Es geschieht nicht oft, dass sich an einem Wahlabend in Deutschland nach Auszählung der Stimmen die geballte Aufmerksamkeit (zumindest der professionellen Akteure und Beobachter) gar nicht mehr so sehr auf die Personen und Parteien richtet, die nun in den kommenden Jahren als Regierende vermutlich die Richtung bestimmen werden. Geradezu atemlos staunend steht die politische Klasse in Berlin - und darüber hinaus - vielmehr einer noch relativ jungen Gruppierung gegenüber, die mit den anstehenden Koalitionsverhandlungen und Regierungsbildungen gar nichts zu tun haben wird, weil (erklärtermaßen) niemand etwas mit Ihr tun haben will. Das hört sich nach einem Phänomen an. Aber das Phänomen hat einen konkreten Namen: Alternative für Deutschland. Oder, abgekürzt, AfD.
Stroh- oder Dauerfeuer?
Zwei Wochen nach Sachsen haben am Sonntag auch die beiden ostdeutschen Bundesländer Brandenburg und Thüringen neue Landtage gewählt. Schon das sächsische Ergebnis mit 6,4 Prozent für die AfD hatte in den anderen Parteizirkeln und bei den Medien für gehörige Aufregung gesorgt. Aber jetzt, die 10,6 Prozent im thüringischen Erfurt und die sogar 12,2 Prozent in Potsdam – das ist den „Eliten“ in Berlin und „draußen im Land“ gehörig in die Knie gefahren. Hie und da hat es sogar Schocks ausgelöst. Dies vor allem in Thüringen, wo die „Alternativen“ aus dem Stand heraus nahezu gleich stark wurden wie die auf für eine Traditions- und Volkspartei blamable 12, 2 (- 6,1 Prozent gegenüber 2010) Prozent zusammen geschrumpften Sozialdemokraten. Dieser geradezu sensationell anmutende Aufstieg der ja erst vor einem Jahr im Vorfeld der Bundestags- und der Europawahl gegründeten AfD überlagert sogar die Diskussionen über die vermutlichen oder auch nur möglichen Regierungsbündnisse in den beiden Ländern. Zu Recht lautet die in diesen Tagen am häufigsten auf der deutschen politischen Bühne gestellte Frage: „Sind die Erfolge der Polit-Neulinge nur Strohfeuer, oder etabliert sich hier auf Dauer eine neue Kraft“?
Oder anders gefragt: Tritt die AfD an die Stelle der Freien Demokraten. Nach dem Rausschmiss aus dem Bundestag, den Niederlagen in Hessen, Baden-Württemberg und Bayern, wurden die mit großen Namen wie Theodor Heuss, Walter Scheel und Hans-Dietrich Genscher verbundenen Liberalen nun auch von den ostdeutschen Wählern in Sachsen, Brandenburg und Thüringen absoluten Bedeutungslosigkeit nieder gestimmt. Gegenwärtig sind sie nur noch in sechs der 16 Bundesländer vertreten. Indes, die Vermutung stimmt eben nicht, dass die „Alternative für Deutschland“ praktisch die FdP beerbt habe. Die Analysen der Wählerströme haben vielmehr höchst Erstaunliches zutage gefördert: Es flossen ihr in hohen Zahlen aus allen Richtungen Stimmen zu – von den Christ- und den Sozialdemokraten, von den Liberalen und (man lese und staune) auch von der kommunistischen Linken. Besonders der Zulauf aus dem Fundus der seit der Vereinigung mehrfach umgetauften einstigen DDR-Staatspartei SED zu der gern in die Rechtsaußen-Ecke gestellte AfD ist die zweite Sensation der beiden Sonntagswahlen.
Die Extremen ziehen sich an
Bewahrheitet sich hier, möglicherweise, wieder einmal die alte These, wonach die Extreme sich anziehen? Tatsache ist jedenfalls, dass die Linke mit 8,6 Prozent ausgerechnet dort kräftig verloren hat, wo sie glaubte, ein leichtes Heimspiel zu haben – in Brandenburg, wo sie als Juniorpartner der SPD auch noch in der Landesregierung saß. Dort ist jetzt sogar die sich in den vergangenen Jahren mit internen Querelen selbst kräftig „gerupfte“ CDU wieder zweitstärkste Kraft im Potsdamer Landtag geworden. Das versetzt die erneut an Nummer eins gewählte SPD mit ihrem erst seit kurzer Zeit in diesem Amt befindlichen Ministerpräsidenten Woidke in die komfortable Lage, nicht mehr auf die Linke als Partner angewiesen zu sein, sondern diese bei etwaigen rot/dunkelroten Verhandlungen mit dem Hinweis zu domestizieren, dass er ja durchaus auch mit den Christdemokraten gehen könne. Was möglicherweise Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihrem SPD-Koalitionär Siegmar Gabriel in Berlin gar nicht so unangenehm sein würde.
In Thüringen hingegen haben die Wähler die Politik-Strategen vor knifflige Aufgaben gestellt. Rechnerisch sind in Erfurt jetzt zwei Lösungen möglich: 1. Weiterhin ein Bündnis zwischen der (leicht gestärkten) CDU von Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht und den gebeutelten Sozialdemokraten (zusammen 45 Sitze). 2. Eine dunkelrot/rot/grüne Koalition unter dem einstigen niedersächsischen Gewerkschafter Bodo Ramelow und damit erstmals mit einem kommunistischen Regierungschef seit dem Zusammenbruch der DDR und der Wiedervereinigung (ebenfalls 45 Stimmen). So oder so – obwohl sie die dramatischsten Verluste hinnehmen musste, ist die SPD in Thüringen auf jeden Fall die entscheidende Kraft. Genau das aber könnte sie dem totalen Absturz noch näher bringen. Denn gerade die thüringische SPD hat noch zahlreiche Mitglieder, die unter der SED-Herrschaft schmerzlich zu leiden hatten und die ihrer Parteiführung ein Liebäugeln (oder gar mehr) mit den einstigen Peinigern nie verzeihen würden. Andererseits steht mit dem, durchaus populären, Erfurter Oberbürgermeister Andreas Bausewein der vermutlich kommende Spitzenmann der „Sozis“ bereit. Und der hat aus seiner rot/roten Präferenz noch nie ein Hehl gemacht.
Wandel bei den Grünen
Nicht zu vergessen die Grünen. Hier hatten sich nach der „Wende“ 1989/90 eine große Anzahl von Menschen wieder gefunden, die sich zuvor über Jahre für Freiheit und Menschrechte einsetzten – und dafür nicht selten sehr büßen mussten. Sie kamen aus kirchlichen Kreisen oder Zirkeln wie „Demokratie jetzt“ bzw. „Neuer Aufbruch“. Auch für sie wäre eine Verbrüderung mit SED/SED-PDS/PDS/Die Linke undenkbar gewesen. Mittlerweile freilich hat sich dort ein Wandel ergeben. Die heute in Thüringen politisch aktiven Grünen sind jung; die meisten haben kaum noch eine persönliche Erinnerung an die DDR. Für sie zählt die Standortfrage für Windräder viel mehr als Erinnerungen an die Honecker-Zeit. Insofern schließen Kenner nicht aus, dass Ihnen ein Ramelow-Angebot durchaus reizvoll erscheinen könnte, ihren Stimmenanteil von 5,7 Prozent und die daraus resultierenden sechs Landtagssitze in die Waagschale zu werfen.
So interessant und spannend diese Entwicklung auch ist, die politischen Hinterzimmer und deutschen Stammtische bewegt freilich zur Zeit viel mehr das Thema „Alternative für Deutschland“. In den ersten Résumés am Wochenanfang zogen CDU/CSU und SPD erneut kräftige Trennungsstriche zu den erfolgreichen Polit-Aufsteigern. Man hörte die üblichen Schlagworte und Kampfbegriffe wie schon während der vergangenen Monate: Europafeinde, Ausländerbekämpfer, Tendenz zum Rechtsradikalismus. Noch liegen keine belastbaren Untersuchungen vor, ob solche groben Unterstellungen wirklich von den Tatsachen gedeckt werden. Richtig ist ohne Zweifel, dass immer wieder rechtslastige Kräfte versucht hatten, bei der AfD unterzuschlüpfen. Aber abgesehen davon, dass den Führungspersönlichkeiten derlei Neigungen nicht nachgesagt werden können, ist eigentlich eine andere Frage entscheidend. Nämlich: Könnte es nicht vielleicht tatsächlich sein, dass die Popularität und damit die Wahlerfolge vor allem mit deren „Strategie“ zusammenhängen, jene Dinge schonungslos auszusprechen, die – richtig oder falsch, übertrieben oder nicht – die Bürger beunruhigen und besorgt machen, von den „Etablierten“ jedoch (weil angeblich „politisch unkorrekt“) gemieden werden?
Ewiggestrige und Schmuddelkinder?
Selbst der „Spiegel“, an sich mit an der Spitze derer, die schnell eine rechtsextreme Schublade für die neuen Hechte in Deutschlands Parteien-Karpfenteich aufgezogen haben, kommt nach den Wahlschocks am Sonntag nicht daran vorbei, sich anderen Denkmustern zu nähern. So schreibt das Hamburger Blatt in seinem online-Dienst: „Es reicht nicht, die AFD als eine Partei Ewiggestriger zu verschmähen, die die Politikverdrossenheit mit ein paar wohlfeilen Thesen wegwischt, aber Vorstellungen hat, die so gaga sind, dass sie sich schon irgendwann von selbst entzaubern wird. Die AfD ist erstmal da, und je stärker ihre Mitglieder wie Schmuddelkinder behandelt werden, desto größer dürften ihre Erfolge werden. Angriffe von außen schweißen bekanntlich zusammen“. Es wäre nicht schlecht, wenn die in Hamburg gewonnenen Erkenntnisse auch Eingang fänden in die Strategie-Überlegungen von Berlin und in den Landesmetropolen. Denn es muss doch zu denken geben, dass große Teile der AfD-Wähler auf Befragen unumwunden zugeben, sie trauten den „Alternativen“ keineswegs zu, Probleme zu lösen. Doch sie fänden es immerhin wichtig, diese wenigstens offen darzulegen.
Was damit gemeint ist, muss nicht lange erraten werden. Das ist an den Straßenecken und in den Poblemvierteln der Großstädte überall zu sehen, es ist in den Polizeimeldungen der Zeitungen täglich zu lesen, in den Fluren der Sozialämter zu beobachten und von den Eltern in den Schulen zu spüren. Die Menschen sorgen sich um die innere Sicherheit, wegen Einbrüchen und Überfällen, wegen Lehrermangels an den Schulen und fehlenden Sprachkenntnissen, die Migrantenkindern die Zukunft verbauen. Wer das anspricht, ist doch per se kein „Rechter“. Vielmehr ist, wer es unter den Teppich kehrt, politisch zumindest ziemlich naiv. Vielleicht haben ja die Donnerschläge aus Potsdam und Erfurt wachgerüttelt. Es liegt letztendlich an den „Etablierten“, ob sich die „Alternative für Deutschland“ auf Dauer festsetzt oder nur ein politischer Wirbelwind ist.