Erneut hat die israelische Armee (IDF) in Gaza zwei Journalisten getötet. Damit erhöht sich die Zahl gefallener Medienschaffender im Küstenstreifen auf 106 Personen. Mit den Tötungen einher geht laut einer Untersuchung die Zerstörung kritischer Presse-Infrastruktur: «eine Strategie, die Öffentlichkeit zu blenden».
Der 27-jährige Korrespondent Ismail al-Ghoul und Kameramann Rami al-Rifi des TV-Satellitensenders Al-Jazeera waren am Mittwoch um fünf Uhr nachmittags im Flüchtlingslager al-Shati in einem Auto unterwegs, als sie eine Luft-Boden-Rakete der IDF traf. Das Geschoss tötete auch ein unbeteiligtes Kind, das sich in der Nähe befand.
Die israelische Armee hat sich auf Anfrage hin nicht zum Vorfall geäussert. Die IDF haben in früheren Fällen stets dementiert, Medienschaffende gezielt anzugreifen. Sie könne andernfalls, lässt sie verlauten, nicht für deren Sicherheit garantieren. Israel selbst hat seit dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 mindestens 2’800 ausländische Medienleute akkreditiert.
Hohle Dementis
Doch die Dementis aus Tel Aviv klingen angesichts der steigenden Zahl getöteter Journalistinnen und Journalisten zunehmend hohl. Seit dem 7. Oktober und dem Beginn des Krieges in Gaza sind laut der NGO Committee to Protect Journalists (CPJ) insgesamt 111 Medienschaffende, unter ihnen 106 Palästinenserinnen und Palästinenser, getötet worden.
Ismail al-Ghoul und Rami al-Rifi hatten im Flüchtlingslager westlich von Gaza City ein Interview mit Enas Hanjya, der Schwiegertochter des gleichentags in Teheran ermordeten Hamas-Führers Ismail Hanjya, beendet, als eine israelische Rakete einen Teil ihres Hauses traf. Worauf Ghoul und Rifi einem Augenzeugen zufolge so schnell als möglich versuchten, die Umgebung des Angriffs zu verlassen. Doch ein Aufklärungsflugzeug der IDF verfolgte ihr Fahrzeug und feuerte die tödliche Rakete ab. Inzwischen hat Al Jazeera Israels ohne Belege geäusserte Behauptung zurückgewiesen, Ismail al-Ghoul sei ein Mitglied der Hamas gewesen.
Kein besonderer Schutz
Der Augenzeuge, ein freier Fotograf, berichtete, die beiden Kollegen seien getötet worden, obwohl sie wie alle Medienschaffenden vor Ort Westen mit der Aufschrift «Presse» getragen hätten. «Er berichtete für Al-Jazeera und die Welt unermüdlich über das Geschehen und die Realität in Gaza. Jetzt ist seine Stimme zum Schweigen gebracht worden», schreibt ein Verantwortlicher von Al-Jazeera: «Ismail hat seine Pflicht gegenüber seinem Volk und seinem Vaterland erfüllt. Schande über jene, die es unterlassen haben, Zivilisten, Medienschaffende und die Humanität zu schützen.»
Es war nicht Ismail al-Ghouls erster Kontakt mit den Israelis in Gaza. Er gehörte einer Gruppe von Journalisten an, welche die IDF bei einer Operation gegen das al-Shifa-Spital vorübergehend festgehalten und dem Korrespondenten zufolge gezwungen hatten, sich nackt auszuziehen und während Stunden bäuchlings auf dem Boden zu liegen.
Kein unabhängiger Zugang
Nach wie vor sind palästinensische Medienschaffende die einzigen, die direkt über den Krieg in Gaza berichten. Dies, obwohl internationale Medienorganisationen und NGOs, unter ihnen die Nachrichtenagenturen AP und AFP, die Fernsehsender BBC und CNN und Zeitungen wie der «Guardian», die «New York Times» und die «Washington Post», Israel wiederholt aufgefordert haben, ausländischen Medienleuten Zugang zu Gaza zu erlauben – ein letztes Mal am 11. Juli vor Benjamin Netanjahus Auftritt vor dem US-Kongress in Washington DC.
«Ministerpräsident Netanjahu beschreibt Israel als eine Demokratie. Seine Taten bezüglich der Medien sprechen aber eine andere Sprache», sagt CPJ-CEO Jodie Ginsberg: «Internationalen, israelischen und palästinensischen Medienschaffenden ausserhalb Gazas sollte unabhängiger Eintritt zu Gaza gewährt werden, damit sie selbst einschätzen können, was in diesem Krieg geschieht – und sie sollten nicht nur mit einer Handvoll organisierter Tours der israelischen Armee abgespeist werden.» Unter den 73 Signataren des Briefes befindet sich aus der Schweiz die in Genf domizilierte European Broadcasting Union (EBU).
«Schockierend und erschreckend»
Die Einzige, der es bisher im letzten Dezember gelungen ist, zumindest für kurze Zeit aus Gaza selbst zu berichten, ist Clarissa Ward, Chefkorrespondentin von CNN, die unlängst in fast allen grösseren Kriegsgebieten der Welt unterwegs gewesen ist. Sie habe bisher, erzählt sie im Interview mit dem US-Magazin «Vanity Fair», wenn auch oft auf verschlungenen Wegen fast immer Zugang zum Kriegsgeschehen gefunden. In Gaza gelang es ihr, mit einem Ärzte-Team für einen Nachmittag ein Feldlazarett der Vereinigten Arabischen Emirate (VAR) zu besuchen: «In Gaza riskieren lokale Medienschaffende ihr Leben – und viele unter ihnen bezahlen für ihren Einsatz mit dem Leben, um diese Stories zu berichten.»
Was in Gaza, dem tödlichsten Konflikt für Medienschaffende seit Beginn der Aufzeichnung durch das CPJ 1992, geschehe, sei zutiefst schockierend und erschreckend: «Man kann sich bezüglich dieses Konflikts nur wundern, was anders gelaufen wäre, wenn Dutzende von uns, aus vielen verschiedenen Ländern, vom 8., 9. oder 10. Oktober an und danach vor Ort gewesen wären? Wie anders würde die Berichterstattung aussehen? Wie hätte das die Reaktion der Welt verändert?» Zwar hätten internationale Medienleute unbehindert den Horror des Massakers am 7. Oktobers schildern können: «Es will mir aber nicht in den Kopf, dass es uns nicht möglich gewesen ist, auf dieselbe Weise aus Gaza zu berichten.»
Keine Rechenschaft
Noch vor Ausbruch des Krieges in Gaza hat das CPJ im Mai 2023 dokumentiert, dass die IDF in den vorangegangenen 22 Jahren mindestens 20 Medienschaffende getötet hatten, ohne dass jemand dafür zur Rechenschaft gezogen worden wäre. Der Bericht unter dem Titel «Tödliches Muster» kommt zum Schluss, dass sich die israelische Regierung der Verantwortung entzog, indem sie Untersuchungen verzögerte, Beweismittel unter Verschluss hielt, Medienschaffende als Terroristen brandmarkte oder behauptete, IDF-Truppen seien in Lebensgefahr gewesen.
So hiess es zum Beispiel in einem Aufsehen erregenden Fall seitens der IDF, die 51-jährige Al-Jazeera Korrespondentin Shireen Abu Akleh sei am 11. Mai 2022 in Jenin zwar mutmasslich von einer Kugel aus einem israelischen Gewehr getötet worden, das aber während eines Feuergefechts mit palästinensischen Militanten. Videos jenes Tages widersprechen dieser These: Abu Akleh trug gut sichtbar eine «Presse»-Weste und befand sich abseits des Kampfgeschehens.
Keine absolute Sicherheit
Zwar hat es im Fall von Medienschaffenden, die über Konflikte berichten, historisch gesehen nie eine absolute Sicherheit gegeben. Doch die Risiken haben sich jüngst dramatisch erhöht. «Als ich in den 80er und 90er Jahren in Südamerika war, haben sowohl die Guerilleros als auch die Todesschwadrone um die Gunst der Presse gebuhlt», sagt «Wall Street Journal»-Redaktor Richard Boudreaux: «Doch seit Beginn des neuen Jahrhunderts wissen wir, dass sie keine Zwischenhändler mehr brauchen.»
Einem Beitrag des Standards Editor der AP zufolge untergraben zwei Entwicklungen die Sicherheit von Medienschaffenden: Zum einen der Aufstieg und die Omnipräsenz sozialer Medien, die zu einer raschen Verbreitung von Fake News geführt und das Vertrauen in Medienschaffende als Vermittler von Fakten haben sinken lassen. Dazu gesellt sich der Kostendruck auf Nachrichtenorganisationen, der dazu führt, dass sie über weniger Mittel verfügen, um Journalistinnen und Journalisten im riskanten Einsatz zu verteidigen und zu beschützen.
Fehlender Respekt
Gemäss Frane Maroevic, dem Direktor des «International Press Institute» (IPI) in Wien, sind sogar Massnahmen, die in der Vergangenheit zum Schutz von Medienschaffenden dienten, inzwischen zu Risiken geworden: «Das Symbol für Presse, das Medienschaffende auf ihren Autos anbringen, die blauen Westen und die blauen Helme, die sie tragen …sie sind keine Symbole für Schutz mehr. Im Gegenteil, sie scheinen öfter zu Zielschreiben zu werden.»
Kerry Paterson, bei der AP für Sicherheit zuständig, kommt zum Schluss, dass heute nicht mehr gilt, dass Medienschaffende im Krieg Zivilisten sind oder dass sie einfach ihren Job ausüben dürfen sollten: «Wenn man die Rolle in Zweifel zieht, welche die Vierte Gewalt spielt, wenn man die Idee unterminiert, weshalb eine freie Presse wichtig ist, dann setzt man Leute buchstäblich grösserem Risko aus, Schaden zu nehmen.» Am wichtigsten wäre es laut Frane Maroevic vom IPI, den Respekt für Journalismus wieder herzustellen: «Das ist keine ideale Lösung, aber es ist glaub’ ich wichtig.»
Gezielte Zerstörung
Währenddessen kommt die Recherche-Gruppe «Forbidden Stories» in Zusammenarbeit mit 13 internationalen Nachrichtenorganisationen in einer Untersuchung mit Hilfe von Experten in Ballistik und Audio zum Schluss, dass es eine Strategie des israelischen Militärs in Gaza ist, «die Infrastruktur der Presse zu zerstören». Unter anderem haben die IDF am 2. November 2023 zweimal das Hochhaus attackiert, in dem sich die Büros der französischen Nachrichtenagentur AFP befanden und gleichentags das Gebäude angegriffen, im dem die «Palestinian Media Group» untergebracht war, die Live-Bilder aus Gaza sendete. Im Februar zerstörten die IDF das Press House, ein Zufluchtsort für Medienschaffende in Gaza. Dessen Direktor wurde von Schrapnell getötet, als er versuchte, mit seiner Familie in den Süden des Territoriums zu fliehen.
«Vom ersten Tag an ist es unmöglich gewesen, umfassend über den Krieg zu berichten», hat Diaa Al-Kahlout, Journalist in Gaza, gegenüber dem CPJ ausgesagt. Luftangriffe und Kommunikationsausfälle hatten die Übermittlung von Stories verhindert: «Was nach draussen drang, waren nur Stücke von Breaking News, und die Hintergrundgeschichten gingen verloren oder wurden unterdrückt, weil auf Medienschaffende gezielt wurde, es keine Sicherheit gab und Essenzielles wie Strom oder Internet und Arbeitsinstrumente wie Laptops fehlten. Al-Kahlout sass während 33 Tagen in israelischer Haft, während denen er psychischer und psychologischer Gewalt ausgesetzt war. Noch aber hat er überlebt – anders als Ismail al-Ghoul, Rami al-Rifi und 104 Berufskolleginnen und -kollegen in Gaza.