Das Gesamtbild in Afghanistan und rund um das Land herum wirkt so drohend, dass eine Rettung Afghanistans kaum mehr möglich scheint. Die Konferenz wird 10 Jahre nach einer ersten, optimistischen Bonn-Konferenz abgehalten. Sie fand nach dem vermeintlichen Sieg der Amerikaner in Afghanistan über die Taleban statt, den man heute als der Beginn einer Niederlage beurteilen muss.
Fehlgeschlagene Vorbereitung
Damals verpflichteten die Staaten des europäischen Westens sich, Afghanistan den Weg in eine demokratische Zukunft zu ebnen. Heute geht es darum, die Zukunft des Landes nach dem auf 2014 angesagten Abzug der Amerikaner sicher zustellen.
Im Vorfeld der Konferenz hatte es direkte und indirekte Geheimverhandlungen zwischen den Amerikanern, den Pakistanern, der Karzai-Regierung Afghanistans und den Taleban gegeben. Sie strebten einen Waffenstillstand mit den Taleban an und boten diesen dafür ein Mitspracherecht im künftigen Afghanistan.
Doch diese Verhandlungen schlugen fehl. Sogar die bescheidene Hoffnung, dass die Eröffnung eines Büros der Taleban in Quatar stattfinden könnte, das permanente Kontakte zwischen den Taleban und den anderen Mächten erlaubte, liesssich nicht verwirklichen.
Ermordung des afghanischen Hauptunterhändlers
Die Kontakte und Geheimverhandlungen brachen ab, als Burhaneddin Rabbani im vergangenen September in Kabul ermordet wurde. Rabbani, ein ehemaliger Präsident Afghanistans und Chef einer der wichtigsten Kampfparteien zur Zeit des Kriegs gegen die Sowjetunion (1978 bis 1988), war von Präsident Karzai zum Leiter einer afghanischen Versöhnungskommission ernannt worden, die versuchte, mit den Taleban zu verhandeln.
Wer hat ihn ermordet? Karzai erklärte damals: Es waren die Pakistani. Doch die Pakistani dementierten wutentbrannt, und Karzai sagt dies heute nicht mehr. In Frage kämen auch die Taleban oder eine ihrer Faktionen, die nichts von Friedensfühlern wissen wollte. Die Taleban schweigen sich aus.
Die Kontakte der Amerikaner und der Karzai-Regierung mit den Taleban sind seither abgebrochen. Von den Pakistani ist anzunehmen, dass sie in permanentem Kontakt mit der Taleban-Führung stehen, weil diese zweifellos unter dem Schutz der pakistanischen Geheimdienste in Pakistan lebt. Was allerdings die pakistanischen Sprecher systematisch und redegewandt dementieren.
Pakistan beansprucht eine führende Rolle
Es ist bekannt, dass die Pakistani ärgerlich darüber waren, dass die Amerikaner versuchten, direkt mit den Taleban ins Gespräch zu kommen, ohne sie einzuschalten. Pakistan möchte führend an allen Verhandlungen mit den Taleban teilnehmen, was verständlich ist. Wenn die Amerikaner abziehen, werden wahrscheinlich die Taleban Afghanistan mit oder ohne Friedensabkommen ganz oder teilweise beherrschen.
Schon heute kontrollieren sie 10 bis 15 Prozent des afghanischen Territoriums. Wenn sie nur teilweise herrschen sollten, wird dies gerade in jenen Gebieten sein, die von Paschtunen bewohnt werden, das heisst im Süden Afghanistans mit seiner durchlässigen Grenze zu den paschtunischen Stammesgebieten Nordpakistans. Denn eine "Beteiligung" der Taleban an Afghanistan müsste sich in den Paschtunengebieten verwirklichen. Natürlich könnte aus einer solchen Beteiligung in einigen Jahren möglicherweise auch eine Herrschaft über das ganze Land werden.
Pakistan boykottiert Bonn 2
Pakistan will und muss dabei unbedingt mitreden und mitbestimmen. Genau dies war ja der Zweck der langen Jahre der Asylgewährung der Taleban-Führung in Pakistan unter Geheimhaltung vor der Aussenwelt, besonders der amerikanischen.
Doch Pakistan, die wichtigste Aussen- und (via Taleban) auch Innenmacht für Afghanistan, boykottiert die Grosskonferenz von Bonn. Nicht einmal dringende Aufrufe der amerikanischen Aussenministerin Clinton haben vermocht, die Pakistani zur Teilnahme zu bewegen. Auch die Taleban sind nicht auf der Konferenz vertreten.
Pakistan im Konflikt mit den USA
Pakistan begründet seinen Boykott mit der Empörung über den Tod von 24 pakistanischen Soldaten im paschtunischen Grenzgebiet, jedoch auf der pakistanischen Seite, durch den Luftangriff von Nato-Flugzeugen vom 24. November. Die pakistanische Armee, die das Geschehen im Lande viel stärker bestimmt als die Regierung, ist entschlossen, ihre Empörung so deutlich wie möglich zu zeigen. Sie hat auch den Nachschub nach Afghanistan über die Khyber-Strasse unterbrochen.
Die pakistanische Armee reibt sich seit Monaten immer stärker mit den Amerikanern. Den Ausgangspunkt dieser Entwicklung bildeten die immer deutlicheren Aussagen amerikanischer Militärs über den Schutz, den die Taleban in Pakistan finden, ungeachtet aller pakistanischen Dementis. Dazu kamen andere Reibungspunkte: mit der CIA wegen der Tötung Bin Ladins, ohne Pakistan darüber zu informieren; und immer wieder wegen der Übergriffe von amerikanischen Drohnen und Nato-Kriegsflugzeugen auf pakistanisches Gebiet mit den zivilen Toten, die diesen Angriffen sehr oft, ja fast immer, zum Opfer fielen.
Die Verantwortung für die Stammesgebiete
Die Amerikaner erklären den Pakistani, sie sähen sich gezwungen, die Taleban und ihre Freunde, die pakistanischen Taleban, im Grenzgebiet auch auf der pakistanischen Seite zu verfolgen und mit Bomben unschädlich zu machen, weil die pakistanische Armee nicht in der Lage oder nicht willens sei, in den Grenzgebieten Ordnung zu halten und den Taleban das Handwerk zu legen.
Die pakistanischen Offiziere entgegnen, was ihre Armee in ihrem Lande unternehme oder unterlasse, hätten sie zu beurteilen und zu beschliessen. Sie weisen auch darauf hin, dass ihre Armee im Kampf gegen die Taleban und ihre Freunde (auf pakistanischem Gebiet) sehr viel mehr Menschenleben verloren habe als die Amerikaner in ganz Afghanistan. Sie versichern, das Berggebiet der paschtunischen Stämme sei auf die Dauer nur durch politische Massnahmen ruhig und unter Kontrolle zu halten. Militärische Schritte müssten begrenzt bleiben. Sie können dabei auf die Erfahrungen verweisen, die die Amerikaner gegenwärtig in Afghanistan machen.
Doch die Amerikaner entgegnen ihrerseits, dass ein guter Teil ihrer Schwierigkeiten in Afghanistan auf die offene Grenze nach Pakistan zurückgehe, welche den Taleban und ihren Freunden, besonders der Kampfgruppe unter der Haqqani Familie, Schlupfwinkel jenseits der afghanischen Grenze verschaffe. Ohne dieses Asyl zu liquidieren, so sagen sie, sei den paschtunischen Taleban in Afghanistan nicht beizukommen.
Die Hilfsgelder verschärfen den Streit
Der Umstand, dass die Amerikaner Pakistan viel Geld bezahlen und Land und Armee auf dieses Geld angewiesen sind, verschärft die Diskussion statt, sie zu mildern. Die Amerikaner verweisen auf die 20,5 Milliarden Dollar, die Pakistan von ihnen seit 2001 empfangen habe. Etwa 70 Prozent davon geht an die pakistanische Armee.
Die Pakistani sind der Ansicht, dass sie durch das Bündnis mit den Amerikanern viel grössere Opfer erbracht hätten als diese lumpigen 20 Milliarden. In der Tat droht ihr Land durch die Kriege und deren Folgen nach und nach zusammenzubrechen.
Unter diesen Umständen bietet der irrtümliche Angriff der Nato vom vergangenen Monat den politischen Köpfen der pakistanischen Armee einen willkommenen Vorwand, sich von den Amerikanern zu distanzieren. Sie setzen ihre Druckmittel ein, um zu versuchen von den Amerikanern ein klares Zugeständnis zu erpressen, dass sie, die militärische Führung Pakistans, über die Zukunft ihres nördlichen Nachbarlandes entscheidend mitzubestimmen habe, wenn es darum geht, das Afghanistan der Zeit nach dem amerikanischen Abzug zu konfigurieren.
Gute Absichten gegen Realitäten
Bonn 2, so gross angelegt es sein mag und so viel guter Wille gezeigt und grosszügige Deklarationen am Ende auch abgeben werden, droht ein Opfer des amerikanisch-pakistanischen Ringens um die Zukunft Afghanistans zu werden. Der Ausgang dieses Ringens jedoch ist von vorneherein festgelegt.
Die Amerikaner werden abziehen. Sogar wenn sich andere Mächte finden liessen, welche bereit wären, die 7 Milliarden Dollar jährlich zu bezahlen, welche die im Aufbau begriffene afghanische Armee kosten soll und die Afghanistan nicht aufbringen kann, wäre dennoch fraglich, ob diese geplante Armee ohne die Amerikaner und die Nato-Truppen den Taleban würde standhalten können. Pakistan jedenfalls ist offenbar nicht gewillt, auf diese erhoffte afghanische Armee zu setzen. Pakistan gedenkt, sich zu gegebener Zeit mit den Taleban zu verständigen.