Vor dem Klimawandel sind wir alle gleich. Aber einige Menschen sind gleicher als andere – «den» Menschen gibt es nicht. Es gibt farbige, arme, indigene, randständige, behinderte und was weiss ich für Menschen. Sie erfahren alle die Umweltkrise auf eine Weise, die durch ihre Identität bestimmt ist. So real wie der physische Klimawandel, so real sind die sozialen Gräben, die er aufreisst.
Der planetarische Anstieg der Durchschnittstemperatur betrifft Schwarze anders als Weisse. Und der ökologische Fussabdruck von Schwarzen unterscheidet sich stark von jenem der Weissen. Ein Artikel, 2009 publiziert in der Zeitschrift «Race, Poverty and Environment», fasst die Situation bündig zusammen: «Afroamerikaner emittieren durchschnittlich pro Kopf fast zwanzig Prozent weniger Treibhausgase als nicht-hispanische Weisse. Obwohl sie weniger verantwortlich sind für den Klimawandel, sind sie durch seine Folgen bedeutend verletzbarer als nicht-hispanische Weisse».[1]
«Intersektioneller» Umweltschutz
Das ist ein ernsthaftes Problem. Viele Menschen sind sowohl durch die Umweltkrise wie durch ihre soziale Stellung betroffen. Sie befinden sich im Schnittpunkt zweier «Ungerechtigkeiten»: der ökologischen und der sozialen. Und diese «Intersektion» von Krisenbetroffenheit und Gruppenzugehörigkeit führt zu einer neuen Art von Umweltschutz, dem intersektionellen. Den Begriff geprägt hat die junge amerikanische Umweltaktivistin Leah Thomas[2] in ihrem Buch «The Intersectional Environmentalist» (2022): «Die fehlende Repräsentation von (…) marginalisierten Stimmen hat zu einem ineffektiven Mainstream-Umweltschutz geführt, der nicht wirklich für die Befreiung aller Völker dieses Planeten eintritt. Soziale und ökologische Ungerechtigkeit werden von der gleichen Flamme genährt.»
Die Stimme eines neuen BIPoC-Umweltbewusstseins («Black, Indigene, People of Color») erhebt sich. Einer Generation, die endlich ernst macht mit der These des jüngst verstorbenen Wissenschaftsphilosophen Bruno Latour, dass die wichtigsten planetarischen Probleme «hybride» Probleme sind – solche also, in denen sich ökologische, ökonomische, kulturelle, soziale, politische Themenlinien überschneiden.
Identity first?
Das neue Umweltbewusstsein schafft freilich neue Probleme. Als zentral entpuppt sich das «Identity-first»-Argument selbst, die Perspektive «Für mich als X…». Sie schiebt sich vor die objektive Analyse der Situation. Umweltaktivistinnen wie Leah Thomas drehen allerdings den Spiess um. Auch die sogenannt «objektive» Umweltwissenschaft sei einem ganz bestimmten (weissen?) Paradigma verpflichtet. Dieses Paradigma beharrt darauf, ökologische und soziale Komponenten der Umweltproblematik strikt zu trennen. Das mag stimmen, ist jedoch nicht der entscheidende Punkt.
Warum? Weil wir immer vor einer konkreten Prioritätsfrage stehen: Hat der ökologische oder der soziale Blick Vorrang? Die Frage ist nur von Fall zu Fall beantwortbar. Angenommen, eine Fabrik kontaminiert die Wasserversorgung einer Stadt, die mehrheitlich von Schwarzen bewohnt ist, dann stellen sich sofort Fragen wie: Kümmerten sich die zuständigen Instanzen nicht sorgfältig genug um die Wasserleitungen? Handelt es sich um einen Fall von versteckter Diskrimierung, wenn Beschwerden der Bewohner abgewiesen werden? Gibt es eine Klüngelei zwischen Fabrikbetreibern und Stadtbehörden? Aber auch: Wie gesundheitsgefährdend sind die Substanzen im Wasser? Wie saniert man am schnellsten das Leitungsnetz? Welche Regulierungen sind für die Zukunft zu planen?
Ein typisch hybrides Problemnest. Und hier dürften die letzten, die technisch-wissenschaftlichen Fragen vordringlich sein. Die Wasserleitung lässt sich schneller flicken als das ungerechte soziale Gefüge der Stadt. Das bedeutet freilich nicht, dass man dieses Gefüge nun aus den Augen verlöre. Im Gegenteil: Aufmerksamkeit und Sensibilität für Probleme dieser Art sind jetzt geweckt und die Stadt könnte sich als Präzedens für andere Städte erweisen.
Technology first?
Es handelt sich hier um ein Best-Case-Szenario. Und es bestätigt natürlich den ingenieuralen Blick des Homo faber: Technology first! Das gilt im Guten wie im Schlechten. Ein Bericht der amerikanischen National Academies of Science, Engineering and Medicine aus dem Jahr 2021 trägt den unverfänglichen Titel «Das Sonnenlicht reflektieren (Reflecting Sunlight)». Er fordert einen 100-Millionen-Dollar-Einsatz für das Studium von Meereswolken-Aufhellung, stratosphärischem Aerosol-Einspritzen und Zirruswolkenausdünnung, von technischen Mitteln des Klimasteuerns also.
Das akzentuiert eigentlich nur unsere Zwickmühle: Über Dekaden hinweg trug Technologie unter den Bedingungen kapitalistischer Raubgier dazu bei, die Umwelt auszubeuten, und gleichzeitig sind wir von Technologie abhängig, um die Folgen dieser Ausbeutung zu reparieren. Aus dieser Zwickmühle befreit uns auch die «Befreiung aller Völker» nicht.
Wenn Umweltprobleme immer sozial und ökologisch «hybridisiert» sind, dann besteht die Crux in der richtigen Einschätzung: Was soll man als vordringlich behandeln? Wie soll man das eine tun und das andere nicht lassen? Der amerikanische Publizist Leon Wieseltier stichelte kürzlich: «Wenn wir die Heilung unserer Umwelt zugunsten der Heilung unserer Gesellschaft hinausschieben; wenn die Regulierung von Wasser und Luft darauf warten muss, dass zuerst die Vorurteile abgeschafft sind, dann werden wir alle sterben».[3] Das ist natürlich das altbewährte Slippery-Slope-Argument apokalyptischer Angstmache, aber Wieseltier legt den Finger auf den Punkt: Was soll man schützen, das Wasser oder die Menschen? Selbstverständlich beides.
Hybride Probleme sind tückisch
Und genau hier liegt der Hase im Pfeffer. Wo wir ein hybrides Problem eindeutig als ökologisch identifizieren können – Meeresverschmutzung oder Kohlendioxidkonzentration –, da sind die besten wissenschaftlichen und technischen Mittel opportun für die Lösung. Nur sind hybride Probleme in der Regel tückisch. Das heisst, sie sind nicht eindeutig, nur schon die Formulierung des Problems ist ein Problem. Was ist «das» Klimaproblem? Der Kohlendioxid-Ausstoss? Das ungebremste Wirtschaftwachstum? Die Dominanz des globalen Kapitalismus? Das Entwicklungsgefälle zwischen industrialisierten Ländern und Schwellenländern? Die Gefrässigkeit des «weissen» Lebenstils?
Je nach Prioritätensetzung sieht die Antwort anders aus. Ökologische Probleme lassen sich nicht «reduktionistisch» lösen. Eine «oberste» oder «letzte» Erklärungsetage fehlt. Die Suche nach Grundursachen (oder moralisch: Grundübeln) erweist sich als illusionär, weil jede solche Ursache sich als Wirkung anderer Ursachen herausstellt: Tückische Probleme sind Ursache-Wirkungs-Knäuel. Oder anders gesagt: Es gibt eigentlich nur Symptome, deshalb ist jede Problemlösung Symptombekämpfung. Was im Übrigen politische Prioritätsstreitigkeiten geradezu provoziert.
Das planetarische «Wir» – eine Illusion?
Das Axiom des Anthropozäns lautet: Die Natur gibt es nicht. Es gibt die Natur des Bauern, des Städters, des Tourismusmanagers, des Spiritualisten, des Künstlers, des Wissenschafters, die Natur der Wohlhabenden und der Mittellosen, die Natur von Monsanto und die Natur des WWF. Kurz: Die Natur ist im Kopf, in ihre Definition fliesst implizit oder explizit immer ein bestimmtes Bild ein, das wir uns von ihr machen: Arena von Dämonen, Plan oder Design eines Demiurgen, Maschine, Organismus, Algorithmus und riesiges Informationssilo, Quelle der Inspiration, ausbeutbare Ressource.
Aber nötigt nicht gerade der planetarische Notfall dazu, von partikularen Identitäten und Interessen abzusehen? Müsste er nicht ein «planetarisches Wir» in uns allen wecken? Tut er nicht. Verflixt an diesem «Wir» ist seine Abstraktheit. Wir alle sind gefährdet. Doch jedes Bemühen, dem «Wir alle» konkrete Gestalt zu verleihen, sieht sich umgehend vom Spaltpilz der Identität bedroht. Wie recht hat Bruno Latour: «Wir verstehen nichts von den ökologischen Problemen, wenn wir nicht zugeben, dass sie uns spalten.» Der Mensch – nicht «der» Mensch – ist nun einmal ein lokales Wesen, eingebunden in lokale geographische, ökonomische, politische, soziale, kulturelle Verhältnisse. Sie definieren den Horizont dessen, was er «Umwelt» oder «Natur» nennt. Daraus folgt: Sowenig wie es den Menschen gibt, sowenig gibt es eine «Natur für alle». Und damit sitzen wir endgültig in den Fängen eines Paradoxons: Wir erkennen ganz klar das Ziel – eine Natur für alle –, aber wir können es nicht erreichen.
Etwas fehlt
Grund zum Verzweifeln? Mitnichten! Fassen wir das Paradoxon als unsere neue Condition humaine unter prekären planetarischen Umständen auf, dann vermittelt es einen kämpferischen Appell: Etwas fehlt – eine Natur für alle. Wie Ernst Bloch einmal feststellte, ist «Etwas fehlt» die Kurzformel für alle Utopien. Eine Natur für alle ist die Antwort des Menschen auf die «Ungerechtigkeiten» der Natur. Sie ist die Utopie, die unsere Nachkommen am Leben erhält. Hoffnung herrscht.
[1] https://www.jstor.org/stable/41555165
[3] https://libertiesjournal.com/articles/the-future-of-nature/