«Die Reise nach Reims» von Gioacchino Rossini kann man als eine Oper für die Ferien und über Ferienmissgeschicke der erheiternden Art bezeichnen.
Ort des Geschehens: Ein Kur- und Badehotel namens «Zur goldenen Lilie» in Plombières-les-Bains in den Vogesen. Hier hat sich eine bunte Gesellschaft von sich vergnügenden und aus ganz Europa stammenden vermögenden Müssiggängern eingefunden.
Unter ihnen eine römische «Improvisationskünstlerin», eine polnische Marchesa, eine modevernarrte französische Witwe namens Contessa di Folleville, ein malender Offizier, ein extrem eifersüchtiger russischer General, ein englischer Lord, ein Antiquitäten sammelnder Professor aus Italien, ein spanischer Marineadmiral – um nur einige der 14 Protagonisten der Oper zu nennen, die im Badehotel der Madama Cortese, einer Tirolerin, Station machen. Eigentlich wollen alle nach Reims reisen zur Krönung von Charles X, einem jüngeren Bruder von Louis XVI, der dort tatsächlich am 29. Mai 1825 ganz ancien-régime-mässig inthronisiert wurde, als hätte es nie eine Revolution und Napoleon gegeben.
Politische Restauration auf der ganzen Linie! Und in der Musik? Da herrscht Belcanto und italienischer Frohsinn, Ausgelassenheit und natürlich Verliebtheitskonflikte der unvermeidbaren Art. An turbulenten, aufs höchste alle Beteiligten irritierenden Missverständnissen lässt es die aufgeplusterte und in Selbstbedeutung schwelgende Adelsklientel gewiss auch nicht fehlen.
Die komische Oper lebt nicht von dramatischen Staatsaktionen und deren Protagonisten, sondern von schrulligen und ambitionierten Figuren, Profiteuren und Trittbrettfahrern, ganz am Rand der politischen Ereignisse. Sie bezieht ihre «raison d’être» aus Zufällen und Unfällen. So erfährt die Hotelgesellschaft, dass aus der Reise zu den Krönungsfeierlichkeiten nach Reims nichts wird, da man im Augenblick nirgends Pferde und Kutschen auftreiben kann. Aus der Not macht man eine Tugend und beschliesst, die Feier zu Ehren des Monarchen gleich im Hotel abzuhalten und – auf Einladung der Contessa di Folleville – am folgenden Tag mit der Postkutsche nach Paris weiterzureisen, um dort die Vorzüge der Hofnähe und des schmarotzerisch fremdfinanzierten «dolce far niente» voll weiter zu feiern und zu geniessen.
Rossinis Sommerspass
Als Rossini im August 1824 in Paris seine Karriere als Opernkomponist begann, hatte er seine letzte italienische Komödie im Gepäck, die dann auch dort im Théâtre-Italien am 19. Juni 1825 zur Uraufführung kam. Nach nur drei Vorstellungen zog Rossini das Werk aber wieder zurück. Etwa die Hälfte der Musik verwendete er für seine französischsprachige komische Oper «Le comte Ory», die im August 1828 in Paris Premiere hatte. Die dort nicht verwendeten Teile verschwanden in französischen und italienischen Musikalien-Archiven.
Erst in unseren Zeiten begann die Suche und die Rekonstruktion des verlorenen Sommerspasses von Rossini. Die Welt kennt «Il viaggio a Reims» richtig erst seit dem Jahr 1984, als zwei Rossini-Spezialisten, Janet Johnson und Philip Gossett, das Werk für ein um Claudio Abbado versammeltes Solistenensemble und für das Rossini-Festival in Pesaro akribisch wiederherstellten. Die Deutsche Grammophon hat die höchstkarätig besetzte Produktion damals aufgezeichnet. Was da zum Vorschein kam, war ein Werk von höchster Qualität mit Überraschungen von Szene zu Szene. Seither hat das Werk einen wahren Siegeszug durch die Welt angetreten und steht in Beliebtheit und Bewunderung auf gleicher Stufe wie die bekanntesten Rossini-Komödien «Il Barbiere» (1816) oder «La Cenerentola» (1817).
Rossini nennt das Werk «eine szenische Kantate», was natürlich für geplante Krönungsfeierlichkeiten besser passt, als hätte er es als «opera buffa» bezeichnet. Dennoch sind die auftretenden Figuren, ob Mann oder Frau, allesamt «buffoni» – eingebildete Narren, Witzbolde und lächerliche Gecken, denen Rossini musikalisch wunderbare «Charakterkleider» zu verleihen vermochte. Bei Rossini möchte man – obwohl dies zutrifft – freilich nicht sagen: «Hier kriegen alle ihr Fett ab!», weil alles so perlend leicht, quirlig, frech, unbeschwert und erbarmungslos die Schwächen jeder Person offenbarend vor sich geht.
Dass der Komponist am Schluss auch noch ein Huldigungspotpourri von europäischen Nationalhymnen einflechten konnte, wird gewiss den Auftraggebern nicht missfallen haben, solange die Glorie der «grande nation» am Ende im richtigen Licht aufleuchten konnte. Zu den besten Nummern des Werkes gehört diese Parade patriotischer Hymnen allerdings nicht.
Einzigartige Ensembles
Dafür hält die Oper aber einige ganz und gar exquisite Arien bereit: Gurgelkunst vom Herausragendsten für alle Stimmlagen, zum Teil auch im Wechsel mit Soloinstrumenten wie Flöte und Harfe. Das Überraschendste scheint Rossini aber doch wieder in die Ensembles verlegt haben zu wollen, insbesondere in eine magisch schöne Sextettnummer («Si, di matti una gran gabbia» – Ja, die Welt ist ein grosser Käfig voller Narren!). Oder – noch ausgefallener – in das absolute Paradestück der Oper: das «Gran pezzo concertato a 14 voci» – eine 14-stimmige Konzertnummer, in die Rossini alle Hauptbeteiligten einzubinden vermag und sie aufs Schönste herausfordert.
Inhaltlich ist dieses «Gran pezzo» der Augenblick, in dem die Herrschaften vom Boten Zefirino erfahren, dass der Plan, nach Reims zu reisen, definitiv fallen gelassen werden muss, denn es gebe am Ort und in der näheren Umgebung weder Pferde zum Mieten noch zum Kaufen. Man hält die Nachricht zunächst für einen schweren Schicksalsschlag, der allen das Herz schier zerspringen lasse. Doch dann bringt die Wirtin den Brief aus Paris mit der Einladung der Contessa. Vom «vermaledeiten Schicksal» lässt man sich den Spass nicht verderben. In Paris lässt sich schliesslich ja noch viel schöner festen und feiern als in Reims!
Was Rossini in den knappen 10 Minuten dieser Szene an parodistischer Trauer, an Klagetönen und sentimental geheuchelter Betroffenheit auf die Bühne bringt, ist einmalig, weil es kurz danach so frech umschlägt in Frivolität, unverschämte Vergnügungssucht, Spott und Schadenfreude. Alles greift unmittelbar ineinander, die Musik ersetzt die fehlenden Pferde und lässt uns an einen schnellen Ritt denken über die Untiefen menschlicher Leidenschaften. Kein «destino maledetto» soll den Menschen die Lebensfreude verderben. Dem Schicksal zum Trotz will man frohlocken, jauchzen und jubilieren. Der Ärger ist weggespült, Liebeskonflikte und Eifersüchteleien sind vergessen, die Devise für alle lautet: «Andiamo a giubilar!» Feiern wollen wir, und sonst nichts!
Dass Rossini auch selbst ein Lebenskünstler war, wie er im Buche steht, wissen wir aus vielen Anekdoten seines reichen Lebens. Es gibt Kochbücher, die seine Lieblingsrezepte zelebrieren. Beinah so fest wie seine Partituren. Denn unter allen Musikern und Komponisten der Welt war Rossini – insbesondere wo er komödiantisch sein durfte – einer der Begnadetsten!
Wir hören hier in Rossinis «Gran pezzo» das Ensemble der Mailänder Scala, in einer Produktion unter der musikalischen Leitung von Ottavio Dantone und in der Regie von Luca Ronconi aus dem Jahr 2009.
Rossini, Il viaggio a Reims, Gran pezzo concertato a 14 voci, Teatro alla Scala