Unter dem einprägsamen Slogan „Ausschaffung krimineller Ausländer“ segelt eine weitere Volksinitiative. Sie ist unschweizerisch, würde unseren Rechtsstaat aushebeln und verstösst gegen menschliche Grundrechte. Sie ist aber nicht nur deshalb abzulehnen.
Der Röstigraben ist überwunden
Lange Zeit sprach man in unserem Land vom Röstigraben. Gemeint waren damit die divergierenden Empfindungs- und Denkgewohnheiten, mit denen Deutschschweizer und Romands auf das aktuelle, vorwiegend politische Geschehen reagierten. Letztlich ein freundeidgenössischer Begriff, dieser Röstigraben. Unausgesprochen verpackte er die Überzeugung, das Ganze enthielte eine Prise Wohlwollen und Situationskomik – eigentlich harmlos, eher neckend. Tatsächlich ist dieser symbolische Graben im Lauf der letzten Jahrzehnte mehr und mehr zugeschüttet worden. Das gegenseitige Verständnis zweier Sprachgruppen ist gewachsen. Im 21. Jahrhundert der Globalisierung wurde die nationale Zusammengehörigkeitsidee zusehends gestärkt.
Der Blochergraben wird ausgehoben
Doch seit bald 30 Jahren sind eifrige Handlanger damit beschäftigt, einen neuen, tiefen Graben durchs Land zu ziehen. Diesmal geht es nicht um eine eher humoristische Angelegenheit, sondern um eine ganz und gar ungemütliche. Oberirdisch sichtbar, unterirdisch eher im Geheimen, graben, pickeln, schaufeln linientreue Gesinnungssoldaten nach den Vorschriften ihres Oberkommandierenden. Dieser selbst spricht beschwörend von „der letzten Schlacht“, will für die biederen Schweizerinnen und Schweizer „endlich mehr Sicherheit schaffen“, denn – so der wort- und gestenreiche Führer: „die Schweiz befindet sich auf dem Weg zur Diktatur.“ Zwar alles Nonsens. Doch viele glauben ihm aufs Wort.
Ideologen kennen die Wahrheit
Der neue Graben, der sich mitten durch die Schweiz zieht, ist ein ideologischer. Unter Ideologie kann gemeinhin die „Vorstellung“ einer privaten Weltbetrachtung verstanden werden, die später oft in eine eigentliche Lehre mündet. Am Ursprung stehen nicht selten sehr persönliche „Erscheinungen“ – im Laufe der Zeit entwickeln sich daraus absolute Wahrheiten. Das eigene Weltbild des Ideenvaters prägt üblicherweise eine einseitig verzerrte Weltanschauung (Beispiel Nationalismus). Ideologen haben seit jeher Gleichdenkende, Jünger oder Profiteure in ihren Bann gezogen. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird der Begriff „Ideologie“ gemäss Wikipedia auch als „vor allem willkürliche oder absichtlich manipulierte Lehre bezeichnet, die auf einseitigen Interessen bestimmter Gruppierungen beruht […]“. Soviel zur Theorie.
Ideologien sind gefährlich
Am gefährlichsten ist wohl, dass Ideologien zu lange nicht als solche erkannt werden. Das Rezept, das an ihrem Anfang steht, geht so: man nehme die Verfassung, pflücke willkürlich, aber strategisch geschickt, einige Versatzstücke heraus und setze diese neu zusammen, damit sie als Träger eines ideologischen Gebildes dienen können. Diese Konstrukte werden dann so geformt, dass sie Weisungen, Vorschriften und Kritik ermöglichen, die unflexibel, stur, auch absichtlich polemisierend wirken. Sie entstellen somit die Gesamtheit des komplexen Textes einer Verfassung. Ideologen verstehen es, persönliche Heils- und Erfolgsrezepte zu verbreiten, die letztlich ihren Wünschen, Hoffnungen und Zielen entsprechen. Politische Ideologien definieren sich immer über einen populären Kern.
Eine heilsverheissende Ideologie verspricht ihren Anhängern etwa … „Sicherheit“. Erstaunlich und etwas beunruhigend ist die Tatsache, dass diese Botschaft oft überzeugt und fraglos hingenommen, „geglaubt“ wird. Es gibt auf der Welt genügend Beispiele von Ideologien, die ins Desaster geführt haben, solche aus dem letzten Jahrhundert und andere von brennender Aktualität.
Oft fungiert ein „Zahlmeister“ (Multimillionär oder Multimilliardär) mit quasi unlimitierten finanziellen Mitteln diskret aus dem Hintergrund. Und ausnahmslos gehört zum Kern der Ideologien, dass jemand zum Feind, zur Ursache allen Übels, ja zum Teufel oder einfach zum Gegner erklärt wird, den es gnaden- und furchtlos zu bekämpfen gilt.
Die Sicherheits-Ideologie , „natürlich aus der Schweiz“
„Mehr Sicherheit“ lautet also die Kernbotschaft dieser helvetischen Ideologie. Im Untertitel wird „für eine unabhängige Schweiz“ plädiert. Darüber steht nur das Volk, die einzige Autorität und gleichsam „Regierung“. Das Volk steht also über der eigenen Verfassung, den Gesetzen, der Justiz, den internationalen Vereinbarungen. Der Wahrheitsanspruch dieser dogmatischen Forderungen weist alle anderen Ideengebäude zurück; daraus resultiert die gewollte, permanente Oppositionsrolle. Der Architekt dieser Ideologiegebäudes sitzt in seinem bequemen Sessel im Wohnzimmer, von dem er einen herrlichen Blick über den Zürichsee geniesst. Die kostspielige Entourage besteht aus Ankerbildern – seine persönliche Wirklichkeit und jene des Malers bestätigend: Heile Welt des vorletzten Jahrhunderts.
Unser Chefstratege bezeichnet sich als „schweizerisch“ und tituliert das Handeln anders Denkender als „unschweizerisch“. Wenn Bundesrat oder Parlament nicht gleicher Meinung sind wie er und seine Gefolgsleute (genannt Schweizerische Volkspartei) lanciert er aus seiner Portokasse eine Volksinitiative, um die „Classe politique“ abzustrafen.
Eigentlich müsste man diesen Ideologen als Märchenonkel bezeichnen. Ob er Märchen erzählt oder Lügen in die Welt stellt, sei Leserinnen und Lesern zur Beurteilung überlassen. Als Beispiele dienen die Geschichten vom unwilligen Parlament, das „seine“ Initiativen nicht umsetze. Oder jenes von der Schweiz „auf dem Weg in die Diktatur“. Dabei stört sich der ehemalige Bundesrat nicht daran, wenn durch seine Volksinitiativen das Fundament der schweizerischen Demokratie untergraben wird – der Rechtsstaat und die Gewaltentrennung.
Schweizerische demokratische Regeln
Wir sind zu Recht stolz auf unsere Schweiz. Nicht wenige im Ausland beneiden uns um dieses einmalige, ausbalancierte Regelwerk des Politgebäudes. Um zu verhindern, dass eine einzelne Person zu viel Macht erhält, wird diese auf verschiedene Personen aufgeteilt. Wir unterscheiden dabei zwischen drei Gewalten: die gesetzgebende Gewalt (Legislative/Parlament), die ausführende Gewalt (Exekutive/Bundesrat) und die rechtsprechende Gewalt (Judikative/Gerichte). Mit Gewalt meint man dabei meistens Macht. Konkret bedeutet dies, dass keine Person zugleich Recht erlassen, ausführen und sprechen darf.
Für unseren Chefideologen ist dies eine persönliche Machteinschränkung. Er schreckt darum nicht dafür zurück, mit seinen Attacken und Initiativen den Schweizer Rechtsstaat zu gefährden. Er möchte die schweizerischen Grundsätze des rechtsstaatlichen Handelns am liebsten aushebeln. Idealerweise würde er selbst verkünden, wie die Bundesverfassung ausgelegt werden müsse.
Darüber, ob eine Initiative unvernünftig ist, kann man geteilter Meinung sein. Auch, ob sie unmenschlich ist, wird offensichtlich unterschiedlich beurteilt. Wenn sie undemokratisch ist, also unschweizerisch, muss die Sturmwarnung zu blinken beginnen. Wie heisst es doch in der Bundesverfassung, z. Bsp. in Art. 8: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“.
Ideologische, populistische und nationalistische Regeln
Es ist eine eigenartige Zeiterscheinung, dass in den westlichen Demokratien die zersetzenden, rechtsnationalen Kräfte der Wutbürger lautstark nach vorne drängen. Sie kritisieren, sie sehnen sich nach der starken Hand (in den USA die Hand am Colt), sie protestieren und demonstrieren. In allen Ländern sind es Chef-Ideologen (in Frankreich eine Ideologin), die die Fäden ziehen.
Nun ist es ja kaum zu übersehen, dass auch in unseren Demokratien oder der EU nicht alles optimal läuft, dass Regierungen Fehler begehen, dass das kapitalistische System Loser und Gewinner zurücklässt. Welcher Mensch ist denn fehlerlos?
Doch, Hand aufs Herz: Der Vergleich mit China, Russland, Indien, Südamerika, Afrika, dem Nahen Osten sollte uns daran erinnern, dass unsere westlichen Demokratien – seit der Renaissance und der Aufklärung – eine staunenswerte Entwicklung durchlaufen haben und Wertmassstäbe errichtet haben, die nicht mit Gold aufgewogen werden können. Unser Land liegt im Herzen dieser westlichen Länder und hat eine bemerkenswerte politische Tradition. Diese beruht auch auf gegenseitigem Vertrauen und einer gefühlten, gemeinsamen Identität der Bevölkerung.
Beides dürfen wir nicht mutwillig gefährden.