Wenn es um Ballettkultur geht, denken wir vor allem an das 19. Jahrhundert. Weil das Pariser Publikum um keinen Preis mehr in die Oper wollte ohne die Erwartung eines Balletts – meistens im 3. Akt, denn da konnte man gut auch die ersten beiden ausfallen lassen.
Zwar wissen wir, dass es seit der frühen Barockzeit bereits Komponisten gab, die nicht ihre schlechtesten Werke gerade für tänzerische Unterhaltung zur Förderung körperlich orientierter Schönheit und Vollkommenheit in ihren Opern vorgesehen haben. Eine Oper, ob ernster oder komischer Art, konnte ohne getanzte Einlagen schon früh nicht die richtige Lösung sein.
In Frankreich etablierte sich seit dem Ende des 17. Jahrhunderts die Gattung der «Opéra-ballet», in der die getanzten Szenen eine besondere, geradezu zentrale Funktion hatten. Eigentlich konnte es keine «Europe galante» geben ohne Beine schwingende Tänzerinnen und ohne athletische junge Männer, die diese in höhere Sphären zu heben vermochten. Wie dies für das Theater optimal ausgestaltet werden sollte, war eine Frage, die über Jahrzehnte den Streit zwischen Anhängern italienisch-venezianischer oder aber französisch-pariserischer Orientierung befeuerte.
Exotismus plus Nationalismus
Das aufklärerische 18. Jahrhundert war weltorientiert und aufgrund inzwischen bekanntgewordenen «Weltumsegelungen» und Reiseberichten über fernab gelegene Länder auch extrem an exotischen Erfahrungen interessiert. Dies spiegelt sich in den allermeisten Kunstgattungen, wo plötzlich das Traditionell-Eigene ergänzt wird um das Auffällig-Fremde. Zumal das Orientalisch-Fernöstliche wirkte auf Einheimische wie eine Droge, die alle, die künstlerische Kreativität mit Neuerung, Überraschung und Staunen verbanden, geradezu unwiderstehlich ansteckte.
Im 19. Jahrhundert dann, nach dem Scheitern eines «napoleonischen Universalismus» wird die nationalistisch-imperialistische Orientierung in Europa immer dominanter. Auch die Kunst soll, bei allen Informationen und Impulsen, die inzwischen aus weltweiten Gegenden nach Europa gelangen, in den einzelnen Nationen doch die «Eigenprägung» nicht vernachlässigen. Kaum etwas belegt dies deutlicher, als gerade die Operngeschichte, in der es auf einmal zentral wird, Unterscheidungs- und Abgrenzungsmerkmale zu den Nachbarnationen zu betonen.
Wir verdanken diesem Eigensinn grossartige musikalische Schöpfungen. So sprechen wir zurecht von einer russischen, tschechischen, englischen, spanischen und bald einmal auch von einer amerikanischen Operntradition, die alle neben den Opern-Herkunftsländern Italien, Frankreich und Deutschland nicht schlecht bestehen. Die Überwindung des Nationalismus in der Kunst und die Rückkehr zu einem Internationalismus der Stile und Ausdrucksformen ist eine späte Frucht der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts, die man nur begrüssen kann.
Ursprungsdramen zeitgemäss aufbereitet
Dabei ist es interessant zu erleben, wie in der Vergangenheit weit zurückliegende Figuren und Ereignisse auf einmal in modern und fortschrittlich anmutenden Stilformen auf der Bühne erscheinen, was im Musiktheater in besonderer Weise unüberhörbar wird. Was ursprünglich, vorzivilisatorisch und undomestiziert mythisch ist, scheint für das Lebensgefühl der Moderne in besonderer Weise attraktiv zu werden. Man denke etwa an Igor Stravinskys «Le sacre du printemps» (1913), der intuitiv erfasste, dass mit einem heidnischen Opferritual der Zeitgeist mehr zu befeuern und zu «skandalisieren» ist als mit einem romantischen Märchenthema.
In dieser Hinsicht ist Albert Roussels selten gespielte Oper «Padmâvatî» ein sehr interessantes Beispiel. Roussel (1869–1937) war erst im zweiten Teil seines Lebens Künstler und Komponist. Auch wenn er als Jugendlicher zwar ersten Musikunterricht hatte, trat er zunächst in eine Kadettenschule der französischen Marine ein, wurde dort Leutnant und diente auf einem Schiff als Offizier, das ihn auf Meerreisen bis in den Fernen Osten brachte. 1894 verliess er wieder die Armee und nahm ein Kompositionsstudium bei Vincent d’Indy auf. 1908 heiratete er und unternahm mit seiner Frau eine Reise nach Indien und Südostasien, die schliesslich dazu führte, dass er zwischen 1913 und 1918 seine bekannteste Ballett-Oper schrieb.
In der Kriegszeit diente er vor allem beim Roten Kreuz als Fahrer und Transportoffizier. Danach folgte eine reiche musikalische Schaffensperiode, die Bühnenwerke, Orchesterwerke, Kammermusik, Klaviermusik und Lieder umfasst. «Pamâvatî» kam 1923 an der Pariser Oper im Palais Garnier zur Uraufführung. Das Libretto für Roussel schrieb Louis Laloy. Die Oper besteht aus 2 Akten, eingeteilt in insgesamt 7 Szenen. Es ist eine relativ kurze Oper von eineinhalb Stunden, bestückt mit Chor- und Orchesterszenen, Arien der Solisten und zahlreichen Balletteinlagen in Form von getanzten Pantomimen.
Ein mongolischer Sultan und eine indische Witwe
Die erzählte Geschichte spielt in Indien im Jahr 1303. Ein mongolisch-muslimischer Sultan namens Alaouddin überfällt die hinduistische Stadt Chittor im südindischen Bundesstaat Andra Pradesh, in welcher ein Maharadscha als regionaler König auf dem Thron sitzt. Er ist bereit zu verhandeln und die Stadt vor dem Angriff der Mongolen zu verschonen, wenn er die Frau des Maharadschas als Preis dafür erhält. Diese ist nicht bereit, ihren König und geliebten Mann Rata-Sen zu verlassen und dem fremden Besatzer, obwohl sich dieser inzwischen zur Religion der Brahmanen bekennt, willfährig zu sein. Um mit ihrem Mann auch im Jenseits vereint zu bleiben, ersticht Pamâvatî den eigenen Ehemann, obwohl sie weiss, dass Witwen nach der religiösen Tradition kein Lebensrecht mehr haben und auf einem Scheiterhaufen verbrannt werden.
Ein tragischer Ausgang also, geschuldet kulturell-religiös motivierten Riten und der Treueauffassung einer unbeirrbaren Frau, die auch an die weiter bestehende Liebe nach dem Tod glaubt. Am Ende der Oper wird der Mogul Alaouddin in der Krypta des Shva Tempels nur noch die rauchenden Überreste von Padmâvatî finden. Eindrücklich ist vor allem die Pantomime mit den aus dem göttlichen Shiva hervortretenden Geistern, 6 an der Zahl, die so bedrohlich wie einschmeichelnd scheinen, sodass man unsicher ist, ob es sich für die zum Selbstopfer bereite Frau um Vampire oder um Trostgestalten handelt. Roussel mischt oft wild tobende Töne kühn mit lodernd lockenden, was den Charakter dieser Pantomimen bis heute zu einer akustischen Rarität dieser Zeit macht.
Szenen aus der Ballett-Oper
Im Jahr 1983 erschien bei EMI-France eine Aufnahme des Werks, die unter den heute bestehenden aufgrund der Solisten, des Dirigenten, der Orchesterfarben und ihres französischen Flairs durchaus als mustergültig figuriert. Seit 2007 ist diese auch auf CD erhältlich.
Die Rolle der Padmâvatî wird von der phänomenalen amerikanischen Mezzosopranistin Marilyn Horne gesungen, den Ratan Sen verkörpert der Tenor Nicolai Gedda, Alaouddin hat die strahlend und noch unverbrauchte Stimme des Baritons José van Dam. Chor und Orchester des Capitole de Toulouse stehen unter der Leitung von Michel Plasson, ein Experte für französische Musikstile. Auf Youtube findet man einige Schlüsselszenen aus dieser Einspielung, allerdings mit der Inkonvenienz, dass man von einer Szene zur anderen mit Werbung konfrontiert ist, die man aber am Computer ja auch überspringen darf. Die Auswahl der Szenen vermittelt einen zumindest partiellen Eindruck des grossen Könnens eines erstaunlichen Tonzauberers namens Albert Roussel.
https://www.youtube.com/playlist?list=OLAK5uy_l3m8TXDVWXxY3Sx_4umXsEQv9ES-dfsB8