Die direkte Demokratie sei nicht so speziell, wie die Schweizer oft meinten, hat der kalifornische Historiker Randolph C. Head jüngst in einem Interview mit der «SonntagsZeitung» gesagt. Auch Kalifornien, argumentiert der Co-Autor eines neuen Werks über die Schweizer Geschichte, kenne das Verfassungsreferendum und auch in der Verfassung des «Golden State» stünden merkwürdige Dinge, wie etwa die Grösse der Hühnerställe.
Aktuellstes Beispiel, wie Kaliforniens direkte Demokratie funktioniert, ist diese Woche der erfolglose Versuch der Republikaner des Staates gewesen, den 2018 mit 62 Prozent der Stimmen gewählten demokratischen Gouverneur Gavin Newsom abzuwählen. Das Prozedere nennt sich «recall» und wird dann möglich, wenn es einer Partei gelingt, Unterschriften zu sammeln, deren Zahl mindestens zwölf Prozent der Wählerstimmen jenes Politikers entspricht, der abgewählt werden soll.
Nirgends in den USA liegt die Hürde für die Abberufung einer Amtsträgerin oder eines Amtsträgers so tief wie in Kalifornien; anderswo im Lande kann sie, wie in Kansas, bis zu 40 Prozent betragen. Immerhin aber hatte es mit dem «recall» bereits einmal geklappt: 2003 ersetzte der Republikaner Arnold Schwarzeneggers, als «Terminator» berühmt geworden, den farblosen Demokraten Gray Davis.
Doch Kalifornien ist nicht mehr jener Bundesstaat, der er zu Zeiten Richard Nixons in den späten 1960ern und frühen 1900ern oder Ronald Reagans in den 1980ern war. Er ist gewachsen, diverser und liberaler geworden. Doppelt so viele Einwohnerinnen und Einwohner wählen demokratisch wie republikanisch, und keinem Republikaner ist es in den vergangenen 15 Jahren je gelungen, in ein staatliches Amt gewählt zu werden. Donald Trump gewann 2020 in Kalifornien lediglich 34,2 Prozent der Stimmen.
Wäre Kalifornien mit seinen 40 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern ein souveränes Land, es hätte, wie seine Politiker zu betonen nicht müde werden, die fünftstärkste Volkswirtschaft der Welt. Was aber nicht heisst, dass der Staat am Pazifik keine Probleme und kein Potenzial für Unzufriedenheit unter der Bevölkerung hat, die sich instrumentalisieren lassen.
Kaliforniens Probleme sind bei allem wirtschaftlichen Erfolg, Stichwort Silicon Valley, augenfällig. Der Staat leidet unter stossenden Einkommensunterschieden, gravierender Wohnungsnot, unübersehbarer Obdachlosigkeit, steigenden Verbrechensraten sowie zerstörerischen Waldbränden und Dürreperioden. Covid-19 hat nicht dazu beigetragen, die diversen Probleme zu lindern – im Gegenteil. Laut einer Umfrage fanden noch im September 47 Prozent der Bevölkerung, Kalifornien befinde sich nicht auf dem richtigen Weg. Eine Minderheit von 41 Prozent war vom Gegenteil überzeugt.
Es ist also bis zu einem gewissen Grad nachvollziehbar, dass die Republikaner des Staates auf den Gedanken verfielen, einen demokratischen Gouverneur abwählen zu lassen, dessen Beliebtheitswerte zwar um die 50 Prozent schwanken, dessen Management der Corona-Pandemie aber zumindest umstritten war, vor allem was das obligatorische Maskentragen oder die Schulschliessungen betraf.
Und nachvollziehbarer wurde es, als sich Gavin Newsom während der Pandemie noch Schnitzer leistete. Er dinierte mit einem befreundeten Lobbyisten in einem Luxusrestaurant im Napa Valley, nachdem er der Bevölkerung geraten hatte, zu Hause zu bleiben und nicht zu reisen, und er schickte seine Kinder zum Privatunterricht, als die öffentlichen Schulen geschlossen waren. Auch innerhalb seiner Partei ist der Gouverneur nicht unumstritten: Progressiven ist er zu lasch in Umweltfragen, Moderaten zu liberal. Er habe, heisst es, zwar Visionen, lasse diesen aber nur selten Taten folgen. Auch fehle ihm eine wirklich engagierte Basis.
Trotzdem war es arrogant und ungeschickt, dass sich die Republikaner im Abstimmungskampf einer Taktik Donald Trumps bedienten und den Urnengang, unterstützt von rechten Medien, schon zum Voraus als gefälscht oder «gestohlen» bezeichneten. Demokraten, so das Argument, könnten in Kalifornien nur gewinnen, wenn es zu massivem Wahlbetrug komme, eine Unterstellung, die auch der Ex-Präsident lauthals verbreitete.
Was wiederum einen konservativen Kommentator zur Einschätzung verleitete, Trump verleite das republikanische Wahlvolk dazu, nicht stimmen zu gehen, weil es überzeugt sei, der Ausgang des «recall» sei sowieso eine vollendete Tatsache. Auch stellten sich auf republikanischer Seite mehr als 45 teils dubiose und meist unbekannte Kandidatinnen und Kandidaten zur Wahl, unter denen dem erzkonservativen schwarzen Radio-Moderator Larry Elder am ehesten Chancen eingeräumt wurden.
Gavin Newsoms Wahlberater Sean Clegg dagegen kam angesichts der Betrugsvorwürfe zum Schluss, es gebe in Amerika keine demokratische und keine republikanische Partei mehr, sondern lediglich noch eine demokratische und eine anti-demokratische Partei. Was derzeit in Kalifornien geschehe, werde sich 2022 bei den Zwischenwahlen zum Kongress und 2022 bei der Präsidentenwahl wiederholen.
Der demokratischen Partei aber erschien das Risiko einer Abwahl Newsoms als zu gross, um nicht engagiert für ihren Gouverneur zu kämpfen. Der Gouverneur persönlich sammelte mehr als 70 Millionen Dollar an Wahlkampfspenden, und selbst Präsident Joe Biden flog Anfang Woche in Kalifornien ein, um einerseits die Folgen der Waldbrände zu besichtigen und anderseits für Gavin Newsom zu werben.
«Der Entscheid, den ihr treffen werdet, wird im ganzen Land nachhallen», sagte Biden in Long Beach: «Wie ihr alle wisst, bin ich letztes Jahr gegen den wahren Donald Trump angetreten. Dieses Jahr ist der führende republikanische Kandidat für Gouverneur das nächste Ding zu einem Trump-Klon, das ich je in eurem Staat gesehen habe.» Auch Vizepräsidentin Kamala Harris, eine frühere Senatorin im Staatsparlament, war in der Woche zuvor nach Kalifornien geflogen, um einem «grossen amerikanischen Führer» Wahlhilfe zu leisten.
Am Ende hat Gavin Newsom am Dienstag seine Abwahl mit deutlichem Mehr abwenden können, wobei die endgültigen Ergebnisse des «recall» erst in einigen Tagen bekannt werden dürften. Schon jetzt aber ist klar, dass die Taktik der Republikaner, wie Donald Trump auf unbewiesenen Wahlbetrug zu setzen und die Corona-Pandemie zu verharmlosen, nicht aufgegangen ist. Umgekehrt dürfte es den Demokraten geholfen haben, den Abwahlversuch in Kalifornien als ein Ereignis von nationaler Bedeutung zu definieren und republikanische Gegner als Trump-ergebene Extremisten zu zeichnen. Ob das nächstes Jahr bei den Zwischenwahlen auch gelingen wird, bleibt offen.
In seiner fünfminütigen Siegesrede in Sacramento sagte Gouverneur Newsom, sein Sieg sei weniger ein Grund zum Feiern als eine Gelegenheit, erleichtert auszuatmen. «Wir haben vielleicht Trump besiegt, aber der Trumpismus in diesem Lande ist nicht tot», sagte der 54-jährige Politiker: «’ The Big Lie’, der Aufstand des 6. Januar, alle Versuche, überall im Lande das Wählen zu erschweren, die Attacken auf fundamentale Rechte, auf verfassungsmässig garantierte Rechte für Frauen und Mädchen – wenn man all das besieht, ist es ein bemerkenswerter Moment in der Geschichte unseres Landes.»