„Unter der Brücke träumt/ ein Kind vom Fliegen“, sang er in seinem „Wiegenlied für ein obdachloses Kind“: „Schlafe, mein Kind… Vier andere Kinder/ werden dich warmhalten.“ Er sang über den „Bergmann“, über den „Bauern“, vertonte Pablo Nerudas Gedicht „Aquí me quedo“ (Hier bleibe ich). Er schrieb ein Lied über und für Angelita Huenumán, eine Mapuche-Indianerin, die er in der Einsamkeit der Hügel, Wälder und Seen von Arauco kennenlernte, und die ihm eine „außerordentlich schöne Wolldecke“ für die kalten Wintermonate schenkte. Er sang Volkslieder, Balladen und schließlich auch ein „Manifiesto“:
„Ich singe, weil die Gitarre
Gefühl und Vernunft hat…
…Mein Lied ist Gerüst,
um die Sterne zu erreichen…“
Eine Hommage an Violeta Parra, die große Dame des Nuevo Canción, der Neuen Chilenischen Singbewegung. Sie war kreuz und quer durch Chile gezogen, hatte die Lieder der Landbevölkerung wiederentdeckt und ihnen ihren Platz in der chilenischen Folklore zugewiesen. Sie komponierte selbst – Lieder wie „Gracias a la vida“, das zur Hymne für Generationen wurde – und beeinflusste eine ganze Generation lateinamerikanischer Komponisten wie Victor Jara.
Nach dem Elend Hoffnung
45 Jahre alt wurde der Autor, Komponist, Sänger, Gitarrist, Theaterregisseur, Universitätsprofessor Victor Jara, der 1938 in einer Adobehütte auf einem Landgut, wo seine Eltern unter feudalen Verhältnissen, vergleichbar der mittelalterlichen Lehnsherrschaft arbeiteten, zur Welt gekommen war. Einmal im Jahr gab es in der Hütte Fleisch. Als er 13 war, starb seine Mutter, und die Familie zerbrach. Eine arme Familie gab ihm einen Schlafplatz, und Victor trug anderen Leuten Säcke und Bündel auf den Markt, um sich ein Essen und den Schulbesuch leisten zu können. Er schaffte es sogar an die Universität.
„Am 4. September 1970 gingen wir ins Zentrum“, erinnerte sich seine Witwe später, die frühere englische Tänzerin Joan Turner, „und warteten auf die Wahlergebnisse. Sie hofften auf einen Wahlsieg der Unidad Popular, der Volksfront, unter dem Sozialisten Salvador Allende, „weil die großen Häuser dunkel waren; die Rolläden waren heruntergelassen. Normalerweise waren sie auf den Straßen, tut, tut, tut, mit ihren großen Autos, und feierten.“
Und dann wurde es wahr. Die Unidad Popular hatte gewonnen. Victor Jara schrieb ein Lied: „Früher, wenn du Geld hattest, dann nannten sie dich einen Herrn, jetzt genügt es zu arbeiten, um compañero genannt zu werden.“ Er war „glücklich, in diesem Augenblick zu leben.“ Doch bald schon „hörte man von den Geheimdokumenten der ITT (eine US-Telefongesellschaft), aus denen ihr Komplizentum mit der CIA klar hervorging“, erzählt Joan Jara. 1973 sollte „das entscheidende Jahr werden.“ Im März wurde Allende mit noch mehr Stimmen als bei seiner Wahl in seinem Amt bestätigt. Am 29. Juni scheiterte ein erster Putschversuch der Militärs. Von einem ihr bekannten Luftwaffenoffizier, der kurz zuvor aus Washington zurückgekommen war, erfuhr sie: „Keine Sorge, nächstes Mal wird alles besser organisiert sein.“
Doch die Hoffnung starb
Und dann brach der 11. September an. „Im Radio hörten wir die dringende Aufforderung an alle Arbeiter, sich an ihren Arbeitsplätzen einzufinden, und Victor ging weg zur Universität. Das war sein Arbeitsplatz. Als er ankam, rief er an: ‚Alles in Ordnung, ich bin da.‘ Zu diesem Zeitpunkt begann die Bombardierung der Moneda (Amtssitz Allendes). Victor rief mich am Nachmittag wieder an, irgendwann gegen halb fünf. Er sagte, dass er in der Universität bleiben müsse, wegen der Ausgangssperre. Er sagte, wie sehr er mich liebe, ich solle die Zähne zusammenbeißen, und verabschiedete sich. Das war das letzte Mal, dass ich mit ihm gesprochen habe.“
Am 12. September, „am Mittwochnachmittag wartete ich darauf, dass Victor am Tag nach der Aufhebung der Ausgangssperre nach Hause käme – er kam nicht nach Hause… Aber in Fernsehen wurde bekannt gegeben, dass die Technische Universität eingeschlossen und gestürmt worden sei, und dass eine große Zahl von Extremisten gefangengenommen worden sei – und natürlich fing ich wieder an zu telefonieren und zu versuchen herauszubekommen, ob Victor noch in der Universität gewesen sei, ob es ihm gelungen sei, herauszukommen. Ich erfuhr, dass es ihm unmöglich gewesen wäre, herauszukommen. Später hörte ich, dass die Universität schon zu der Zeit, als er mich am Dienstag anrief, (von Militär) eingeschlossen war.“ Schließlich erhielt sie einen Anruf von „jemandem, der im Stadion gewesen und entlassen worden war“ und ihr eine Nachricht von ihrem Mann überbrachte. „Sie besagte, dass Victor glaube, dass es ihm nicht gelingen werde, aus dem Stadion zu herauszukommen – dass sie ihn erkannt hätten – dass ich die Zähne zusammenbeißen und mich um die Kinder und mich kümmern solle….
Folter und Mord
… Ich weiß, dass von Beginn an, als alle Studenten und Professoren der Technischen Universität mit den Händen hinterm Kopf auf dem Boden lagen, dass Victor von diesem Augenblick an schon als äußerst ‚verhasste‘ Person erkannt war und besonders brutal behandelt wurde. Ich weiß, dass er seinen Mitgefangenen eine Quelle der Zuversicht war. Ich weiß, dass er dort gesungen hat. Ich weiß dass sie ihne zusammengeschlagen haben. Ich weiß, dass sie ihm die Finger und die Handgelenke gebrochen haben. Ich weiß, dass sie ihm befohlen haben zu singen - Canta! – und ihm danach die Zunge herausgeschnitten haben.“ Dann hängten ihn die Schergen des Militärregimes an den Händen auf, „bis die Hoffnung Südamerikas gestorben und erlöst war“, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung zehn Jahre später in einem bewegenden Nachruf anlässlich eines Gedenkkonzertes für Victor Jara in der Frankfurter Alten Oper schrieb.
Fünf Tage nach dem Putsch erfuhr Joan, dass der Leichnam ihres Mannes im Leichenschauhaus gefunden und identifiziert worden sei. Sie könne ihn abholen und beerdigen. Ein "junger Mann bat mich, mit ihm zu kommen", erzählte Joan später. "Da ging ich mit ihm durch die Seitentür, und ich sah das Leichenschauhaus von Santiago – angefüllt mit Hunderten von Leichen chilenischer Arbeiter und Studenten, junger und alter, die Hände noch auf dem Rücken gefesselt. Alle von Maschinengewehrkugeln durchbohrt. In der Masse von Leichen konnte ich Victors Leichnam nicht finden. Ich musste in das zweite Stockwerk, das Büro des Leichenschauhauses, und auch da lagen Reihen von Leichen. Und unter diesen fand ich Victor. Einen schrecklich zusammengeschlagenen, blutigen Leichnam..."
"Der Leichnam ... mit verstümmelten Händen und entstelltem Gesicht wies 44 Einschüsse auf", sollte der sogenannte "Rettigbericht" der Wahrheitsfindungskommission 20 Jahre später feststellen.
Als sich die Nachricht von Victor Jara's Tod herumsprach, riskierte ein Unbekannter sein Leben, als er im militärisch kontrollierten Fernsehen einen Vers aus seinem Lied "Anrufung eines Bauern" in einen amerikanischen Film einblendete:
“Befreie uns von dem, der uns beherrscht im Elend.
Bring uns dein Reich der Gerechtigkeit
und Gleichheit…“
Die Täter werden angeklagt
Auf den Tag genau 44 Jahre nach Salvador Allendes Wahlsieg, am 4. September 2014, erhob ein Richter in Santiago de Chile Klage gegen die ehemaligen Armeeoffiziere Hernán Chacón Soto und Patricio Vásquez Donoso wegen Beteiligung an der Ermordung Victor Jaras am 15. September 1973 sowie gegen den ehemaligen Militärankläger Ramón Melo Silvo als Mitverschwörer, der die Tat verschleiert habe. Acht weitere Ex-Offiziere wurden schon im Dezember 2012 und im Januar 2013 wegen ihrer Beteiligung an dem Mord angeklagt.
Letzten Dezember reiste Joan Jara in die USA und reichte Klage gegen einen anderen Ex-Offizier ein. Ein chilenischer Staatsanwalt hatte Pedro Barrientos Nuñez für schuldig erklärt, am Tod des Folksängers in verantwortlicher Position beteiligt gewesen zu sein. Leutnant Barrientos soll Soldaten den Befehl erteilt haben, Jara zu foltern und anschließend in einem Umkleideraum des Stadions, das heute nach Victor Jara benannt ist, in einem Russisch-Roulette-Spiel den tödlichen Schuss abgegeben haben. Barrientos, der seit 1989 in den USA lebt, behauptet, nicht einmal gewusst zu haben, wer Victor Jara ist. Ein formaler Auslieferungsantrag des chilenischen Obersten Gerichts wurde bisher von den USA nicht beantwortet.
Sie konnten ihn töten, doch seine „leisen Lieder konnten nicht verhaftet werden“, stellte die FAZ in ihrem Artikel 1983 fest. „Ich weiß auch, dass Victor in diesen Tagen im Stadion noch ein Lied komponiert hat, das später herausgeschmuggelt worden ist“, erzählte Joan Jara:
Es sind fünftausend von uns hier
In diesem kleinen Stückchen Stadt…
Sechs von uns sind verloren
Wie im Weltraum.
Einer tot, einer erschlagen, wie ich nie geglaubt hätte,
dass ein Menschenwesen geschlagen werden kann.
Die andern Vier wollten ihre Qualen beenden –
einer sprang ins Nichts,
einer schlug den Kopf gegen die Mauer,
aber alle mit dem starren Blick des Todes.
Was für ein Grauen die Fratze des Faschismus schafft!
Sie führen ihre Pläne mit der Präzision von Skalpellen aus.
Für sie ist Blut wie ein Orden,
Schlächterei eine Heldentat.