerte „Verschwörung“ beendet sei – sind kaum mehr als ein Bauernopfer, das die totale Herrschaft der selbsternannten Verantwortungsträger, die schweren Menschenrechtsverletzung sowie die systemisch zu nennende Korruption in Staat und Gesellschaft nicht aus der Welt schafft. Einem Viertel der Bevölkerung, den Kurden im Norden, sind sezessionistische Neigungen nicht fremd.
Konnte Assad bislang auf persönliche Sympathien in manchen Kreisen der Öffentlichkeit vertrauen, dürfte er sie mit seiner Ansprache am 30. März vor dem Parlament aufs Spiel gesetzt haben; der rhythmisierte Jubel der Parlamentarier glich den Begeisterungsstürmen in der Sowjetzeit. Aber noch geht die Angst vor den Geheimdienstleuten in Zivil und den Ausfällen der verordneten Demonstrationszüge um. Gaddafis und Assads Tage sind gezählt, doch der Preis für ihren Abtritt wird hoch sein.
In Jordanien dürfte Übergang ruhiger vonstattengehen
Nur in Jordanien dürften die Übergänge ohne regimegefährdende Eruptionen vonstattengehen, wenn sich das haschemitische Königshaus vom allumfassenden Primat in Politik und Gesellschaft verabschiedet und einer konstitutionellen Monarchie Platz macht. Überfällige Reformen entschlossen anzugehen, den Lebensstandard zu erhöhen, das Wahlrecht zu überarbeiten und den mehrheitlich in Flüchtlingslagern lebenden Palästinensern eine größere Beteiligung im höheren Staatsdienst einzuräumen, würde manchen Druck vermindern. Alle Beobachter sind sich darin einig, dass ungeachtet des Vormarschs der technologischen Moderne der Konservatismus in der Gesellschaft an Boden gewonnen hat, ohne dass dieser sich religiös konfrontativ-absolutistisch geriert. Aber wie nicht anders zu erwarten, berichtet das jetzt auch in deutscher Sprache vorliegende Buch Abdullahs II. mit dem Titel „Die letzte Chance – Mein Kampf für Frieden im Nahen Osten“ wenig davon. Der in Oxford lehrende israelische Historiker Avi Shlaim hatte in seiner Biographie mit dem Titel „Lion of Jordan“ die innenpolitischen Konvulsionen exakt beschrieben, denen sich der Vater König Husseins zeit seines Lebens ausgesetzt sah.
Die in die Demokratie aufbrechenden Kräfte im arabischen Nahen Osten brauchen Zeit – wenn es gelingt, die alten Eliten aus Regierungsparteien, Militär, Bürokratie und technokratischen Nutznießern des Systems stillzuhalten. Ob der Islam die einzige Quelle der Rechtsprechung bleibt, ist gegenwärtig nicht abzusehen. Unter den ägyptischen Moslembrüdern der jüngeren Generation ist darüber eine Debatte entbrannt, wobei die Reformer unter ihnen großes Interesse daran haben, dass der Regimewechsel für die grundlegende Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen sorgt.
Prüfstein „Israel“
Der vielbeschworene Dialog zwischen den Interessengruppen allein wird da nicht helfen. Die internationalen Hilfsorganisationen werden wie bisher wichtige, wenn auch sektoral begrenzte Dienste leisten können. Ausschlaggebend für die Zukunft ihrer Länder bleiben jedoch die Zivilgesellschaften vor Ort selbst, die überdies sehr darauf achten werden, dass die externen Angebote nicht in die Einmischung in interne Angelegenheiten münden. Die große Unbekannte bleibt Saudi-Arabien trotz seiner obskurantistisch anmutenden Islam-Exegese, der politischen und sozialen Unterprivilegierung der Frauen sowie der vielen hunderttausend jungen Menschen, die trotz ihrer guten Ausbildung keinen adäquaten Arbeitsplatz finden. Ob sich aus dieser Mischung ein revolutionäres Potential entwickelt, mag niemand prophezeien.
Was in Kairo sowie in Amman – und wenn Assad in Syrien gestürzt wird, auch dort und im Libanon – vorhersehbar erscheint, ist eine gewichtige Qualitätsverschiebung in den Beziehungen zu Israel. Nachdem Ägypten und Jordanien schon seit langem nur noch mit einem Geschäftsträger in Tel Aviv vertreten sind, werden beide Regierungen die Kontakte noch weiter herunterfahren. Die Wirtschaftsbeziehungen stagnieren, und in Kairo ist eine nochmalige Erhöhung der Preise für die Erdgaslieferungen im Gespräch, obwohl sie in den vergangenen zwei Jahren fast um das Doppelte gestiegen waren. Außenminister Nabil al-Arabi hat für die Normalisierung der Beziehungen zu Teheran geworben und tritt für die Lockerung der Absperrungen an der Grenze zum Gazastreifen ein. Unrealistisch jedoch dürfte schon wegen der unerlässlichen Pflege der Beziehungen zu den USA und zu den Staaten der Europäischen Union die Aufkündigung der Friedensverträge von 1978 und 1995 sein. Aber die Arabische Friedensinitiative von 2002 hat sich erledigt.
Neue Fragen in Palästina und Israel
De Autonomiebehörde in Ramallah und die Hamas-Regierung in Gaza-Stadt sind Gefangene fremdgesteuerter Energien, hier von Israel mit tatkräftigem Beistand der westlichen Regierungen, dort von Seiten Teherans und bislang eben auch aus Damaskus. Die Finanzhilfen für die Autonomiebehörde im Umfang von fast 450 Millionen US-Dollar aus Europa und den USA allein seit 2007 haben eine Kultur der Abhängigkeit geschaffen. Für den Gazastreifen liegen keine verfügbaren Messzahlen vor. Da das Ende der Okkupation ausblieb, habe Ramallah die politische Enttäuschung mit einem Programm des ökonomischen Neoliberalismus kompensiert, das sich als nationale Befreiung ausgebe, so zwei palästinensische Wissenschaftler, die nicht ganz zufällig im westlichen Ausland arbeiten.
Noch steht in der Westbank und im Gazastreifen die Strukturierung des Sicherheitssektors ohne demokratische und juristische Kontrolle im Vordergrund. Aber die besonders jungen Menschen in beiden Territorien werden nicht ruhen, bis sich die beiden Führungseliten um der nationalen Einheit willen zur Überwindung ihrer törichten Rivalitäten bequemen. Es wäre verwunderlich, wenn der innerarabische Dominoeffekt vor den Palästinensern zum Stillstand käme. Nach Auskunft aus dem israelischen Generalstab ist das Militär nicht in der Lage, in der Westbank eine weiträumig organisierte gewaltfreie Rebellion wirkungsvoll einzudämmen.
Auch in Israel zeichnet sich unter den palästinensischen Staatsbürgern eine um politische Fortschritte kämpfende Emanzipation ab. Die Integrationsbereitschaft in die Gesamtgesellschaft verknüpfen sie mit der Bedingun, als nationale Minderheit anerkannt zu werden. Dass von der jüdischen Seite die Maxime vorgegeben worden ist, Israel als jüdischen und zugleich demokratischen Staat zu akzeptieren, verschärft die Konfrontatio zusätzlich. Der Sprengstoff droht den Staat Israel von innen aufzubrechen.
Eine der führenden Politologen des Landes, die an der Hebräischen Universität lehrende Naomi Chazan, hat „Apartheid“ als die gewaltsame Zuschreibung von ethnisch-biologischen, religiösen und kulturellen Abweichungen definiert. Benjamin Netanyahus Stolz auf Israels Immunität gegenüber den Schockwellen in der arabischen Nachbarschaft könnte auf eine harte Probe gestellt werden. Erst wenn die israelische Politik den sogenannten arabischen Faktor als essentielle Herausforderung für die innere Sicherheit und für das Überleben des Staates entdeckt und ernst nimmt, gewinnt die regierungsamtliche Rhetorik von der „Zweistaatenlösung“ die erforderliche Glaubwürdigkeit.
US-amerikanische Hebel
Ob die USA im Zuge der möglichen Proklamation des Staates Palästina in der Uno im Herbst von ihrem Vetorecht Gebrauch machen, wird in Jerusalem strittig diskutiert. Dabei wird Washington angesichts der allgegenwärtigen Umfragegläubigkeit nicht um die Tatsache herumkommen, dass nur mehr 43 Prozent aller Amerikaner eine positive Einstellung gegenüber Israel bekennen und dass die Entfremdung unter jungen Juden gegenüber Israel nicht länger zu übersehen ist – und in der Knesset eine Debatte über „Vollzüge des Verhältnisses zwischen jüdischen Gemeinschaften in der Welt und den Regierungen des Staates Israel“ ausgelöst hat.
Wie die US-Administration gleichsam über Nacht den nützlichen Verbündeten Hosni Mubarak fallenließ, könnte nach Auffassung des in Harvard lehrenden israelischen Politologen Ehud Eiran auch Israel blühen: Washingtons strategische Allianzen seien nur dann von Dauer, wenn der Partner eine Demokratie sei, die sich aufrichtig den Menschenrechten und der Geltung des Rechts verpflichtet zeige. Ja, fügte Eiran hinzu, wir können uns nicht auf den Lorbeeren ausruhen. Auch der politischen Rechten dämmert es, dass die Lebensfähigkeit Israels nach den Umbrüchen in der arabischen Welt mehr denn je von der amerikanischen Unterstützung abhängt.