Als Schriftsteller war er ein Spätzünder. Mit Mitte Fünfzig erst wagte er den Sprung zur freiberuflichen Tätigkeit. In die Weltliteratur eingeschrieben hat er sich mit den Alterswerken «Effi Briest» und «Der Stechlin». Als 1895 der Effi-Roman herauskam, zählte Fontane sechsundsiebzig Jahre; die Veröffentlichung des «Stechlin» erlebte er nicht mehr. Theodor Fontane starb am 20. September 1898. Sein letzter Roman, dessen Erscheinen er sehnlich erwartet hatte, wurde vier Wochen danach ausgeliefert.
Mit der «Eisenbahn» zur Demokratie
Zur Schriftstellerei und zum Dichten hatte es schon den Jugendlichen gedrängt. Mit Anfang Zwanzig stellten sich erste literarische Erfolge ein. In der in Dresden erscheinenden Zeitschrift «Die Eisenbahn», einer oppositionellen literarischen Postille mit dem Untertitel «Ein Unterhaltungsblatt für die gebildete Welt», veröffentlichte er binnen dreier Jahre etwa vierzig vorwiegend politische Gedichte sowie Gedichtübersetzungen. Der Name «Eisenbahn» stand für rasche Bewegung, Fortschritt, Kommunikation über Grenzen hinweg – und Demokratie. Entsprechend wurde die Zeitschrift von der Zensur mit Sperberaugen überwacht. Mehrere Nummern fehlen in Fontanes Nachlass; sie wurden vermutlich von den staatlichen Aufpassern kassiert.
Fontane war stolz auf seine Gedichte und bot eine Auswahl davon zur Publikation an, allerdings nicht in Deutschland, sondern beim deutschen Emigranten Julius Fröbel in Zürich – demselben Fröbel, der Gottfried Kellers erste Gedichte herausbrachte. Doch Fontane bekam sein Manuskript von Fröbel mit einem unverbindlichen Absagebrief zurück. Das mögliche Zusammentreffen Fontanes mit dem gleichaltrigen Keller im Verlagskatalog des «Litterarischen Comptoirs Zürich und Winterthur» kam nicht zustande. Die beiden Grossen der deutschen Literatur begegneten sich nie, obschon sie einander schätzten und Fontane sogar in Zürich gewesen war.
Bleierne Zeit in Preussen
Das demokratische Virus hatte den jungen Fontane angesteckt. Bei der kurzen liberalen Erhebung vom März 1848 stand er in Berlin bei den Barrikaden und entging mit Glück dem brutalen Vorgehen der Obrigkeit, die mit Truppeneinsatz das Feuer rasch erstickte. In Preussen brach eine bleierne Zeit an, in der übersteigerter Patriotismus als Hebel benutzt wurde, um sich anbahnende gesellschaftliche und politische Veränderungen unter dem Deckel zu halten.
Fontane hatte wie sein Vater Apotheker gelernt, kam aber auf keinen grünen Zweig. Er wollte schreiben, schriftstellerisch und journalistisch. Zwar empörte ihn die herrschende Konterrevolution, doch sah er keinen anderen Weg, als sich zu arrangieren. So trat er denn ins «Literarische Cabinet» ein, was entgegen dem schöngeistigen Namen nichts anderes als eine Propaganda-Abteilung der Regierung war. Sie hatte nicht lange Bestand und wurde bald abgelöst von der «Centralstelle für Pressangelegenheiten», die den nach der Schliessung des «Cabinets» arbeitslos gewordenen Journalisten Fontane wiederum anstellte. Der war inzwischen verheiratet und als Familienvater auf einen Erwerb angewiesen. Die «Centralstelle» entsandte ihn 1852/53 und dann nochmals 1855–59 als Presseagenten nach London, wo er zeitweise mit seiner Familie lebte.
Zurück in Berlin, schrieb Fontane für verschiedene Zeitungen. Zudem hatte er in der Zwischenzeit als Balladendichter Ansehen gewonnen. Als Renner erwiesen sich seine 1859 begonnenen und später als «Wanderungen in der Mark Brandenburg» gesammelt veröffentlichten Reisefeuilletons. Fontane entwickelte ein beträchtliches Geschick im Aufspüren und Vermarkten erfolgversprechender Stoffe und Formate. Bereits als angestellter Journalist – zuerst als Feuilletonist bei der erzreaktionären «Kreuzzeitung», später als Theaterkritiker bei der liberalen «Vossischen Zeitung» – betrieb er eine breit gefächerte literarische Tätigkeit, für die er stets Auftraggeber suchte. Auf diese Weise wurde er auch zum Geschichtsschreiber der preussischen Kriege, an denen zu seinen Lebzeiten wahrhaftig kein Mangel herrschte.
Napoleon-Schwärmerei und Patriotismus
Der hugenottische Hintergrund prägte Fontanes Herkunftsfamilie durch und durch. Vater Louis Henri hatte zeitlebens für Napoleon und seine Generale geschwärmt. Auch besuchte man die französische reformierte Kirche. Gleichzeitig waren die Fontanes sehr preussisch, was an sich dem hugenottischen Geist nicht widersprach, aber im frühen 19. Jahrhundert zur heiklen Konstellation wurde durch die Tatsache, dass napoleonische Truppen Preussen besetzt hielten.
Theodor Fontane hat dieses Dilemma seiner Elterngeneration in «Vor dem Sturm», seinem ersten Roman, verarbeitet: Vater und Sohn von Vitzewitz sehen um 1812/13 die Zeit für einen Aufstand gegen Napoleon gekommen, nachdem ein preussischer General das erzwungene Bündnis mit Frankreich, dessen Truppen sich geschlagen aus Russland zurückziehen, aufgekündigt hat. Doch der Sohn liebt eine Polin, die aus patriotischen Beweggründen glühend für Napoleon und gegen Russland Partei ergreift. – Der umfangreiche Roman-Erstling beschäftigte Fontane seit 1862 über eine lange Zeitspanne und erschien 1878 zuerst als 36-teilige Fortsetzung in der Zeitschrift «Daheim».
Zwei Stränge der schriftstellerischen Praxis Fontanes flossen in diesen ersten Roman ein. Zum einen profitierte der Verfasser von seiner Erfahrung als Kriegshistoriker. Zum andern nutzte er seine in den «Wanderungen»-Feuilletons angesammelten Kenntnisse über die Landschaften und Lokalhistorien des Berliner Umlands.
Literarischer Durchbruch
Als Journalist und Schriftsteller entwickelte Fontane eine staunenswert rationelle Arbeitsmethodik, die ihm erlaubte, stets mehrere Schreibprojekte auf unterschiedlichen Stufen der Ausarbeitung gleichzeitig voranzutreiben. Diese Schreibmanufaktur oder Romanwerkstatt hätte nicht funktioniert ohne tatkräftige Mitwirkung seiner Frau Emilie und später zusätzlich auch seiner Tochter Martha. Die Frauen recherchierten, lasen Korrektur, fertigten Reinschriften an, führten Korrespondenzen, und sie betreuten die in Notizen und Zettelkästen vorliegenden Rohmaterialien.
Im Deutsch-Französischen Krieg 1870 war Fontane als Berichterstatter unterwegs, um Material für sein drittes Kriegsbuch zu sammeln. Er wurde bei Domrémy gefangen genommen und verdächtigt, ein Spion zu sein. Trotz Freispruchs durch ein französisches Gericht bleib er inhaftiert, da man fürchtete, er könnte Kenntnisse über kriegswichtige Sachverhalte erlangt haben. Fontane erzählte seine Irrfahrt durch Frankreich mit den diversen Gefängnisaufenthalten im Buch «Kriegsgefangen. Erlebtes 1870», welches 1870/71 zuerst als Vorabdruck in der «Vossischen Zeitung» erschien.
Nach Fontanes eigener Einschätzung war dieses Buch sein literarischer Durchbruch. Es zeichnet sich aus durch leichtfüssiges Erzählen und unvoreingenommene Haltung. Sein eigenes Ergehen schildert er nicht ohne ironische Selbstdistanz. Bewunderung verdient Fontanes stets wohlwollendes Interesse am Land und den Menschen, mit denen er zu tun hat. Er ist offen für ihre Lebensart und Kultur und zeigt seine Hochachtung für die Fairness und Korrektheit, mit der er, der offiziell als «Feind» gilt, behandelt wird. Fontane ist sich allerdings seiner privilegierten Stellung als sprachgewandter und eine gewisse internationale Protektion geniessender Gefangener bewusst. Sozusagen als Kompensation fügt er kontrastierende Berichte von Soldaten an, die im Feuer standen und dem Grauen des Kriegs ausgesetzt waren.
Nach «Kriegsgefangen» dauerte es noch fünf Jahre, bis Fontane den Schritt zur freien Schriftstellerexistenz wagte. Mit dem ab 1880 in Folgen erschienenen Roman «L’Adultera» begann die Reihe seiner dem literarischen Realismus verpflichteten bürgerlichen Gesellschaftsromane, die schliesslich seinen Ruhm begründeten. Hier und mehr noch in den Werken «Cécile», «Stine» und vor allem «Effi Briest» entwarf Fontane grosse, auf Frauenschicksale fokussierte Tableaus der zeitgenössischen Verhältnisse.
Wunderwerk des Andeutens
Auch «Effi Briest» wurde zuerst in Fortsetzungen publiziert (1894/95), und zwar in sechs Folgen – was reichliche Portionen ergab. Erst 1896 kam das Buch heraus. Erneut ist die Heldin ein Opfer der herrschenden zweifelhaften Moral. Doch anders als bei «Cécile» und «Stine» durchläuft die Titelfigur eine innere Entwicklung. Viel zu früh – mit siebzehn – mit einem wesentlich älteren und mehr an seiner Karriere als an der Beziehung zu seiner Frau interessierten Mann verheiratet, dabei immer als Adlige privilegiert und vom wirklichen Leben ferngehalten, bleibt Effi anfangs die kindliche Frau. Sie fürchtet sich vor Geistern, löst sich nie von ihrer Herkunftsfamilie, stolpert in eine Affäre, die ihr schmeichelt aber nichts bedeutet.
Fontane legt früh die Fährten zur finalen Katastrophe. Doch er gönnt der Protagonistin, über der bereits das Damoklesschwert der Entdeckung ihres Fehltritts hängt, ein paar Jahre, in denen sie zur Ruhe findet und endlich einen Reifungsprozess beginnt. Dann holt sie das Verhängnis ein. Ihr Mann findet die verräterischen Briefe, worauf das unerbittliche Programm abläuft, das in dieser Gesellschaftsschicht für solche Fälle vorgesehen ist: Skandal, Duell, Verstossung, Ächtung, soziale Vernichtung. Selbst ihre Tochter ist Effi gezielt entfremdet worden. Das Haus der Eltern bleibt ihr selbst dann verschlossen, als sie krank und elend am Nullpunkt angelangt ist.
Am Ende ist es der alte Briest, der seinem väterlichen Herzen nachgibt und sich gegen seine in Moral erstarrte Gattin durchsetzt. Einem Verdikt über seine Tochter verweigert er sich mit dem berühmten Schlusssatz des Romans: «Ach, Luise, lass … das ist ein zu weites Feld.» Die Sentenz vom weiten Feld ist des alten Briests Standardweisheit, zu der er jeweils Zuflucht nimmt, wenn er contre coeur entscheiden oder urteilen sollte – und es ist augenscheinlich auch die Haltung des alten Fontane angesichts einer Gesellschaft, unter deren Verkrustungen die ständischen Regeln und Grenzen längst in Auflösung begriffen sind.
«Effi Briest» ist ein Wunderwerk des Andeutens, der Auslassungen. Dramatische Höhepunkte werden nicht ausgemalt. Sie sind irgendwann einfach geschehen, die Verhängnisse haben eingeschlagen, und man ist konfrontiert mit Getroffenen und Versehrten, die benommen durch ihr Leben wanken. Das Augenmerk des Erzählers liegt auf den inneren Bewegungen der Figuren, die wiederum hauptsächlich in Dialogen gezeigt werden. Fontane ist der unerreichte Meister der direkten Rede und der Schilderung von Gesprächsatmosphären. Man belauscht diese Dialoge mehr, als dass man sie liest.
Angesichts der Biographie Fontanes, die ja reich ist an Anpassungen an gesellschaftlich erzwungenes Verhalten, muss man sich nicht wundern, wie scharf er diese Verhältnisse gezeichnet und wie klar er für Effi Partei ergriffen hat. Nicht durch persönliches Temperament, sondern durch sein literarisches Werk gewann er Distanz gegenüber den herrschenden Zuständen.
So traurig die Effi-Geschichte ist, klagt sie doch eigentlich nicht an. Fontane schaut vielmehr genau hin, so eindringlich, dass die Zerfallserscheinungen dieser äusserlich geordneten Welt den Lesern ins Auge springen. Der starre Ehrencodex ist längst aus der Zeit gefallen. Das weiss im Roman selbst Effis Ehemann Instetten, der den Rivalen Krampas zum Duell fordert. Er tut das Unsinnige und Unmenschliche, obschon er Effi noch immer liebt und das Töten verabscheut. Im Gespräch mit seinem Sekundanten, der ihn vom Duell abzuhalten versucht, kommt Instetten zum Schluss: «Ich habe keine Wahl. Ich muss.»
Letztes Meisterwerk
Diesem literarischen Monument hat der zunehmend kranke Fontane als letztes Werk und persönliches Vermächtnis noch ein weiteres Meisterwerk zur Seite stellen können: «Der Stechlin». Gleicht «Effi Briest» einem breiten Strom, der mit stetig wachsender Geschwindigkeit einem gewaltigen Katarakt entgegenfliesst, so ist «Der Stechlin» ein Geflecht von Gesprächen, die Milieus und Generationen zusammenführen. Dabei ergehen die Räsonnements sich aber nicht in Beschaulichkeit, sondern sie reflektieren das aktuelle politische Geschehen. Im Mittelpunkt steht der knorrige Landadelige Dubslav von Stechlin. Bei ihm laufen die Fäden einer dialogischen Zeitdiagnose zusammen, er gibt den Takt für einen Austausch, der Spannungen aushält, ohne die Gegensätze zu verwischen.
Mehr noch als Vater Briest ist der alte Dubslav von Stechlin ein Alter Ego Fontanes. Beide sind sie im Herzen Konservative, die aber den sich ankündigenden historischen Wandel zur egalitären demokratischen Gesellschaft als Notwendigkeit begrüssen. Fontane schafft das Kunststück, in seinem letzten Werk eine nostalgische Grundstimmung heraufzubeschwören, die gleichwohl den Geist der neuen Zeit erspürt. Die junge adlige Städterin Melusine bringt die Essenz des Romans nach Dubslavs Tod in einem Brief an den sozialdemokratische Neigungen hegenden Dorfpfarrer auf den Punkt: «Alles Alte, soweit es Anspruch darauf hat, sollen wir lieben, aber für das Neue sollen wir recht eigentlich leben.»
Fontane ist der realistische Erzähler des sich ankündigenden gesellschaftlich-kulturellen Umbruchs. Er zeigt die Verheerungen einer Welt, die sich überlebt hat, tut es aber nicht als Ankläger, sondern als geduldiger, eindringlicher Beobachter. Sein Werk hat in unserer Zeit, die vor neuen Brüchen und Umwälzungen steht, nichts von seiner poetischen Kraft und menschlichen Faszination verloren.
Ergiebig zu Fontane sind die Websites fontanearchiv.de und fontane-200.de.
Zwei ausgezeichnete Biographien sind anlässlich des Fontane-Jahrs erschienen. Die Zürcher Germanistin und Fontane-Forscherin Regina Dieterle hat eine umfassende Darstellung mit ausführlichen Registern vorgelegt. Das Fontane-Buch des Potsdamer Historikers Iwan-Michelangelo d’Aprile zeigt den Schriftsteller vor allem als Exponenten eines bewegten Jahrhunderts.