Die grosse Frage dieser Wahl ist, ob es der Partei Erdogans gelingen wird, eine Zweidrittelmehrheit im Parlament zu gewinnen. Dies müsste sie, um - wie es Erdogan vorschwebt - der Türkei eine neue Verfassung zu geben. Die alte Verfassung, 1982 von den damaligen Militärherrschern geschrieben und seither mehrmals revidiert, hat ohne Zweifel ausgedient. Doch nur mit einer Zweidrittelmehrheit im Parlament, kann Erdogan eine neue durchsetzen, ohne sie vom Volk bestätigen zu lassen. Mit einer absoluten Mehrheit muss er den Entwurf einem Plebiszit unterstellen.
In der letzten Regierungsperiode hat die AKP Erdogans eine absolute Mehrheit von 341 Abgeordneten besessen, alle anderen Parteien und Unabhängigen zusammen kamen auf 209. Diesmal müsste die AKP 367 Mandate erringen, um die Zweidrittelmehrheit zu erreichen. Das ganze Parlament besteht aus 550 Abgeordneten.
Erdogan als Zugpferd seiner Partei
Die Wahlkampagne der AKP hat sich ganz auf die Person Erdogans konzentriert. Er hat ein überaus ehrgeiziges Entwicklungsprogramm für sein Land vorgelegt, das eine voll entwickelte Industriemacht auf das Jahr 2023 anstrebt. Dies ist das hundertste Jahr seit der Gründung der Türkischen Republik durch Atatürk. Gewaltige Projekte, besonders für die Weltstadt Istanbul, stehen auf diesem Programm.
Die Kritiker Edogans werfen ihm vor, er werde immer selbstherrlicher je mehr Erfolge er verbuchen könne, und seine politischen Gegenspieler warnen, er könnte, wenn er die Hände ganz frei bekäme, die Türkei in einen "islamischen Staat" verwandeln. Dies sei sein geheim gehaltenes aber wirkliches Ziel.
Die Opposition unter neuer Führung
Die wichtigste Oppositionspartei ist die CHP (Republikanische Volkspartei), wie schon die Partei Atatürks hiess. Die Volkspartei tritt unter einer neuen Führung und mit einem neuen Programm an. Ihr neuer Chef, Kemal Kilicdaroglu, mit Spitznamen Ghandi, weil er so bescheiden lebt, hat junge Politiker in die Wahlen geschickt. Sie werben nicht mehr, wie ihre Vorgänger für den bürokratischen Zentralismus von Ankara, der sich auf die Beamten, die Militärs und die Richter der Atatürkzeit stützte, sondern treten als moderne Sozialdemokraten auf, die sich gegen den islamischen Konservatismus der Regierungspartei auflehnen und die demokratischer und sozialer sein wollen als die Partei Erdogans.
Der wichtigste Streitpunkt ist nach wie vor die Rolle des Islams im öffentlichen Leben. Die Anhänger Erdogans fördern sie, jene der Volkspartei lehnen alle Verbindungen zwischen Staat und Islam ab. Ihrer Ansicht nach gehört der Islam ausschliesslich in die Privatsphäre. Der Umstand, dass der neue Parteiführer, Kilicdaroglu, aus einer alewitischen und kurdischen Familie stammt, gibt dem Gegensatz zwischen ihm und den Anhängern eines sunnitischen Islams, welchem die Erdogan-Partei nachlebt, einen neuen Akzent. Die Alewiten gelten vielen der strengen Sunniten als "Ungläubige", weil sich ihre volkstümliche Religionsrichtung weit von der Orthodoxie entfernt. In der Vergangenheit sind sie oftmals blutig verfolgt worden. Ihr Verhältnis zum Sunnismus ist daher ablehnend.
Ein neuer Vorschlag für das Kurdenproblem
In der Kurdenfrage, eine der wichtigsten und der schwierigsten der Türkei, hat die erneuerte Volkspartei eine neuartige Lösung vorgeschlagen: Sie möchte die ganze Türkei dezentralisieren, so dass eine jede Provinz, soweit sie es will, sich autonom organisieren kann, mit ihren eigenen Autonomiebehörden. Dieser neu zu schaffende Rahmen der Dezentralisierung würde den Kurden erlauben, in ihren Provinzen die von ihnen angestrebte Autonomie aufzubauen, ohne dass die türkischen Provinzen gegenüber den kurdischen benachteiligt würden. Spanien hat nach Franco auf diesem Wege seine Autonomieprobleme, die durch das Autonomiestreben der Basken und Katalanen gegeben waren, weitgehend zu lösen vermocht. Das ganze Land wurde in autonome Regionen unterteilt. Doch für die Türkei sind dies noch Zukunftsvisionen, weil die erneuerte und verjüngte Volkspartei in den gegenwärtigen Wahlen sich gegen Erdogan schwerlich wird durchsetzen können.
Die Ultranationalisten als Zünglein an der Waage
Die dritte Partei der Türkei, die ultra-nationalistische MHP (Partei der Nationalen Bewegung), ist in der Wahlkampagne mit mehr Aufmerksamkeit bedacht worden als die Hauptoppositionspartei, die erwähnte Volkspartei. Dies war der Fall, weil für das Ziel der Regierungspartei AKP, eine Zweidrittelmehrheit zu erreichen, viel vom Erfolg oder Misserfolg dieser dritten Partei, der MHP, abhängt. Wenn es ihr nicht gelingt, die 10 Prozent-Hürde zu nehmen, die in der Türkei für politische Parteien gilt, wird sie nicht ins Parlament zugelassen und ihre Stimmen werden proportional auf die zugelassenen Parteien verteilt. In diesem Fall bestünde eine gute Chance für die Regierungspartei, das Zweidrittelmehr zu erreichen. Wenn aber die Nationalistische Bewegung die 10 Prozent-Hürde überwindet, im letzten Parlament hatte sie 71 Sitze, stehen die Chancen Erdogans für ein Zweidrittelmehr schlecht.
Die Kurden als Sonderfall
Die Kurden sind ein weiterer Unsicherheitsfaktor. Erdogan hatte den Kurden echte Gleichberechtigung mit den Türken versprochen. Er hat ein paar kleine Schritte in dieser Richtung unternommen, zum ersten Mal wurde das Kurdische als Sprache beim türkischen Radio und in den Volksschulen zugelassen. Doch im Jahr 2009 kam es zu heftigen Spannungen zwischen den Kurden und der Regierung, die bis heute andauern, weil die PKK erneut Anschläge gegen die türkische Armee durchführte.
Die heute zugelassene kurdische Partei BDP (Demokratische Friedenspartei) wollte sich nicht ausdrücklich und klar von der PKK (Kurdische Bauern- und Arbeiter-Partei) distanzieren. Für viele Kurden und auch viele Politiker dieser Partei ist die PKK eine "Befreiungspartei", die viele Opfer für die Befreiung der Kurden erbracht hat. Die Regierung und die Armee der Türkei sehen sie als reine Terroristen. Auch die Amerikaner und die Uno stufen sie als solche ein. Diese Divergenz führte zu heftigen Stellungnahmen zwischen dem Regierungschef und den Kurden der Kurdenpartei BDP, und die Versöhnungsversuche schlugen fehl. Prozesse gegen Politiker der Kurdenpartei begannen. Sie wurden vom Staatsanwalt angeklagt, heimlich mit den Terroristen der PKK in Verbindung zu stehen.
In der Wahlkampagne warf die Kurdenpartei der Regierungspartei vor, sie habe ihre Versprechen gegenüber den Kurden gebrochen. Die BDP ist nicht als Partei in die Wahlen gezogen. Sie schickte ihre Anhänger als "Unabhängige" in den Wahlkampf. Dies weil für Unabhängige die 10 Prozent-Hürde nicht gilt, die für Parteien festgelegt ist. Nicht alle, aber doch viele Kurden werden für diese "Unabhängigen" ihrer Partei stimmen, wie viele von ihnen Mandate erlangen werden, ist abzuwarten. Dies wird sich ebenfalls auf die Partei Erdogans auswirken.