Die kritische Auseinandersetzung der amerikanischen Philosophin Susan Neiman mit der Wokeness-Bewegung hat eingeschlagen, misst man das dieser Tage an den prompten Reaktionen in den wichtigen deutschsprachigen Blättern. Das Buch ist eine Wohltat.
Die Autorin und Philosophin ist bekannt für ihr Engagement vor allem gegen die aus dem Ruder gelaufene deutsche Debatte um Israel und Antisemitismus. Jüdische Amerikanerin mit israelischem Pass, ist die langjährige Leiterin des Potsdamer Einsteinforums eine berufene Stimme, sich hierzu zu äussern.
Aus dem Ruder gelaufen
Das ist sie auch im vorliegenden Thema. Endlich, so seufzt man, endlich sagt hier eine Linke, was auch mit der Wokeness-Bewegung aus dem Ruder läuft. Eine Bewegung, die ja in der Linken ihre Wurzeln hat. Deshalb kommt die lauteste Kritik aus dem konservativen bis rechten Lager, und die kann sich breiten Beifalls oder auch nur billigen Applauses sicher sein.
Bei Susan Neiman, die sich ihr Leben lang vor allem mit der Aufklärung befasst hat, ist das anders. Sie setzt sich fundiert, engagiert, mit gewichtigen Argumenten und in ruhigem Ton mit dem Thema auseinander. Und das in sehr lesbarer Form. Das Buch ist keine Tirade gegen Cancel culture, sondern eine fast schmerzhafte Kritik an jener Linken, die Neiman einstmals als Verbündete im Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit erkannte, die sich aber mehr und mehr von linkem Denken und linken Anliegen entfernt hat.
Stammesdenken statt universales Engagement
Die Linke hat, wie Neiman ausführt, ihren Kerngedanken aufgegeben: den Universalismus, den Kampf um den sozialen Fortschritt für alle Menschen, wie ihn einst die Aufklärer postulierten. Stattdessen, so Neimans Argument, geht es der Woke-Bewegung von heute um einzelne Gruppen, die als Opfer definiert werden. In ihren Worten: um Stammesdenken, um Identitätspolitik. Fing es vor rund dreissig Jahren mit der begründeten Sorge um ausgegrenzte Menschen an, endet es heute «bei ihrer blossen Reduktion auf das Ausgegrenztsein».
Status leitet sich in diesem Denken inzwischen allein schon von einer elenden Herkunft ab. Neiman zitiert den US-Philosophen Olufemi O. Taiwo, der sagt, die Aufwertung des Traumas führe nicht zu sozialem Wandel, sondern zu einer Politik der Selbstdarstellung. Was wir heute ringsum und dauernd vorgeführt bekommen. Neiman sieht Autoritätsansprüche darauf begründet, was man in der Welt getan hat, und nicht darauf, was einem die Welt angetan hat. Sorge um ein Opfer sieht sie als Tugend, aber nicht das Opfersein als Tugend zu reklamieren.
Ein anderer ihrer Kronzeugen ist der verstorbene amerikanische Soziologe Todd Gitlin, der hier Interessengruppen am Werk sah mit dem Ziel, Vergünstigungen anders zu verteilen, nicht aber, die Regeln der Verteilung zu ändern. Auch hier klar der Gegensatz zu einer authentischen, zukunftsgewandten Linken, die eben diese Regeln verändern möchte.
Sind nur Opferstimmen authentisch?
Für Susan Neiman, die in ihrem Buch sehr weit ausholt und ausführlich die Entstehung der Aufklärung analysiert, war diese eine Protestbewegung gegen die herrschenden (absolutistischen) Verhältnisse. Diese Bewegung entwickelte die Idee einer Menschheit, in der jeder zu achten ist, und die auf Vernunft (und nicht auf Offfenbarung, wie in der Religion) gründet.
Dass unter den Aufklärern auch Rassismus oder Frauenverachtung vorkam, sieht Neiman ganz klar. Dennoch waren die Aufklärer einer grossen Fortschrittsidee verpflichtet und begründeten so eine neue Realität, wie zum Beispiel durch die Abschaffung der Folter. Auch wendeten sie sich gegen Kolonialismus und Sklaverei (im letzteren Fall mit den bekannten Ausnahmen amerikanischer Gründerväter wie Washington und Jefferson).
Abstruse Aneignungs-Ideologien
Neiman wehrt sich gegen die Behauptung, nur die Stimme des Opfers sei die authentische. Alles, was aus dem Süden komme, sei per se gut und alles andere kulturelle Aneignung. Gerade auch Kunst, so Neiman, sei nicht nur Sache eines Stammes. Schmerz und Freiheit, wie Kunst sie ausdrücke, sei eben gerade universal. Stammesdenken aber spreche der Kunst ihre befreiende Kraft ab.
Anneignungs-Ideologien sieht Neiman in gefährlicher Nähe zu Nazis, die sagten, nur Arier dürften deutsche Musik spielen. Beispiele unserer Tage sind etwa die Einwände gegen eine Helen Mirren, die als Nicht-Jüdin nicht Golda Meir im Film verkörpern dürfe, oder dass es antisemitisch sei, wenn dem Schauspieler in der Rolle von Leonard Bernstein die Nase verlängert werde. Dazu konnte man in «Haaretz» den berechtigten Kommentar lesen, jüdische Schauspieler dürften dann fortan auch keine Nichtjuden mehr verkörpern. Sie kämen in ziemliche Nöte.
Foucault und Carl Schmitt als ideologische Verführer
Als geistige Väter solchen Denkens einer fehlgeleiteten Linken sieht Neiman Michel Foucault und Carl Schmitt, die beide die Idee einer universalen Menschheit verachtet hatten, skeptisch waren gegenüber dem Fortschrittsdenken wie gegenüber dem Liberalismus – wenn auch aus unterschiedlicher Position. Für beide seien Forderungen nach Gerechtigkeit nur ein Deckmantel für machtgetriebene Interessen und neue staatliche Repression gewesen. Neiman jedoch sieht allein im Fortschritt eine Chance, menschliche Schicksale zu verbessern, auch wenn das Ideal verfehlt wird.
Den Denkfehler bei den Woken diagnostiziert sie darin, sich nur vermeintlich für Gerechtigkeit und Fortschritt einzusetzen. «Ohne Universalismus gibt es keine Argumente gegen Rassismus, sondern bloss einen Haufen Stämme, die um Macht ringen.» Die Aufklärer vermittelten demgegenüber viel stärkere Vorstellungen von Gerechtigkeit, Fortschritt, Solidarität.
Verzicht auf den Zweifel der Aufklärer
Man mag hier einwenden, dass sich wohl nur die intellektuelle Spitze der Woke-Bewegung mit Aufklärern oder mit Foucault und Schmitt beschäftigen, während die immer grössere Masse es eher bei ihren Vorurteilen und falschen Vorstellungen belässt, ohne sich um eine philosophische Fundierung zu bemühen. Die Woken, so Neiman, sind kolonisiert von rechten Ideologien, auch wenn sie von rechts am heftigsten angegriffen werden. Das verhindert dann auch eine gründliche Befragung eigener Haltungen. Woke, sagt sie weiter, reden vom Prinzip her wie Neoliberale, nämlich in beschönigender Sprache, weichgezeichnet, verschleiernd. Was auch auf das Gendern zutrifft, das für eine Besserstellung der Frauen nichts erreicht.
Für die Aufklärung hingegen war der Zweifel grundlegend. Nieman zitiert Lessing als Beleg: Ich ziehe die ewige Suche nach der Wahrheit der Wahrheit allemal vor. Während der Wokeismus meint, sie gefunden zu haben.
Susan Neiman: Links ist nicht woke. Hanser 2023, 174 S., Fr. 34.90