Der Ukraine-Krieg erschreckt und beschäftigt seit Monaten weitherum die Gemüter und animiert zur vertieften Auseinandersetzung mit Russland und seiner schwierigen Geschichte.
Vor einigen Wochen ist im «Journal 21» im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine der monumentale Roman «Stalingrad» des russischen Autors Wassili Grossman (1905–1964) besprochen worden, der 2022 erstmals unzensuriert auf Deutsch erschienen ist.
Von dieser Besprechung liess sich Mario Corti, der heute in den USA lebt, anregen, die beiden je über tausendseitigen Romane Grossmans über den Zweiten Weltkrieg, «Stalingrad» und «Leben und Schicksal», zu lesen. Seine Eindrücke und Gedanken zu dieser Lektüre und ihren politisch-biographischen Zusammenhängen hat er in einer konzentrierten Abhandlung zusammengefasst. Wir publizieren, leicht redigiert, diese Anmerkungen zu einem epochalen Werk – und ganz im Sinne von Cortis Schlusssatz: «History matters»:
Der Krieg in der Ukraine zwingt viele Zeitgenossen dazu, sich intensiv mit der komplexen ukrainisch-russischen Geschichte auseinanderzusetzen. Ich hatte diesbezüglich einige Bildungslücken, die ich jetzt langsam zu füllen beginne. Auf die Schriften des mir vorher nicht bekannten Wassili Grossman (1905–1964) hat mich Reinhard Meier, früherer NZZ-Auslandskorrespondent und heute Mitglied der Redaktion von «Journal 21», aufmerksam gemacht («Stalingrad und der Ukraine-Krieg»).
Ein wahrer Augenöffner
Ich bin ihm für seine Hinweise sehr dankbar, denn das Studium der Schriften von Grossman ist ein wahrer Augenöffner – insbesondere zum besseren Verständnis des tragischen Geschehens, das sich in diesen Tagen – einmal mehr – vor unseren Augen in Osteuropa abspielt.
Bis jetzt habe ich erst zwei im wahrsten Sinne des Wortes gewichtige Bücher von Wassili Grossman durchgeackert: «Stalingrad» (1274 Seiten) sowie «Leben und Schicksal» (1084 Seiten).
Weiterhin auf der Leseliste stehen «Die Hölle von Treblinka» sowie, auf Englisch, «Everything Flows» (Deutsch: «Alles fliesst») und, last but not least, die Autobiographie «A Writer at War», herausgegeben von Antony Beevor (Deutsch: «Ein Schriftsteller im Krieg»).
Zu den zwei grossen Wälzern von Grossman hat der an der Rutgers Universität lehrende Historiker Jochen Hellbeck ein wertvolles Vorwort (für «Stalingrad») bzw. Nachwort (für «Leben und Schicksal») geschrieben. Wertvoll deshalb, weil er die Dinge nicht zuletzt auch in zeitlicher Hinsicht klar einordnet.
«Stalingrad» erschien als Buch nämlich erst 1952, ein Jahr vor Stalins Tod – und dazu noch in stark zensurierter Form, unter dem Titel «Für die gerechte Sache». Weil «Leben und Schicksal» offensichtlich zu viel – und zu schroffe – Kritik am Stalinismus enthielt, wurde dessen Publikation zu Lebzeiten seines Autors verhindert; Chefideologe Suslow soll gesagt haben, das Buch werde «frühestens in 200 Jahren» erscheinen …
Unter abenteuerlichen Umständen wurde dann aber das Manuskript – lange nach dem Tod von Grossman – mit Hilfe des Satirikers Wladimir Woinowitsch in den Westen geschmuggelt. Die Originalausgabe (auf Russisch) erschien 1980 bei den Editions l’Age d’Homme in Lausanne, eine deutschsprachige Übersetzung erfolgte erstmals 1984.
In der Ukraine aufgewachsen
Die Lebensgeschichte von Grossman ist tragisch. Geboren in der Ukraine (Berditschew), wuchs er in einer Familie von säkularen Juden auf, die «auf Bildung und Wissenschaft eingeschworen waren, ihre sowjetische und auch russische Identität betonten und sich von den ’rückständigen‘ Traditionen ihrer Vorfahren distanzierten» (so Hellbeck).
Grossman war ursprünglich Ingenieur, mutierte dann aber zum Schriftsteller. Ab 1941 wirkte er gewissermassen als Starreporter in einer Funktion als Frontberichterstatter für den «Roten Stern»; zu dieser Zeit war er noch überzeugter Kommunist.
Die Mutter von Wassili wurde nach dem Überfall der Nazis zusammen mit mehr als zehntausend Juden an einem Septembertag im Jahr 1941 umgebracht. Das erfuhr er aber erst wesentlich später. Diese schlimme Tragödie hat ihn zutiefst getroffen und sein ganzes Wirken stark beeinflusst. Grossman verstarb im Alter von nur 59 Jahren in Moskau an Krebs.
Vergleich «Stalingrad» versus «Leben und Schicksal»
Die Lektüre von «Stalingrad» fiel mir leichter als jene von «Leben und Schicksal». Dies deshalb, weil «Stalingrad» über doch recht weite Strecken fast Sachbuchcharakter hat. Weil ich mich schon als Schüler stark mit dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion («Barbarossa») beschäftigt hatte, konnte ich dem Ablauf der Ereignisse recht gut folgen.
«Stalingrad» hört indessen ziemlich abrupt auf, noch vor der Kapitulation der Sechsten Armee der Wehrmacht. Es gibt zwar eine Art Übergang zu «Leben und Schicksal» (beginnend mit einem Beschrieb der schrecklichen Zustände in einem deutschen KZ), aber der geneigte Leser merkt, dass das Gesamtwerk nicht aus einem Guss stammt.
Viele Akteure im zweiten Buch sind aus dem ersten Buch schon bekannt. «Leben und Schicksal» enthält im Gegensatz zu «Stalingrad» viel mehr geradezu philosophische Einsichten, die mit klassischer «Frontberichterstattung» an sich nicht mehr viel zu tun haben.
Ein wichtiger Unterschied zwischen den zwei Büchern ist der Raum, der im zweiten Werk dem Antisemitismus im Allgemeinen und der Vernichtung des europäischen Judentums im Besonderen eingeräumt wird. Das ist sicher kein Zufall. Man darf nicht vergessen, dass die systematische, physische Ausrottung des europäischen Judentums erst nach Kriegsbeginn eindeutige Zielsetzung der Nazis wurde; die Wannseekonferenz zur berüchtigten «Endlösung» fand dann bekanntlich am 20. Januar 1942 statt.
Das Bewusstsein jüdischer Identität und der ganze Horror der Vernichtungsmaschinerie des Dritten Reichs nehmen in «Leben und Schicksal» breiten Raum ein. Ich habe Grossmans Bericht «Die Hölle von Treblinka» bereits etwas durchgeblättert – die Schrift ist nichts für schwache Nerven. Das Buch wurde übrigens im Nürnberger Prozess als Beweismittel eingereicht.
«Leben und Schicksal» ist ein packender, unter die Haut gehender Roman. Das Buch beschreibt viele Szenen, die auch einen erwachsenen Mann zu Tränen rühren können – so, ziemlich zu Beginn, der Tod des blutjungen, schwer verletzten Leutnants Tolja nach einer erfolglos verlaufenen Operation.
Meine Gattin meinte, meine Rührung komme davon, dass ich fast keine Romane lese – was zutrifft, mich aber kaum zu einer Änderung meiner künftigen Lesegewohnheiten umstimmen dürfte.
Zwillingsideologien Faschismus und Sowjetkommunismus
Das Buch besticht durch akribische Beobachtung und Schilderung des «realen» Lebens in der Sowjetunion – und zwar an allen Fronten, in allen Lebensbereichen und in allen Facetten. Der wahre Charakter des Stalinismus wird schonungslos entlarvt.
Dazu Grossman auf Seite 254: «Die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts wird als Epoche grosser wissenschaftlicher Entdeckungen, Revolutionen, grandioser sozialer Umwandlungen und zweier Weltkriege bezeichnet werden.
«Doch die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts wird auch in die Geschichte der Menschheit eingehen als Epoche der verbrecherischen Ausrottung riesiger europäischer Bevölkerungsschichten, basierend auf Gesellschafts- und Rassentheorien. Die Gegenwart schweigt darüber mit verständlicher Diskretion.»
Jochen Hellbeck meint dazu trefflich: «Leben und Schicksal» ist deswegen so brisant, weil der Roman nicht nur Hitlerdeutschland, sondern auch das stalinistische Regime als totalitär geisselt. Beide Staaten mobilisieren ihre Gefolgschaften durch Ideologien von betörender Kraft, beide praktizieren Antisemitismus und beide erscheinen als monströse Maschinerien, die Menschen in Arbeitslagern willkürlich zu Staub zerreiben.» (S. 1080)
In der Tat wird einem nach der Lektüre von «Leben und Schicksal» einmal mehr schmerzhaft bewusst, dass Faschismus und Kommunismus letztlich Kehrseiten der gleichen Medaille sind. Karl Popper benutzt in seinem Buch «The Open Society and its Enemies» das Begriffspaar «open versus closed society»: Sowohl Faschismus wie Kommunismus gehören in die Kategorie der «closed societies». Politische Auseinandersetzungen finden im Verborgenen statt, es gibt keine Transparenz. Man ist entweder für den Diktator, oder man ist erledigt.
Es entbehrt nicht der bitteren Ironie, dass ausgerechnet Putin – für den der Untergang der Sowjetunion bekanntlich die «grösste geopolitische Katastrophe des vergangenen Jahrhunderts» war, bei seinem brutalen und blutigen Feldzug gegen die Ukraine ständig die Gefahren des «Faschismus» beschwört.
Wer sich für das Leben unter Stalin interessiert, findet in «Leben und Schicksal» mehr als genug eindrücklichen Anschauungsunterricht. Dazu gehören unter anderem:
- Die verästelten Nachwehen der Oktoberrevolution
- Die Säuberungswellen, vor allem 1937/1938
- Die Überwachung durch einen allmächtigen Staat
- Die unerbittlich durchgesetzte Staatspropaganda
- Das Fehlen einer unabhängigen Presse
- Die unglaubliche und absolut willkürliche Bürokratie
- Die schrecklichen Zustände in den Gefängnissen
- Das Erfordernis einer «Bewilligung» für fast alles
- Die damit unvermeidlich verbundene Korruption
- Die verbreitete Mangellage und der ständige Hunger
- Der ausgeprägte Rassismus gegenüber «Nichtrussen»
- Die Gewohnheit, reichlich dem Alkohol zuzusprechen
- Und noch vieles mehr.
Im Juli 1992 flog ich mit einer Cessna 340 um die Welt. Auf der langen Strecke zwischen Helsinki und Anchorage durchquerte ich die 11 Zeitzonen des riesigen Landes. Acht Zwischenlandungen erfolgten in Moskau, Siktivkar, Nowosibirsk, Irkutsk, Bratsk Jakutsk, Magadan und Anadir. Obwohl ich leider kein Russisch spreche oder verstehe, wurde mir schon damals eines klar: das Gros der russischen Bevölkerung erwartet ihr Heil immer nur «von oben». Dass man sich vielleicht selbst aus Eigeninitiative aus dem Sumpf ziehen kann, war – jedenfalls 1992 – keine verbreitete Einsicht. Ich fürchte, dass sich in den vergangenen dreissig Jahren diesbezüglich noch nicht allzu viel geändert hat. Und mit der heutigen «Zeitenwende» rückt eine echte Erneuerung des Landes vermutlich in noch weitere Ferne.
«Krieg und Frieden» im Vergleich zu «Leben und Schicksal»
Nach Ansicht der meisten Historiker war «Krieg und Frieden» das literarische Vorbild für Grossman. Dieser war aber (im Gegensatz zu Tolstoi) ein echter Frontbeobachter; Tolstoi hatte am «Vaterländischen Krieg» (gegen Napoleon) nicht teilgenommen, weil er damals noch gar nicht auf der Welt war. Darüber stritten sich sogar Russen! (S. 286) Immerhin war er aktiver Offizier bei russischen Kriegen im Kaukasus und später im Krimkrieg.
Weil ich nach der doch recht schweren Kost der beiden Grossmanschen Riesenromane den Mumm nicht (mehr) hatte, mir auch noch Tolstois «Krieg und Frieden» anzutun, kann ich mir in Bezug auf den Vergleich kein Urteil erlauben. Es scheint aber so zu sein, dass Tolstoi einiges weniger pessimistisch war als Grossman – was nicht zu erstaunen vermag.
Versuch einer Gesamtwürdigung
«Leben und Schicksal» ist ein aufwühlendes Werk. Man muss staunen, wie es der Autor fertigbrachte, lange vor der Erfindung von Computern einen so langen und komplexen Text zu schreiben. Wie behält man die Übersicht? Es gibt ja wahrlich keinen Mangel an handelnden Personen, Ereignissen und sich überschneidenden Zeitabläufen. Man stelle sich vor, man müsse so etwas selbst schreiben – und zwar mit Bleistift oder Feder und Papier oder höchstens mit einer einfachen Schreibmaschine …
Die Lektüre der Schriften von Grossman ist arbeitsintensiv und anspruchsvoll. Aber sie lohnt sich, man muss einfach diszipliniert vorgehen. Für den Alltagsleser, der sich von Fernsehen, Social Media und «texting» ernährt, sind die beiden grossen Bände allerdings nicht zumutbar.
Offenbar ist der Band «Alles fliesst» verdaubarer. Ich habe dieses Buch nun in englischer Übersetzung («Everything Flows»). Es scheint so zu sein, dass diese Schrift – an der Grossman bis zu seinem Todestag arbeitete – weniger aufwendig zu lesen ist als die beiden Grosswerke. Die Taschenbuchausgabe umfasst nur 253 Seiten.
Man muss sich auch «nolens volens» mit dem recht anspruchsvollen Stil des Autors zurechtfinden. Die Mühe lohnt sich jedoch, denn Grossman hat hervorragende Qualitäten:
- Er ist ein bemerkenswert gebildeter Mann, und zwar in sehr vielen Bereichen (Physik, Geschichte, Gesellschaft, Literatur, Industrie, Militär etc. etc.).
- Er strahlt eine tiefe, für mich nicht gespielte, glaubwürdige und bewundernswerte Menschlichkeit aus.
- Er hat trotz allem seinen Glauben an «Das Gute im Menschen» (Anne Frank) nicht verloren.
- Er kann in seinem relativ kurzen Leben auf fast unglaubliche Geschehnisse zurückblicken, die er an der Front und nicht etwa vom Lehnstuhl aus wahrgenommen hat.
- Seine profunden Einsichten haben in meinen Augen nichts von ihrer Relevanz eingebüsst – ganz im Gegenteil: «History matters».
*Hilfreich im Sinne einer Gesamtübersicht ist dabei ein Werk von Harvard Professor Serhii Plokhy: «The Gates of Europe – A History of Ukraine» (Basic Books New York, 2015/2021.)
Nützlich ist auch «A History of Twentieth-Century Russia», verfasst von Robert Service, Professor an der Universität London (Harvard University Press, 1997)