Wohl aber begann er nach seinem Studium an der Universität Bir Zeit bei Ramallah während der ersten Intifada (1987-1993) mit zivilem Widerstand gegen die Besatzung. Heute ist Jamal Juma Koordinator der palästinensischen Kampagne „Stop the Wall“, die sich gegen den Bau und den Verlauf der von Israel errichteten Sperrmauer und des Sperrzaunes zwischen Israelis und Palästinensern einsetzt.
Außerdem ist Jamal Juma aktiv bei „Boykott-Divestment-Sanctions“ (BDS). Im Rahmen dieser Kampagne gelang es ihm, den norwegischen Staatspensionsfonds davon zu überzeugen, seine Einlagen aus der israelischen Rüstungsfirma Elbit zurückzuziehen. Jamal Juma argumentierte, Elbit baue Überwachungsanlagen und Sicherungssysteme für die Trennmauer und den elektronisch gesicherten Sperrzaun.
Bau und Verlauf der Mauer, so argumentierten die Norweger daraufhin, seien mit den ethischen Grundsätzen ihres Landes nicht zu vereinbaren. Es war auch diese Aktivität, welche Israel veranlaßte, Jamal Juma zu verhaften. Jamal Juma saß knapp einen Monat in israelischer Internierungshaft.
Frei kam er wohl nur, weil eine ausgedehnte internationale Kampagne die Israelis zwang, Jamal Juma und einige andere damals festgenommene palästinensische Gefangene zu entlassen. Der internationale Druck drohte, Israel zu schaden, zumal sich sogar die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel – auch, nachdem ich einen Brief an sie gerichtet hatte - gegen die Inhaftierung Jamal Jumas ausgesprochen hatte.
Jamal Juma wurde am Abend des 14. Januar 2010, gegen 21 Uhr, fast nur mit Unterwäsche bekleidet, vom Gefängnispersonal bei kalten Temperaturen in der Dunkelheit ausgesetzt.
Auf meine Bitte und auf Drängen anderer Freunde hat Jamal Juma seine Erlebnisse im israelischen Verhörzentrum Mascobia niedergeschrieben. Diese Erlebnisse sind keinesfalls ein Einzelfall, wie ich auf Grund manch anderer Berichte bestätigen kann. Jamal Juma verfaßte diesen Bericht in englischer Sprache. Übersetzung: H.F.
Jamal Juma: Eine Geschichte menschlichen Leidens
Mein Erlebnis ist sehr einfach. Verglichen mit den Erfahrungen, die andere Gefangene in israelischen Gefängnissen gemacht haben, ist es sogar geringfügig. Dennoch glauben die Menschen, dass es eine wichtige Geschichte sei, die man erzählen sollte.
Wichtig oder nicht – wir sollten jede Geschichte erzählen, die mit politischer Einkerkerung und Repression durch Israel zu tun hat. Denn das Verkleinern und Normalisieren unserer Erfahrungen ist ein Teil einer Mentalität, die uns durch die Besatzung eingeimpft wurde. Wir leben normal, pendeln zwischen Arbeit und Haus, gehen täglich durch verschiedene Kontrollposten und sehen uns täglich verschiedenen Formen der Repression gegenüber.
Kaum jemand weiss, was vor sich geht
So fangen wir an zu denken, dass dies alles normal sei. Die Besatzung hat diese Mechanismen der Repression in unseren Köpfen normalisiert. Es wird schwierig, zwischen normal und anomal zu unterscheiden, und man fragt sich, ob es angesichts von Erfahrungen anderer, die weit schlimmer sind, Sinn hat, über ein Erlebnis zu sprechen, das weit weniger bedeutend ist. Als ich im Gefängnis war, wußte ich, dass ich ein Paradies erlebte im Vergleich zu dem, was andere erleiden mussten. Dennoch muß diese Geschichte erzählt werden, damit andere verstehen können, was es bedeutet, ein palästinensischer Gefangener unter den Bedingungen der Besatzung zu sein.
Der wichtigste Aspekt meiner Geschichte ist der Zeitpunkt. In diesem Jahr sind palästinensische Gefangene in heroische Hungerstreiks getreten, um gegen ihre Haft und gegen die unmenschlichen Bedingungen zu protestieren, unter denen sie leiden. Einige ihrer Geschichten werden jetzt erzählt. Ich kann mir vorstellen, was sie alles durchgemacht haben. Das ist ein Grund dafür, dass ich meine Geschichte erzähle – obwohl ich weiß, dass meine Leiden nichts sind verglichen mit dem, was andere Gefangene in israelischen Gefängnissen durchgemacht haben.
Indem ich meine Geschichte erzähle, überrascht es mich, dass tatsächlich kaum jemand weiß, was vor sich geht. Niemand weiß, was Palästinenser in israelischen Gefängnissen erwartet. Ich war noch überraschter darüber, daß es Rechtsanwälten und Organisationen wie dem Roten Kreuz, welche Gefangene regelmäßig besuchen, nicht erlaubt ist, in diese Gefängnisse hinein zu gehen und die Zellen zu sehen, in denen die Menschen eingeschlossen sind und gefoltert werden.
"Wir werden deinen Weg weitergehen"
Aber lassen Sie mich meine Geschichte von Anfang an erzählen.
Sie kamen ungefähr um eine Uhr nachts in mein Haus, um mich zu verhaften. Sie suchten nach Computern und Telefonen – alles Elektronische, das sie finden konnten, nahmen sie. Einer von ihnen hatte eine Auseinandersetzung mit meiner Tochter. Für meine Familie war es ein fürchterliches Erlebnis. Meine Tochter sah die Soldaten, wie sie durch unser Haus streiften und mich fesselten. So verbarg sie meinen Computer. Ein Soldat sah das Computerkabel und sagte: „Ich werde sie verhören.“ Er schloss mich in der Küche ein. Ich schrie in den nächsten Raum und forderte meine Tochter auf, ihnen den Computer zu geben. Als sie mich abführten, folgte sie uns und rief hinter mir her: „Vater, sie denken, dass sie Dich aufhalten können. Geh, aber wir werden Deinen Weg weiter gehen.“
Der Soldat sagte zu mir: „Es scheint, daß dieses Haus mehr als einen Besuch benötigt.“ Ich sagte ihm, er solle das, solange ich im Gefängnis sei, nicht tun. Er antwortete: „Denken Sie etwa, Sie werden in ein paar Tagen wieder herauskommen? Wir werden auf Ihren Schultern Jahre sitzen. Jetzt ist Ihre Akte groß genug, Sie für zehn Jahre, vielleicht noch länger, zu inhaftieren. Es mögen weniger sein, wenn Sie kooperieren.“ Dieselbe Taktik versuchten sie mehrmals, während ich im Verhörzentrum war.
"Sie können ihren Rechtsanwalt nicht sehen"
Als ich ankam sagte ich ihnen, dass ich schweigen würde, so lange ich nicht meinen Rechtsanwalt sprechen könne und solange sie mir nicht sagten, warum ich verhaftet sei. Sie antworteten nur, daß „ich für eine lange Zeit hier sein würde und deshalb gebe es keinen Grund für sie, sich zu beeilen“. Nachdem ich nicht sprechen wollte, schrien sie mich an. Ich erwiderte ruhig: „Schauen Sie, auf diese Art und Weise können Sie nicht mit mir sprechen.“ Sie sagten, ich könne meinen Rechtsanwalt nicht sehen, und ich sei vieler Dinge angeklagt, etwa der Kollaboration mit ausländischen Organisationen. Weiter tue ich illegale Dinge – etwa indem ich Israel delegitimiere und Demonstrationen gegen die Mauer organisiere.
Nach fünf Tagen sah ich meinen Bruder im Gericht. Es war ihm nicht erlaubt, mir die Hand zu geben oder sich mir zu nähern. Ich wollte nur nach der Gesundheit meines Vaters fragen. Bei anderen Gelegenheiten waren meine Frau und meine Kinder im Gericht, aber ich durfte mich ihnen nicht nähern. Ich musste aus der Entfernung winken.
Das grimmige gelbe Licht wurde nie ausgeschaltet
Das Verhörzentrum, in dem ich 28 Tage lang festgehalten wurde, heißt Mascobia und liegt in Jerusalem. Mascobia wurde auf dem Besitz einer alten Kirche gebaut. In Palästina ist es bekannt als das schlimmste Verhörzentrum in den besetzten Gebieten.
Vom ersten Moment an, in dem ich das Gefängnis betrat und in dem ich meine Kleider ablegte und die Gefängnisuniform anzog, fühlte ich, dass ich in einer anderen Welt war. Alles war total verschieden. Die israelischen Wächter knallen beständig Türen zu, sie schreien Menschen an, und sie machen ständig Lärm. Menschen schreien vor Schmerz, oder sie rufen ganz einfach nach einer Zigarette. Ich kam herein, und danach wurde ich durch diese andere Welt nur mit gefesselten Händen, gefesselten Füßen und mit Ketten zwischen meinen Händen und Beinen geführt. Meine Augen waren verbunden. Nur das Innere meiner Zelle und den Verhörraum durfte ich sehen.
Die Zellen sind graue Blocks von 2,5 zu drei Metern und einer Decke von nur 2 Metern Höhe. Die Wände sind rau und feucht. Das grimmige, gelbe Licht wurde niemals ausgeschaltet, und mir war es nicht erlaubt, die Zeit zu wissen. In der Zelle gab es auch eine schmutzige Toilette. Zudem gab es eine dünne Wand, die kaum jemanden vom Rest der Menschen verbarg, die hier mit mir waren. Es gab auch eine winzige Wasserstelle.
Nach 17 Tagen die Unterwäsche wechseln
Die Duschen lagen in einem anderen Raum, sie wurden stets in einem schmutzigen Zustand gehalten. Sofern sie danach fragen, dürfen sich die Gefangenen einmal täglich duschen. Doch wieder werden die Gefangenen komplett gefesselt und mit verbundenen Augen von Wächtern geführt. Als ich in einen Raum ging, der ein Bad darstellen sollte, war der Duschkopf in der Wand verborgen und so tief angebracht, dass ich in die Hocke gehen musste. Der Duschraum ist so feucht und so widerlich stinkend, weil man direkt über dem Abfluss steht, der auch eine Toilette ist. Ich fühlte mich, als ob die Exkremente noch dort seien, es war abscheulich. Die Seife, welche sie mir gaben, war so klein, dass sie viele Male so schnell auf meinem Körper schmelzen sollte, dass ich nicht einmal meinen ganzen Körper reinigen konnte. Nach fünf Minuten klopfen die Soldaten an der Tür. Als ich nach einer Klinge fragte, wurde mir etwas gegeben, das schon einmal benutzt worden war und das rostig war. Ich habe es niemals benutzt. Schlimmer noch, erst nach 17 Tagen erlaubte man mir, meine Unterwäsche zu wechseln.
Niemals hatte man einen Sinn für die Zeit – außer wenn sie das Essen um 7 Uhr früh, elf Uhr vormittags und vier Uhr nachmittags brachten. Manchmal war ich alleine, manchmal kam eine andere Person für ein paar Stunden oder für eine Woche. Das System der Zellenverteilung ist vollkommen zufällig. Um Informationen zu sammeln, werden oft Kollaborateure in jene Zellen gebracht, in denen Gefangene leben, die verhört werden.
Angekettet
Ich wusste nie, wann man mich zum Verhör bringen würde. So verbringt man jede Minute mit dem Gedanken, wann sie wohl kommen würden. Immer wenn ich eine Tür oder klirrende Ketten hörte, dachte ich, sie würden zu mir kommen. Wenn sie kommen, sind sie grob. Man befahl mir, aufzustehen, meine Jacke anzuziehen, dann wurden Arme und Beine gefesselt, meine Augen wurden verbunden. Eine Wache zog mich am Kragen voran, eine andere schob von hinten. Jedesmal ist es dasselbe.
Der Gefangene wird auf das Pult geworfen, der Verhörende sitzt an dem Pult gegenüber mit einem Computer. Meine Arme wurden zurückgestreckt und mit einer Kette am Boden hinter dem Stuhl befestigt. Diese unkomfortable Situation muss man manchmal stundenlang ertragen. Abhängig von der Stimmung des Verhörenden kann das eine Stund dauern, manchmal zwölf. Sie fragen gewöhnlich ob man Wasser, Tee oder Kaffee wünsche, aber viele weigern sich, irgend etwas von ihnen zu nehmen.
An der Decke hat die Zelle zwei Ventilatoren, die Luft ein- und auspumpen. Die Lufttemperatur ist stets instabil. Ich fühlte mich, als ob ich in einer Höhle sei. Die Matratze ist ein paar Zentimeter dick und aus Plastik gefertigt. Ein Kissen gibt es nicht. Die raue Decke, die man mir gab, ist niemals gewaschen worden.
In 28 Tagen zehn Kilo abgemagert
Alles ist darauf ausgerichtet, die Gefangenen psychologisch zu zerstören und sie an den Rand eines Nervenzusammenbruches zu bringen. Wenn man dünn ist, bekommt man große Kleidung. Dann müssen die Gefangenen versuchen, wie man sie zusammenhält. Den Jacken fehlen Knöpfe. Viele hygienische Wünsche werden nicht erfüllt – wie etwa eine Zahnbürste. Ich musste drei Tage auf eine Zahnbürste warten, ich dachte, Pilze wüchsen auf meinen Zähnen. Ich bekam nur einen borstigen Kopf. Ich musste meine Backen mit einer Hand herausziehen und die andere benutzen, um meine hinteren Zähne zu erreichen.
Das Essen wird in einer Plastikschüssel gebracht und ist kalt. Zum Frühstück fand ich ein Ei, mit seiner Schale gepresst zwischen zwei Brotscheiben, und ein kleines, schrumpeliges Stück Gurke. Manchmal bekommen die Gefangenen ein Stück Tomate und ein wenig Marmelade zum Frühstück. Und immer wird aus einer gebrauchten Coca-Cola Flasche lauwarmer Tee in eine kleine Plastikflasche geschüttet.
Oft wurde man unmittelbar nach dem Frühstück verhört. Zum Mittag gab es auf einem Tablett Suppe, Bohnen und vielleicht einen Apfel. Die Suppe besteht aus warmem Wasser mit ein wenig Pfeffer und ein paar Möhrenscheiben. Die Bohnen sind dick mit Tomatenpaste umgeben. Ich bekam nie einen Apfel. Das Abendessen war im Grunde wie das Mittagessen. Jeden Dienstag gab es ein Stück Hühnchen. Ich verlor zehn Kilogramm in 28 Tagen.
In einem schmutzigen Kasten eingesperrt
Raucher bekommen zwei Zigaretten am Morgen und zwei am Abend. Wenn sie rauchen wollen, müssen sie an der Tür klopfen, oder sie müssen schreien, um Feuer zu bekommen. Ich sah einen Mann in meiner Zelle, der die Filter herausnahm und dann die Zigaretten rauchte bis er seine Finger anbrannte.
Das erste Mal, dass ich aus Mascobia herauskam war, als ich ins Gericht ging. Das erste Mal fiel ich fast hin, als ich den Himmel sah und frische Luft atmen konnte. Wenn sie Gefangene transferieren, sind diese komplett gefesselt und in einen kleinen, schmutzigen Kasten eingesperrt, in dem sie ihren Transport erwarten. Im Januar waren die Ketten an meinen Beinen kalt und schmerzvoll. Auf dem Weg zurück nach Mascobia sperren sie die Gefangenen oft in ein vorübergehendes Transfer-Zentrum in Ramle. Alle Gefangenen werden in einen großen Raum gepackt, in dem sie ihre Transporte in andere Gefängnisse erwarten.
Mit Kakerlaken bedeckt
Ich erinnere mich an die erste Nacht, in der ich dort war. Unmittelbar, nachdem sie das Licht für die Nacht ausgeschaltet hatten, öffnete ich die Augen wegen des Geräusches der Kakerlaken und beobachtete, wie der Rahmen des Bettes über mir so dicht mit Kakerlaken bedeckt wurde, dass ich kaum den Rahmen sehen konnte. Ich nahem die Matratze und warf sie auf den Boden und schlief dort. Ein anderer Gefangener machte einen Witz mit mir und sagte „Wohin willst Du entkommen?“ Er sagte, das Wichtigste sei es, während des Schlafes den Mund zu schließen und zu vergessen, dass sie über deinen Kopf und in Deine Kleider kriechen.
Es gibt eine sehr wichtige Geschichte über einen jungen Mann zu erzählen, der mit mir im Verhörzentrum war. Er kam dem Dorf Ni`in, das sehr aktiv ist gegen die Mauer. Ich glaube, dass sie ihn mit voller Absicht in meine Zelle setzten. Ich stellte mich ihm als ein Journalist vor, und er erzählte mir, dass sie ihn anklagten, Steine geworfen zu haben. Er war 18 Jahre alt. Er wurde verhört wie alle Gefangenen dort. Und so sagte ich ihm, dass er vorsichtig sein solle mit allem, was er sage, denn „das einzige, dessen sie Dich anklagen können ist Deine Zunge“.
Denunzieren
Ich sagte: „Wenn sie Dir Bilder Deiner Freunde zeigen, so bedeute ihnen, daß sie das nichts angehe, denn sie können Dich nicht zwingen, über andere auszusagen.“ Über eine Woche hatten wir eine gute Beziehung. Einen Tag danach war er im Verhörzentrum, dann kam er zurück in die Zelle mit einer Art Schock im Blick. Er wollte nicht mit mir sprechen. Aber ich fragte ihn, was passiert sei. Er antwortete: „Du weißt, was passiert ist? Sie sagten mir, daß Du dafür verantwortlich seiest, daß wir hier sind.“ Ich fragte wieso. Und er fuhr fort: „Du bist verantwortlich für all die Proteste gegen die Mauer und Du hast uns Fallen gestellt, damit sie uns fangen.“
Ich sagte ihm zunächst, daß wir hier nicht allein seien, denn die Israelis hörten alles mit, was wir redeten. Dann sagte ich, daß ich niemanden hierher gebracht hätte, und ich erzählte ihm, ich sei Journalist, der nichts mit diesen Dingen zu tun habe. Er antwortete: „Sie zeigten mir Bilder meiner Freunde, ich aber weigerte mich, zu antworten. „Shhhh!, hatte ich ihn zu erinnern, nicht zu laut zu sprechen.“
Nervenzusammenbruch
Dann verschwand dieser Junge. Nach etwa 10 Tagen war ganz Mascobia in Aufruhr. Wachen liefen hin und her, und man hörte Geschrei. In diesem Gefängnis weiß man nie, was als nächstes passiert, aber dies hier war sehr anomal. Nach zwei Stunden wurde die Tür zu meiner Zelle mit Gewalt geöffnet, und man warf den Jungen zu mir. Er schluchzte. „Ich habe gefehlt, Abu Musa.“ Ich stieß ihn von mir weg, die Wachen begannen, ihn zu schlagen und warfen ihm vor, er habe begonnen, seine Zelle zu zerstören. Dann brachte ich sie dazu, ihn loszulassen. Er schien einen Nervenszusammenbruch zu haben. Das einzige, das er sagen konnte, war: „Ich habe gefehlt, Abu Musa.“ Ich beruhigte ihn, gab ihm Wasser und fragte, was geschehen sei.
Er erklärte, er sei zwei Tage mit einem alten Mann mit Bart in einer anderen Zelle gewesen. Der habe gesagt: „Ich denke, sie werden Dich morgen an einen anderen Platz bringen.“ Wir wissen heute, daß dieser Mann ein Kollaborateur war, der den Jungen für das präparierte, was dann kam: man brachte ihn in einen Raum voller Kollaborateure.
In diesen Räumen will man die Gefangenen glauben machen, daß alle schon Jahre lang im Gefängnis seien und daß alle Mitglieder von politischen Gruppen seien. Diese Kollaborateure zeigen sich als sehr nationalistisch und geben sich als Kämpfer für die palästinensische Sache aus. Man erzählte dem Jungen, er würde in ein normales Gefängnis transferiert werden. Er sagte, der Raum sei wie im Paradies gewesen - mit Fernsehen und einer eigenen Küche, in welcher man sein eigenes Essen kochen könne. Er sagte, es habe Milch, Honig, Tomaten, Obst gegeben und so viele Zigaretten, wie man wolle. Es war ironisch, daß er während seines Nervenzusammenbruchs lächelte.
Fatah, Hamas oder Volksfront?
Das Ganze ist eine künstlich aufgebaute Umgebung, in der die Gefangenen sich entspannen und ihre Situation vergessen sollen. Sogar als er mir alles erzählte, erfreute er sich der Erinnerung, wobei er ganz vergaß, was ihm gerade passiert war.
Nachdem er angekommen war, kam jemand zu ihm und sagte: „Ich bin dafür verantwortlich, jeden Einzelnen hier zu managen; es gibt Regeln hier, die Du kennen und respektieren solltest. Du mußt beim Saubermachen helfen. Wir wachen dann und dann auf, wir beten dann und dann, und wir gehen zu dieser Zeit ins Bett.“ Am zweiten Tage kam jemand zu ihm und sagte: „Ich bin verantwortlich für Erziehung und kulturelle Belange. Wenn Du mir sagst, was Du am liebsten liest, werde ich es Dir besorgen.“
Bevor er überhaupt in diese Zelle gebracht worden war, wurde er gefragt, zu welcher politischen Partei er zugeordnet werden wolle, da Fatah, Hamas und die Volksfront aufgeteilt seien. Er antwortete Fatah. Am dritten Tag kam ein anderer und sagte: „Wir erwarten den Besuch vom höchsten Fatah-Führer hier im Gefängnis. Und weil Du hier neu bist, wird er vielleicht mit Dir sprechen wollen und Du kannst Dich vorstellen.“
"Kannst Du mir Leute nennen?"
Am nächsten Tag also kam ein Mann mit Bart zu ihm und sagte: „Du bist neu hier. Also laß uns sprechen.“ Er nahm ihn beiseite, erzählte ihm, sein Name sei Abu Saleh, und er sei für 20 Jahre inhaftiert. Er erzählte dem Jungen, wie sie untereinander kommunizierten und wie das Gefängnis organisiert ist. Der Junge erzählte ihm von sich und sagte, er käme aus Ni`in.
Der Führer sagte: Wow, Ni'in. Gewöhnlich verfolgen wir die Neuigkeiten aus Ni'in, und wir wissen, daß ihr die einzigen seid, die kämpft. Wir sind sehr stolz auf euch, daß ihr den Kampf in schwieriger Zeit fortsetzt. Kannst Du mir irgendwelche Führer der Fatah in Ramallah nennen, die sich um Dich kümmern? Sorgen sie sich um Dich, wenn Du verwundest wirst oder wenn Du Probleme hast?“
Der Junge antwortete, es gebe Menschen in Ni'ìn, die litten und verwundet seien, aber sie seien frustriert und ärgerlich, weil ihnen die politische Führung keinerlei Unterstützung gewähre. Der Mann sagte: „Oh, sie sind Idioten, weil sie Dir nicht helfen. Was tun sie? Das ist nicht akzeptabel, und wir müssen dieses Thema aufbringen und ihnen sagen, daß die Menschen das alles nicht alleine tragen können. Kannst Du mit Leute nennen, mit denen sie in Ni`ìn in Kontakt treten können ?“
"Was ist mit den Menschen, die Steine werfen?"
Der Junge gab ihm ein paar Namen. Der Mann sagte: „Großartig. Was machen andere Leute? Was ist mit den Menschen, die Steine und Flaschen werfen, können wir ihnen Mobiltelephone besorgen oder etwas anderes, das ihnen hilft, mit ihrer Arbeit fortzufahren? Gib mir ihre Namen, damit wir ihnen helfen können.“
Der Junge gab ihm etwa 15 Namen. Der Mann dankte ihm. Dann kam ein Offizier und erklärte ihm, daß er wieder transferiert werde.
Von dort brachten sie ihn zurück nach Mascobia, direkt in den Verhörraum. Der verhörende Beamte sagte: „Wow, Du erzählst 15 Tage lang nichts. Und was ist mit diesen Namen?“ Er zeigte ihm die Liste mit Namen und fragte, wer jeder einzelne sei. Danach erlitt der Junge einen kompletten Nervenzusammenbruch, weil ihm klar wurde, daß er betrogen worden war. Er schrie den Beamten an und schüttelte an seinen Ketten. Wachen brachten ihn in seine Zelle, wo er geschlagen wurde. Er begann, alles in seiner Zelle zu zerstören. Die Wächter schlugen ihn abermals höllisch. Dann brachten sie ihn in meine Zelle.
Dies ist gerade einmal eine Geschichte, aber das passiert jeden Tag mit jedem Gefangenen. Wir können uns gut vorstellen, was mit all den Menschen geschieht, die für Jahrzehnte im Gefängnis sind.
Die Gefangenen brechen
Ich wurde während meines Aufenthaltes überhaupt nicht geschlagen. Aber die Atmosphäre dort und die Haftbedingungen sind dazu gemacht, die Gefangenen zu brechen. Deshalb ist es leicht, die Gefangenen zu manipulieren, wenn sie die fürchterlichen Verhältnisse von Mascobia verlassen haben. Aus diesen Gründen arbeiten viele mit den Kollaborateuren zusammen. Einige dieser Leute sind Offiziere, nicht Palästinenser, die perfekt Arabisch sprechen. Ich wurde stets in bodenständigem, palästinensischem Arabisch befragt.
Nach 20 Tagen konnten sie von mir nichts mehr herausbekommen. Sie sagten, ich würde für mehrere Jahre in ein Internierungszentrum gebracht. Ich wurde mit anderen Gefangenen zusammen getan. Ich erfuhr viele Geschichten von anderen Gefangenen. Was andere erlitten haben, ist viel schlimmer als das, was ich durchlebt habe.
Ein Mann wurde nach 13 Jahren aus dem Gefängnis entlassen. Danach brachten sie ihn gleich wieder zurück. Sie behaupteten, er sei für militärische Aktionen einer der politischen Parteien verantwortlich. Er wurde in einem so genannten „Bananen-Bett“ gefoltert. Sie fesselten seine Hände und Füße an den Boden, dann wurde sein Torso, sein Körper, auf dem Bananen-Bett nach oben gezogen. Bett nach Bett nach oben gezogen. In dieser (gebogenen) Position mußte er schlafen. Er erzählte, daß er, nachdem er vom Bett befreit worden sei, stundenlang auf dem Boden habe liegen müssen, bis sich sein Körper wieder an die Normalität gewöhnt habe.
Erlebnisse, an die Wand geschrieben
Andere Menschen haben ihre Geschichte an die Mauern geschrieben. Für einen dieser Männer hegte ich große Sympathie. Sein Vater starb, während er im Gefängnis saß, aber man erlaubte ihm nicht, zum Begräbnis zu gehen oder seinen Vater noch ein letztes Mal zu sehen. Als ich seine Geschichte an der Wand las, mußte ich weinen, denn ich machte mir während meines Gefängnisaufenthaltes ebenfalls Gedanken um meinen Vater.
Auch andere Gefangene schrieben ihre Erlebnisse an die Wände. Diese Erzählungen und Botschaften werden zu lebender Geschichte. Dies ist die Geschichte einer anderen Welt, eine Geschichte menschlichen Leidens, die sich Menschen sich nicht vorstellen können, die täglich zur Arbeit gehen und jede Nacht in ihren eigenen Betten schlafen. Manchmal denke ich an diese Geschichten und an das, was in den Gefängnissen vor sich geht, und an die Menschen, die so heroisch sind.
30 000 E-Mails
Schließlich und endlich konnten sie keinerlei Anklage bei Gericht gegen mich produzieren. Gewöhnlich aber können sie solche Gefangene mit einem Geheimdossier in ein Internierungslager schicken. Aber ehrlich gesagt – die gewaltige internationale Kampagne zu meiner Befreiung hinderte sie daran, mich in die Internierung zu senden. Ich bin den Menschen so dankbar, die hinter mir standen, die Briefe an ihre Diplomaten schickten – in Israel und in der ganzen Welt.
Sie gaben Presseerklärungen heraus, und einfache Bürger, Journalisten, palästinensische Knesset-Mitglieder kamen zu meinen Verhandlungen. Al-Jazeera kam zu einer der Verhandlungen. Ich war stolz darauf, daß so viele Menschen von internationalen Organisationen zu meinem Prozeß kamen. Einige Außenministerien schrieben Briefe an israelische Beamte, der Berichterstatter für Menschenrechte in Genf schrieb einen Brief, in dem er meine Sache unterstützte. 30 000 E-Mails wurden aus den USA gesendet, und mein Bild erschien auf Plakaten in Indien und in Europa.
Mein Fall wurde zum öffentlichen Fall im Volkskampf. Aber mein heißer Wunsch ist es, daß es diese Art der Solidarität auch für andere Gefangene gibt, die immer noch eingekerkert sind.