Am Wochenende ging das 11. Zürcher Filmfestival 2015 zuende. Preise und Besondere Erwähnungen wurden unter anderem im Internationalen Dokumentarfilmwettbewerb verliehen. Von den Filmen, die ich mir am Zürcher FilmfestivaI selber ansehen konnte, hat mich einer der Dokumentarfilme als dramaturgisch neuartig, perfekt umgesetzt und politisch wichtig begeistert: „3 ½ Minutes, Ten Bullets“ von Marc Silver. Pointe: In der Schweiz hätte dieser Film, der fast gänzlich während des Geschworenengerichtsverfahrens im Gerichtssaal entstand, nicht gedreht werden können; denn „Bild- und Tonaufnahmen innerhalb des Gerichtsgebäudes sind nicht gestattet“ (Art. 71 der schweizerischen Strafprozessordnung).
Dreieinhalb Minuten hatte der an sich lächerliche Konflikt auf einem Supermarkt-Parkplatz in Jacksonville (Florida) gedauert. Ein Auto mit schwarzen Jugendlichen hatte angehalten, weil einer von ihnen im Laden Eistee besorgen wollte; es lief laute Musik. Daneben war ein anderes Auto, dessen weisser Fahrer sich über die Lautstärke beschwerte. Als der 17jährige Jordan Russell Davis sich wieder ins Auto setzte, verlangte er schimpfend die vorherige Lautstärke. Plötzlich fielen Schüsse, zehn insgesamt. Davis war tot. Der weisse Schütze sagte dem Gericht, er glaubte, eine Waffe - auf ihn gerichtet - gesehen zu haben. Deshalb habe er geschossen. Keiner der Zeugen berichtete von einer Waffe.
Fünf Kameras im Gerichtssaal
Gerichtsfälle sind ein beliebtes Sujet im amerikanischen Film. Gelegentlich erreichen sie höchste Qualität – etwa „Twelve Angry Men“ über eine uneinige Geschworenenbank (von Sidney Lumet mit Henry Fonda 1957) oder „Judgment at Nuremberg“ (von Stanley Kramer 1949 über den Kriegsverbrecherprozess mit Spencer Tracy, Maximilian Schell und Marlene Dietrich). Aber es waren eben Spielfilme.
Marc Silver las über den Fall im Magazin „Rolling Stones“; eben erst waren ganz in der Nähe schwarze Jugendliche von Weissen erschossen und freigesprochen worden. Silver hoffte, im Gerichtssaal und mit einigen wenigen Zusatzantworten von Eltern und Zeugen tiefer zu schürfen. Er verzichtete auf jeglichen Kommentar.
Der weisse Richter gestattete die Aufnahmen von der Hinterwand des Gerichtssaals aus; fünf Kameras standen im Einsatz; verboten waren den Filmern nur Kamerablicke auf die Geschworenenbank.
"Lynchtradition"
Das sehr ausufernde Plädoyer des Verteidigers lieferte die traditionellen Argumente, die oft in Freisprüche der Geschworenen münden: Der Schütze durfte sich von den drei lauten jungen Schwarzen bedroht fühlen und in vermuteter Notwehrlage schiessen; zudem gilt in Florida seit Pionierzeiten das „Stand your ground“-Prinzip: Wer unfriedlich angegangen wird oder das befürchtet, muss nicht zurückweichen. Der Staatsanwalt hatte nur einen Stich: Er fragte Polizisten und die Verlobte des Schützen, ob der Mann in den ersten Stunden nach der Tat irgend etwas von einer Notwehrlage und von gesichteten Waffen gesagt habe. Antwort: Nein.
Das erstinstanzliche Schwurgerichtsverfahren endete unentschieden in einem „mistrial“, weil einer der Geschworenen sich den andern nicht anschliessen mochte. Das sogleich eingeleitete zweite Verfahren führte zu einem Schuldspruch: Lebenslängliches Gefängnis für Mord. Dazu 90 Jahre für die neun weiteren Schüsse, die auf das vollbesetzte Auto gefeuert wurden (Mordversuch). Für Menschenrechtler in Europa ein befremdliches Strafmass, aber ein begrüssenswerter Schuldspruch.
Die Produzentin, die nach der Filmvorführeng in Zürich Auskunft gab, knüpfte an die in der Südstaatengeschichte tief verankerte „Lynchtradition“ (spontane Hinrichtungen von Schwarzen ohne Verfahren) an. Der Film hatte das in 98 Minuten belegt, ohne Kommentar, einfach durch die Verfahrensschilderung, die dem Publikum diesen Gerichtsschluss verständlich machte. Ein handwerklich und politisch wahrlich preiswürdiger Dokumentarfilm.