„Unter der Schirmherrschaft von S. H. Scheich Mohamed bin Zayed Al Nahyan, Kronprinz von Abu Dhabi und stellvertretender Oberbefehlshaber der VAE-Streitkräfte, zeichnet der Zayed Book Award Jürgen Habermas als ‚Kulturpersönlichkeit des Jahres 2021‘ aus“, vermeldete am 30. April 2021 das Komitee des Zayed Buchpreises. Doch drei Tage später erklärte der Geehrte, dass er den Preis nicht annehmen könne.
Die Frage, ob die nachträgliche Entscheidung von Jürgen Habermas, den Hauptpreis des Zayed Book Award nicht anzunehmen, gerechtfertigt oder gar notwendig war, ist kein moralisches Problem allein. Sicherlich mögen gute Gründe dafürsprechen, die Ehrung durch das Zayed-Preiskomitee anzunehmen, doch sind diese prinzipieller Natur. Die Gründe, die dagegensprechen, berühren hingegen die politische Beurteilung des Orts und Kontexts des Preises und sind damit weit weniger prinzipiell und moralisch. Gewiss, Moral und Politik sind oft eng miteinander verwoben, doch wie auch Kritiker der Habermas’schen Entscheidung zu bedenken geben, fallen Politik und Moral weit auseinander, weshalb aus ihrer Sicht es sogar naheliegend sein kann, einen Preis anzunehmen, dessen Stifter in keinerlei Weise den eigenen moralischen Massstäben entspricht.
Moral oder Politik
Bleiben wir für einen Moment noch beim Prinzipiellen. Zwischenstaatliches Handeln ist in hohem Masse voraussetzungsvoll, da es annehmen muss, dass der andere Staat dialogwürdig und dialogfähig ist, selbst wenn dessen Herrschaftshandeln den eigenen moralischen Grundsätzen widerspricht. Begründet wird dies meist mit übergeordneten Interessen. Diese können also die moralischen Grundlagen zwischenstaatlicher Beziehungen aus den Angeln heben.
Es handelt sich dabei nicht um eine Doppelmoral, sondern um den Verzicht einer moralischen Beurteilung. Genau diesen Verzicht klagen Potentaten ein, etwa wenn es um die Beurteilung der Unterdrückung der Uiguren durch die chinesische Volksrepublik geht.
Darüber ist schon oft gestritten worden, obsiegt haben fast immer jene, die „übergeordnete Interessen" geltend machen konnten und die die Macht hatten, diese Interessen durchzusetzen. Amnesty International kann ein Lied davon singen.
Realistisch gesehen liegt in internationalen Beziehungen die Macht beim Moralverzicht. Eine auf Moral aufbauende Interessenspolitik erscheint wie ein schwarzer Schimmel. Dies wirft das Problem auf, ob sich Kultur und Wissenschaft in ihren internationalen Beziehungen ebenfalls einen solchen Moralverzicht leisten können oder ob sie Staat und Politik dauernd daran erinnern müssen, ihren Moralverzicht zu überdenken. Gerade weil Wissenschaft und Kultur vielfach staatlich finanziert werden, stellt sich die Frage, ob dies zwangsläufig ein „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“ bedeutet oder ob gewissermassen als gegenläufige Absicherung die Wissenschafts- und Kulturfreiheit verfassungsrechtlich festgeschrieben wird.
Wissenschaft und die Wissenschaftsfreiheit
Ich würde meinen, dass Wissenschaft und Kultur aufgrund ihrer internen Räson berufen sind, den Moralverzicht in internationalen Beziehungen durch ihren Diskurs auszugleichen. Dabei geht es nicht darum, dass niemand mehr den akademischen Ruf an eine der vielen neuen Universitäten in den Golfstaaten annehmen soll. Im Gegenteil, solche Berufungen haben diese Universitäten massiv aufgewertet und haben subversiv, wie zurzeit in Katar gut beobachtbar, den staatlichen Gewalten gewisse Beschränkungen auferlegen können.
Die Verschränkung von Staat und Kultur bedeutet also nicht, dass die Kultur die Fortsetzung staatlicher Interessenspolitik mit anderen Mitteln ist. Eher würde ich annehmen, dass Kultur und damit auch die Wissenschaft die Verschränkung anerkennen, ohne auf ihre kritische Funktion zu verzichten.
Die staatliche Kulturförderung, und dazu gehören natürlich auch staatlich gestiftete Preise, sollten daher danach beurteilt werden, ob sie die Wissenschafts- und Kulturfreiheit entfalten hilft.
Die Einheit von Werk und Person
Die Wahl von Jürgen Habermas als Preisträger kam überraschend. Erstmals entschieden Jury und wissenschaftliches Komitee, jemanden zur „kulturellen Persönlichkeit des Jahres" zu wählen, der sich kaum mit der arabischen Welt befasst hat. Der Preis würdigt damit eher umgekehrt die Tatsache, dass sich die arabische Welt auch mit Habermas befasst hat. Diese Tatsache ist sehr erfreulich. Arabische Akademiker hatten das Werk von Jürgen Habermas schon seit den späten 1960er Jahren diskutiert, und seit den 1990er Jahren wurde es auch ins Arabische übersetzt. Sein Name wurde zum Signet einer deutschsprachigen Philosophie, die mit der in der arabischen Welt verbreiteten Rezeption einer „französischen Theorie“ konkurrierte. Der deutsche Gastlandauftritt auf der Buchmesse in Abu Dhabi, in deren Kontext der Zayed Book Award verliehen wird, war sicherlich der Hintergrund, warum das wissenschaftliche Komitee und die Jury den Deutschen Jürgen Habermas zum Preisträger kürten. Für Frankreich, das bis anhin die engsten kulturellen und wissenschaftlichen Kontakte zum Fürstentum unterhielt, war dies sicherlich eine kulturpolitische Niederlage.
Natürlich darf angenommen werden, dass das wissenschaftliche Komitee und die Jury aus eigener Überlegung den Preisträger bestimmt haben. Und ohne Frage: sie haben den Richtigen gewählt. Es ist aber anzunehmen, dass der Entscheid vom Kronprinzen, Muhammad Bin Zayid, abgesegnet wurde, immerhin ist der starke Mann der Vereinigten Arabischen Emirate der Schirmherr des Buchpreises. Es darf also angenommen werden, dass die Verleihung des Preises an Habermas im Interesse nicht nur der regierenden Fürstenfamilie Al Nahyan lag, sondern sich gut in das komplizierte machtpolitische Interessensgefüge des Kronprinzen einpasste.
Das staatliche Interesse an dem Geehrten
Und hier wird die Preisverleihung politisch. In Abu Dhabi sind kulturelle Anlässe wie die Buchmesse von der Herrschaftspolitik nicht zu trennen. Diese stellt den Kontext des Buchpreises dar, und folglich ist es zwingend, die mögliche Annahme des Preises in den Kontext dieser Herrschaft zu stellen. So mag es prinzipiell gute Gründe geben, Preise auch dann anzunehmen, wenn sie durch Regime gesponsert werden, die den eigenen moralischen Grundsätzen entgegenhandeln. Entscheidend für oder gegen die Annahme eines solchen Preises aber ist immer der Einzelfall. Durch die Beurteilung des Kontexts lässt sich ziemlich schnell feststellen, ob die Würdigung durch den Preis wirklich dem Preisträger gilt oder ob der Preisträger zur moralischen Legitimation des Stifters beitragen soll.
Es ist dieser Kontext, den Jürgen Habermas bei seiner anfänglichen Zusage zu wenig erwogen hatte. Was auch immer ihn persönlich entscheiden liess, den Preis nicht anzunehmen, wissen sicherlich nur Vertraute. Es wäre allerdings naiv anzunehmen, dass der moralische Druck, der durch den Spiegel Online mit dem Bericht von Dietmar Pieper („Hoch dotierter Bücherpreis aus Abu Dhabi Jürgen Habermas und die emiratische Propaganda“, 2.5.2021, 8:46) ausgeübt wurde, bei der Entscheidungsfindung keine Rolle gespielt habe. Immerhin erfolgte die Absage von Habermas nur wenige Stunden nach der Veröffentlichung dieses Berichts. Nur, so würde ich meinen, ist Jürgen Habermas souverän genug, seine Entscheidungen nicht von den Interessen einer „Pressure Group“ abhängig zu machen. Auch wird er sicherlich nicht abgewogen haben, welcher Ruf eher geschädigt würde: sein Ruf in der arabischen Öffentlichkeit oder sein Ruf in der westlichen Öffentlichkeit. Ich denke, er wird seine Entscheidung so getroffen haben, dass er den Voraussetzungen seiner eigenen theoretischen Anschauungen treu bleiben konnte. Dass Habermas hierzu einen Anstoss von aussen brauchte, würde ich nicht als Fall einer Cancel Culture bewerten.
Habermas als Sonderfall?
Warum aber das Gestürm, wenn Jürgen Habermas Preisträger ist, und warum gibt es dieses nicht bei den anderen Preisträgern? Und warum gab es keinen Aufstand, als die Mediziner Stephen Mark Strittmatter (USA) und Robin James Milroy Franklin (Vereinigtes Königreich) und der Physiker Stuart Stephen Papworth Parkin (Vereinigtes Königreich) den diesjährigen King-Faisal-Preis angenommen haben? Sind andere Preisträger weniger wichtig oder handelt es sich bei Jürgen Habermas um einen Sonderfall?
Tatsächlich kann argumentiert werden, dass Jürgen Habermas aufgrund der breiten gesellschaftlichen und politischen Rezeption mehr als bloss ein Vertreter einer akademischen Zunft ist. Sein Werk steht für eine Diskursethik und eine kommunikative Rationalität der Öffentlichkeit, durch die eine politische Partizipation gegenüber der Macht erfolgreich gestaltet werden kann.
Dieses Werk bedeutet aber auch eine Verpflichtung auf Gültigkeit. Genau diese wäre verloren gegangen durch die Weihen eines Preises, der sich aus dem Geist des Werks diametral zuwiderlaufender Quellen speist. Person und Werk verschmelzen hier in einer Weise, die bei anderen Preisträgern nicht zu beobachten war.
Das heisst nicht, Jürgen Habermas die Rolle eines modernen Moralapostels zuzuweisen und ihn danach zu bemessen, ob er seinen eigenen moralischen Setzungen treu bleibt. Die Preisvergabe wäre dann vom Verdacht einer politischen Vereinnahmung frei, wenn sie im Kontext einer sich entfaltenden, autonomen politischen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Öffnung stattfinden würde, wenn sie also als Ermunterung zur rationalen Rechtfertigung von Geltungsansprüchen einer Zivilgesellschaft gegen den Staat wirken könnte.
Das aber setzt voraus, dass der Preis von einer Institution gestiftet ist, die möglichst staatsfern agiert. Das schliesst nicht aus, dass Amtsinhaber bei der Preisverleihung eine Rolle spielen, wie dies zum Beispiel beim Nobel- oder Balzanpreis der Fall ist.
Dies ist kein Plädoyer für einen neuen Moralismus in den internationalen Wissenschaftsbeziehungen. Es ist ein Plädoyer für die Würdigung des Einzelfalls und des Kontexts, in dem er steht. Nicht alle Preisträger in der arabischen Welt stehen vor dem Problem, vor dem Jürgen Habermas stand. Andere hatten andere Probleme, etwa, wenn sie von Diktatoren für ihr schriftstellerisches Werk geehrt werden. Manche Geehrte fallen schnell in Ungnade, wie der Vordenker der Muslimbrüder, der Faisal-Preisträger Yusuf al-Qaradawi, der in Saudi-Arabien und den Golfstaaten inzwischen zur Persona non grata geworden ist.
Und entscheidend sind die Umstände und Kontexte, in denen die Preisvergabe erfolgt. Diese entsprechen derzeit in Abu Dhabi und den Emiraten in keiner Weise den theoretischen Idealen, die dem Werk von Habermas entnommen werden können. Wäre die Laudatio zur Preisvergabe mit dem Ausdruck einer Hoffnung auf eine zivilgesellschaftliche Öffnung verbunden gewesen, hätte man Habermas sogar zuraten können, ja müssen, den Preis anzunehmen. Doch die Realität der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in den sieben Fürstentümern stehen solch einer Empfehlung entgegen.