Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu verkündete kurz vor einer erwarteten Aushandlung eines Waffenstillstands zwischen den israelischen Streitkräften und den Milizen von Hamas und ihren Verbündeten in Gaza: «Man kann sie (die palästinensischen Milizen) entweder besiegen – und das ist immer eine offene Möglichkeit – oder man kann sie abschrecken.» Ein Sieg über die Milizen hätte den Einsatz von Bodentruppen verlangt, eine Option, die sich der Premier offenhielt. Abschreckung meinte, die Milizen daran zu hindern, weiterhin Raketen auf israelische Ortschaften und Städte abzufeuern. Die Option eines Waffenstillstands, der nun in der Nacht auf Freitag Wirklichkeit wurde, erwähnte er nicht.
Beide Seiten behaupten, ihre Ziele erreicht zu haben
Premier Netanjahu war „fest entschlossen, diese Operation fortzusetzen, bis ihr Ziel erreicht ist“. Und Musa Muhammad Abu Marzuq, stellvertretender Vorsitzender und Chefdiplomat von Hamas, verlangte, dass die israelischen Streitkräfte als Erste aufhören sollten zu bombardieren. Natürlich wusste die Regierung Netanyahu ebenso wie die Hamas-Führung, dass sich beide Seiten über kurz oder lang auf die Einstellung der gegenseitigen Angriffe einigen würden. Und es war klar, dass beide Seiten behaupten würden, sie hätten ihre Ziele nun erreicht und könnten deshalb dem Schweigen der Waffen zustimmen. Und klar war auch, dass beide Seiten in der Pose des Siegers verkünden werden, dass ihr Sieg den Gegner zur Zustimmung zum Waffenstillstand gezwungen habe.
Schliesslich einigte man sich darauf, dass Waffenstillstand bedeute, dass beide Seiten gleichzeitig ihre Angriffe einstellten. So gab es wieder zwei „Sieger“, die ihren „Sieg“ nun innenpolitisch ausschlachten werden.
Hamas lässt sich feiern
Hamas wird den Waffenstillstand in einen politischen Sieg ummünzen wollen. Sie wird die Abhaltung der bislang abgesagten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in Palästina verlangen, darauf hoffend, dass dann erstmals ein Politiker von Hamas Präsident wird. Dies dürfte wohl das Kalkül der religiösen Nationalisten von Hamas sein.
Im Februar 2021 hatten sich 14 palästinensische Organisationen in Kairo noch darauf geeinigt, am 22. Mai Parlaments- und am 31. Juli 2021 Präsidentschaftswahlen durchzuführen. Doch angesichts des drohenden Wahlsiegs von Hamas setzte die Wahlkommission die Wahlen am 30. April aus. Präsident Abbas begründete dies damit, dass die Wahlbeteiligung der palästinensischen Bevölkerung in Ostjerusalem nicht sichergestellt sei. Ein neues Datum wurde nicht angekündigt.
Hamas reklamiert die Führung in Palästina
Fatah wird nun den Preis zahlen und das Wagnis der Wahlen und damit das Risiko einer Wahlniederlage eingehen müssen. Andernfalls würde die sich im sozialdemokratischen Spektrum ansiedelnde Traditionspartei Fatah den Nimbus einer Volkspartei, den sie seit ihrer Gründung 1959 beansprucht, endgültig verlieren.
Ob die israelische Regierung die Wahl eines Führungsmitglieds von Hamas zum Präsidenten des Staates Palästina zulassen wird, ist vollkommen offen. In jedem Fall dürfte diese Wahl entscheidender sein als die Wahl zum palästinensischen Legislativrat in Ramallah, in dem Hamas schon jetzt nominell über eine Mehrheit verfügt.
Hamas ist es gelungen, ein Solidaritätsnetzwerk zu begründen, das parallel zu den Staatsstrukturen in Gaza existiert und in dem die etwa 80’000 Mitglieder von Hamas, ihre Familien und deren Verbündete privilegiert sind. Zugleich hat sie den religiösen Nationalismus zu einem politischen Programm gemacht, über das sie einen Repräsentationsanspruch über Gaza reklamiert und durch das sie am äussersten rechten Rand des politischen Spektrums angesiedelt ist. Hamas will also Staat, Regierung und Solidaritätsnetzwerk in einem sein.
Der religiöse Nationalismus von Hamas
Der religiöse Nationalismus ist zur tragenden Säule von Hamas geworden. Er hat das Potential, grosse Menschenmengen zu mobilisieren; dazu trägt auch eine nostalgisch-sentimentale Symbolisierung des Nationalen bei, für die vornehmlich islamische Traditionen herhalten müssen. So feierten am frühen Freitagmorgen in Gaza zahlreiche Menschen den Beginn der Waffenruhe als einen „Sieg über die unbesiegbare Armee“ (gemeint sind die israelischen Streitkräfte), zündeten Feuerwerkskörper und eskortierten Modelle des Felsendoms und der al-Aqsa-Moschee durch die Strassen von Gaza-Stadt.
Auch im Westjordanland und in Ostjerusalem feierten Bewohner den „Sieg“ in seltener Eintracht mit Gaza und mit Hamas. Selbst in Ostjerusalem konnten Banner und Fahnen von Hamas öffentlich gezeigt werden. Eine „Siegesfeier“ im Damaskustor und Proteste im Rahmen des Freitagsgebets an der al-Aqsa-Moschee, an dem diesmal bis zu 20’000 Menschen teilgenommen haben sollen, endeten allerdings in militanten Auseinandersetzungen mit der Polizei.
Das Kalkül von Hamas ist bislang aufgegangen. Die religiösen Nationalisten aus Gaza haben es vermocht, die Deutungshoheit über den kommunalen Konflikt in Ostjerusalem um die Zwangsräumung von dreizehn Familien in Sheikh Jarrah und um die Absperrungen bei den abendlichen Ramadan-Feierlichkeiten am Tempelberg zu erlangen. Dafür feuerten ihre Qassam-Milizen und die Quds-Milizen des Islamischen Jihad mehrere Tausend Raketen auf israelische Städte und Ortschaften. Durch den Beschuss starben dort 13 Menschen, fast 600 wurden verletzt.
Das israelische Dilemma
Die Reaktion der israelischen Streitkräfte war heftig. In den zehn Tage währenden Luftangriffen auf Ziele im Gazastreifen wurden etwa 250 Menschen getötet und fast 2’000 verwundet. Im Westjordanland starben durch Aktionen der israelischen Armee 26 Palästinenser, etwa 500 wurden verletzt.
Die Streitkräfte handelten als Exekutive der rechtsnationalen Politik der Regierung von Premier Netanjahu. Seit den Wahlen zur Knesset am 21. März 2021 waren die Szenarien einer Regierungsbildung Hauptthema der israelischen Politik gewesen. Netanjahu, der sich mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln an seinem Anspruch, Ministerpräsident zu bleiben, klammert, sah in den erstarkenden religiösen Zionisten und der Neuen Rechten potentielle Bündnispartner für seinen Regierungsanspruch.
Dafür war er bereit, auf Forderungen vom rechtsradikalen Rand einzugehen, und dazu gehörte auch die schleichende Enteignung der arabischen Familien in Sheikh Jarrah. Zwar erklärte die Regierung immer wieder, dass sie in dieser Kontroverse nicht Partei sei, da es sich um einen zivilrechtlichen Konflikt zwischen zwei Streitparteien handelte, die vor Gericht zu entscheiden seien. Doch in Wirklichkeit bot die Regierung den religiösen Nationalisten nicht nur Legitimität an, sondern in Form von Polizei und Milizen auch eine Durchsetzungsmacht.
Die Erosion des israelischen Gesellschaftsvertrags
Diese Rechtsverschiebung der israelischen Politik spiegelt eine innergesellschaftliche Drift, die den Gesellschaftsvertrag, auf dem der Staat Israel bislang beruht und der eine enorme soziale, kulturelle und religiöse Diversität zu integrieren in der Lage war, weitgehend pulverisiert. Dies dokumentiert den Verlust eines zivilen Konsenses in der Gesellschaft, der sich schon im 2018 erlassenen Nationalstaatsgesetz gezeigt hatte. In dem Gesetz wurde bestimmt, dass „das Recht auf nationale Selbstbestimmung im Staat Israel einzigartig für das jüdische Volk ist“ und dass allein das Hebräische Amtssprache des Staats sei. Gerungen wurde nun über die Frage, welche Abstammungsvoraussetzungen für die Zugehörigkeit zum jüdischen Volk gelten sollen und wie zum Beispiel die Zugehörigkeit von Konvertiten und Konvertitinnen zu beurteilen sei. Diese von der Regierung geförderte Debatte belegt die wachsende Entfremdung des israelischen Staats nicht nur von seinen arabischen Bürgerinnen und Bürgern, sondern von der israelischen Gesamtgesellschaft.
Die Kluft zwischen der neunationalistischen Politik und ihrer Klientel, der eher säkular orientierten Politik der Mitte und der Linken sowie den weitgehend politisch marginalisierten Gruppen der Zivilgesellschaft wird grösser. Die Regierung, ganz auf den eigenen Machterhalt konzentriert, sieht keine Handlungsnotwendigkeit und lässt die Radikalisierung einer religiös-nationalen Definition des Staats durch rechtnationalistische Gruppen und Parteien gewähren. Linksliberale Medien in Israel sehen die Gefahr eines innerisraelischen Bürgerkriegs aufziehen.
Verstörend ist, dass die Politik kein Gegensteuer gibt. Im Gegenteil: Durch den bewaffneten Konflikt mit den Milizen aus Gaza kann Netanjahu punkten. Seiner Wiederwahl zum Premierminister, diesmal gestützt auf Naftali Bennett und seiner Partei „Die neue Rechte“, steht kaum noch etwas im Wege.
Nationalismus als gemeinsame Klammer
So bildet der neue religiöse Nationalismus eine skurrile Klammer zwischen zwei verfeindeten Lagern. Beide brauchen sich gegenseitig, um ihren Machtanspruch zu rechtfertigen, und beide müssen sich dabei „bis zum Sieg“ bekämpfen. Opfer sind nicht nur die Zivilbevölkerung, die damit rechnen muss, „Kollateralschäden“ zu erleiden, sondern auch die Zivilgesellschaft in Israel wie in Palästina. Da die bewaffneten Auseinandersetzungen um Gaza und zum Teil im Westjordanland der Hegemonie einer religiös-nationalistischen Konfliktdeutung unterstellt ist, ist es fraglich, ob sich doch Diskursräume für eine versöhnende Beilegung des Konflikts zwischen Israel und Palästina öffnen könnten.
Die bestehende Militärstrategie kann allenfalls dazu beitragen, dass keine Raketen auf Israel mehr abgeschossen werden. Doch sie bildet keine Grundlage für die Gestaltung ziviler Prozesse der Konfliktlösung, zu der auch eine öffentliche Debatte um „transitional justice“ gehört. Dazu braucht es eine politische Kehrtwende, die mit einer Regierung Netanjahu auf der einen und Hamas auf der anderen Seite kaum machbar ist.