Lange Zeit konnte Mikati seine Konsultationen nicht zum Ziel bringen, weil es ihm nicht gelang, sechs Sunniten, sechs Schiiten und sechs Maroniten zu finden, die bereit waren, in seiner Regierung mitzuwirken. Dass diese Proportion eingehalten werden müsse, gilt als ein ungeschriebenes Gesetz der libanesischen Politik, seitdem deutlich geworden ist, dass nicht nur, wie früher, die Sunniten und die Christen in einer jeden libanesischen Regierung mitbeteiligt werden müssen, wenn sie Bestand haben soll, sondern auch die Schiiten. Die Unentbehrlichkeit der Schiiten geht letzten Endes darauf zurück, dass sie seit 1982, dem Jahr des ersten israelischen Krieges gegen Libanon, mit Hizbullah eine Miliz besitzen, die der offiziellen libanesischen Armee an Schlagkraft überlegen ist. Der zweite Krieg Israels gegen Libanon aus dem Jahr 2006 gab Hizbullah Gelegenheit, dies zu beweisen.
Der "Staatsstreich" der Schiiten
Am 12.Januar dieses Jahres hatten die Schiiten und die mit ihnen Verbündete Fraktion der Maroniten unter General Aoun die Regierung Hariri zu Fall gebracht, indem sie, unterstützt von dem Minderheitsblock der Drusen, die Regierung verliessen. Hariri sprach damals von einem gegen ihn gerichteten "Staatsstreich" der Schiiten.
Der Grund des Rücktrittes der von Hizbullah dominierten Allianz war der Dauerstreit um das Internationale Sondergericht, das nach Beschluss des Sicherheitsrates den Mord an Ministerpräsident Rafik Hariri, dem Vater des nun entmachteten heutigen Politikers Saad Hariri, vom Februar 2005 aufklären sollte.
Das Gericht hatte ursprünglich Syrien der Tat verdächtigt. Doch bevor es zu einer offiziellen Anklage kam, hatte es neue Indizien gefunden, die - nach zahlreichen Indiskretionen und Gerüchten - Leute von Hizbullah als Täter verdächtigen sollen. Eine offizielle Anklage ist noch nicht erhoben worden, doch falls es so weit kommt, wird sie sich dem Vernehmen nach gegen Täter aus der Hizbullah richten. Der Chef von Hizbullah, Nasrallah, und seine Sprecher sind seit geraumer Zeit zur präventiven Abwehr dieser zu erwartenden Anklagen übergegangen. Sie erklären unermüdlich, die Israeli und wohl auch die USA steckten hinter dem Anschlag auf Hariri. Sie suchten Hizbullah zu diskreditieren, indem sie der Schiitenmiliz die Schuld in die Schuhe schöben.
Libanon soll das Gericht boykottieren
Doch Hizbullah setzt sich nicht nur propagandistisch zur Wehr. Partei und Miliz der Schiiten sind auch eisern entschlossen, das Internationale Sondergericht zu boykottieren und dafür zu sorgen, dass der Libanon als Staat dies ebenfalls tut. Hariri, der Aufklärung für den Tod seines Vaters sucht und womöglich auf Rache an den Tätern sinnt, sorgte seinerseits dafür, dass die libanesischen Sicherheitsbehörden, solange er regierte, das Gericht unterstützten. Da nun anscheinend eine offizielle Anklageerhebung durch den Gerichtshof nahe bevorstand, entschloss sich Hizbullah, die Regierung zu Fall zu bringen. Der Umstand, dass die Drusen dabei mitwirkten - nachdem sie zuvor Hariri unterstützt hatten - ermöglichte ihnen diesen Schritt. Doch fünf Monate lang schien es, Hariris designierter Nachfolger, Mikati, vermöchte keine Koalition zusammenzubringen. Es gelang ihm schliesslich doch, weil - wie die libanesischen Beobachter glauben - Damaskus ein Machtwort sprach.
Die syrischen Demonstranten als Neuentwicklung
Angesichts der Erschütterungen des syrischen Regimes durch die Demonstranten, so sagen die libanesischen Beobachter, liege Damaskus mehr daran als gewöhnlich, im Nachbarland Libanon eine stabile und Damaskus zuneigende Regierung zu haben. Dies wurde nun dadurch erreicht, dass auf einen Fingerzeig aus Damaskus hin die libanesischen Schiiten darauf verzichteten, die Regel von 6+6+6 durchzusetzen und zuliessen, dass sie nur 5 Regierungssitze erhielten, die mit ihnen verbündeten Sunniten jedoch 7. Hizbullah ist abhängig von Iran für Waffen und Gelder und von Irans Verbündetem, Syrien, für den Transit der Waffen und Gelder nach Libanon.
Ein Frontwechsel Libanons?
Hizbullah feierte die neue Regierung vollmündig, indem die Sprecher der Schiitenpartei erklärten, mit seiner neuen Regierung sei Libanon aus dem Einflussbereich der "absteigenden" USA in jenen der "aufsteigenden" Anti-Imperialisten hinübergewechselt, welche sich den Amerikanern und Israeli entgegenstellten. Mikati selbst verhält sich jedoch viel diplomatischer. Er erklärt, seine neue Regierung sei eine Regierung aller Libanesen, es sei auch eine "rein libanesische" Regierung. Er hat auch schon versöhnliche Bemerkungen an die Adresse seines gestürzten Rivalen Hariri eingeflochten. Doch dieser weist sie bisher verärgert zurück. Mikati muss nach Möglichkeit vermeiden, Saudi Arabien zu verärgern. Die Saudis sind Feinde der Iraner, doch sie haben es bisher immer vermieden, auch als Feinde der Syrer aufzutreten, obwohl diese Verbündete der Iraner sind. Für alle libanesischen Sunniten sind gute Beziehungen zu Saudi Arabien von zentraler Wichtigkeit.
Mikati ist im Begriff, eine Regierungserklärung auszuarbeiten, die natürlich die Billigung aller Koalitionsmitglieder finden muss und daher ebenfalls recht diplomatisch ausfallen dürfte. Das heisst, er ist bemüht, es mit Worten allen Seiten recht zu machen. Doch der Streit um das Internationale Gericht bleibt bestehen. Hizbullah und Damaskus fordern, dass Libanon den Gerichtshof boykottiere. Mikati wird zunächst die Leute der Geheim- und Sicherheitsdienste Libanons auswechseln, die auf Weisung seines Vorgängers, Hariri, mit dem Gerichtshof zusammengearbeitet hatten, und er wird wohl auch Anstalten machen, den Finanzbeitrag zu streichen, den Libanon bisher an das Gericht leistete. Er wird wohl in den Kulissen zu erreichen suchen, dass der Gerichtshof seine Anklage nicht öffentlich vorlege. Doch er wird dabei auf wütenden Widerstand Hariris und seiner Parteigänger stossen. Ihre Seite wird sich, wie es in Libanon immer geschieht, von den Amerikanern unterstützen lassen. Beide Seiten werden um Saudi Arabien werben. Die Regierungsseite zählt auf Iran und auf Syrien. Doch das syrische Regime kämpft um sein eigenes Überleben und könnte daher eine schwankende Stütze werden.