Knapp 59% für den amtierenden Staatschef, 41% für Marine Le Pen. Sieben Prozentpunkte mehr als vor fünf Jahren. Trotz aller Erleichterung, die extreme Rechte verhindert zu haben, dem alten und neuen Präsidenten stehen schwere Zeiten bevor.
Keine Frage: Frankreich, ja ganz Europa, hat noch einmal Glück gehabt. Die Nation mit ihren 67 Millionen Einwohnern, hat der extremen Rechten noch einmal eine Abfuhr erteilt und letztlich sogar deutlicher, als es die Meinungsumfragen befürchten liessen.
«Ouf». Dieses lautmalerische französische Wort, welches grosse Erleichterung und ein tiefes Durchatmen zum Ausdruck bringt, war gestern um 20 Uhr sicherlich das meistgebrauchte nach Bekanntgabe der ersten Hochrechnungen.
Das Wesentliche wurde gerettet und Frankreich sowie Europa dürfen sich in Gewissheit wiegen, es normalerweise fünf Jahre lang nicht mit einer ökonomisch erratischen, dezidiert europafeindlichen und offen xenophoben Präsidentin im Élyséepalast zu tun zu haben, welche ihr Gesellschaftsmodell in Ungarn und Polen abgeschaut hat und mit einem gewissen Herrn Putin zehn Jahre lang engste Kontakte gepflegt hatte.
Schock
Doch trotz aller Erleichterung bleibt dieses Wahlergebnis ein Schock: 13,3 Millionen Französinnen und Franzosen – 2,7 Millionen mehr als vor fünf Jahren – haben an diesem 24. April 2022 für die extreme Rechte und eine Kandidatin gestimmt, die sich anschickte, gleich eine ganze handvoll rechtsstaatlicher Prinzipien über Bord zu werfen, das französische Verfassungsgericht und das Parlament übergehen zu wollen, die Justiz ans Gängelband zu nehmen, einen schleichenden «Frexit» in Gang zu setzen und über ein illegales Referendum sämtliche Ausländer im Land zu Bürgern zweiter Klasse zu erklären.
Marine Le Pen, die gestern Abend ihre Niederlage angesichts der gut 41% postwendend als grossen Sieg feierte und anklingen liess, dass sie es in fünf Jahren noch einmal, ein viertes Mal, versuchen könnte. Und gab sich, wenn man so will, als eine Art strahlende Verliererin.
Demokratisches Aufbäumen
Ganz offensichtlich haben gestern am Ende genügend der 7,7 Millionen Wähler des Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon im ersten Durchgang, die als das berühmte Zünglein an der Waage die letzten 14 Tage über hofiert worden waren, sich doch entschieden, das aus ihrer Sicht kleinere Übel zu wählen, sind nicht zu Hause geblieben oder haben einen leeren Umschlag in die Urnen geworfen, sondern murrend doch für Emmanuel Macron gestimmt. Angeblich waren es rund 50% der Mélenchon-Wähler.
Letztendlich haben also die Überreste der immer wieder beschworenen, aber inzwischen ausgesprochen brüchigen «Republikanischen Front», um den Einzug der extremen Rechten in die höchsten Staatsämter zu verhindern, noch einmal, wenn auch ausgesprochen holpernd und zögerlich, funktioniert.
Nicht die grosse Euphorie
Emmanuel Macron hat die Wiederwahl geschafft, letztlich sogar mit einem besseren Ergebnis, als letzte Umfragen das vorhergesagt hatten. Und doch, irgendwo ist der Glanz ab. Bei seiner überinszenierten Wahlfeier auf dem Marsfeld zwischen den vier Grundpfeilern des Eiffelturms, wo er, von seiner Frau und von Kinder begleitet, minutenlang zur Bühne schritt, so als würde eine Grossfamilie zur Messe gehen, bei dieser Feier wollte einfach keine echte Freude aufkommen.
Auch Macrons Rede an diesem Abend war für seine Verhältnisse extrem konventionell und ohne jede Überraschung, ja fast verhalten. Entsprechend hielt sich auch die Begeisterung seiner Anhänger sehr in Grenzen. Alles in allem ein Sieg ohne grossen Enthusiasmus.
Es war, als sei im Grunde allen klar, dass hier unter dem Eiffelturm einer auftritt, der allzu gut weiss, dass er diesen Sieg nicht seiner Bilanz der letzten fünf Jahre, nicht seinem Programm und auch nicht seiner Person zu verdanken hat, sondern ganz wesentlich der Ablehnung von Marine Le Pen durch eine Mehrheit der Franzosen.
Schwere Zeiten
Angesichts des hohen Wahlergebnisses für Le Pen, der Tatsache, dass fast 30% nicht zur Wahl gegangen sind und der tiefen Brüche, die sich durch die französische Gesellschaft ziehen, darf man berechtigterweise fragen, was Emmanuel Macron in den kommenden fünf Jahren wird bewirken können.
Gewiss, er hat versprochen, der Tatsache Rechnung zu tragen, dass er seinen Sieg denen verdankt, die nicht ihn wählen wollten, sondern die extreme Rechte verhindern.
Doch dieses Versprechen hatte er auch vor fünf Jahren schon gegeben und es dann sehr schnell wieder vergessen. Seitdem glauben ihm die Franzosen noch ein ganzes Stück weniger. Und es fällt auch heute schwer zu glauben, dass der wiedergewählte Präsident an seinem Regierungsstil, der von vielen als arrogant empfunden wird, grundsätzlich etwas ändern wird.
Dabei kann ihm nicht entgangen sein, dass eine schwer zu definierende Wut im Land herrscht und ein Hauch von Konfrontation in der Luft liegt.
Selbst im Umkreis von Macron fragen sich manche, ob man gestern Abend nicht einen Pyrrhussieg errungen hat. «Was mir Sorgen macht», so ein Minister drei Tage vor der Wahl, «ist weniger das Ergebnis am Sonntag, sondern die fünf Jahre, die uns bevorstehen. Wenn wir gewinnen, steuern wir auf ein ordentliches Chaos zu».
Das gespaltene Land
Macron hat es in den letzten fünf Jahren nicht nur nicht geschafft, die extreme Rechte zurückzudrängen – manche werfen ihm gar vor, er hätte sich sehr gut mit ihr abgefunden und sie indirekt gefördert –, sondern er muss sich sagen lassen, dass er nichts zustande gebracht hat, um das gespaltene Frankreich wieder zusammenzubringen. Eher im Gegenteil.
Nur ein Beispiel: Gestern haben laut Meinungsforschungsinstituten 77% der leitenden Angestellten und 70% der Rentner für Macron gestimmt, aber 67% der Arbeiter für Le Pen. Gleichzeitig sind 40% der Jungwähler gleich gar nicht an die Urnen gegangen.
Parlamentswahlen
Die Präsidentschaftswahl war gestern Abend noch kaum beendet, da diskutierte man in Fernseh- und Radiostudios bereits heftig über die kommenden Parlamentswahlen am 12. und 19. Juni. Als wolle man die Spannung aufrechterhalten, taten Politiker und Experten so, als könnte dabei tatsächlich eine Mehrheit zustande kommen, die den Präsidenten zu einer Kohabitation zwingen könnte, mit einem Premierminister aus dem eher linken Lager. Der Linkspopulist, Jean-Luc Mélenchon, mit seinen 22% im ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen hat sich am gestrigen Abend dafür erneut ins Spiel gebracht.
Und auch auf der anderen extremen Seite haben sowohl Marine Le Pen als auch ihr rechtsextremer Widersacher, Éric Zemmour, dazu aufgerufen, alle Patrioten sollten sich zusammenschliessen, um bei den Parlamentswahlen Macron in die Quere zu kommen.
Das Problem: Ob links oder extrem rechts, sie müssten es fertigbekommen, dass in allen 596 Wahlkreisen tatsächlich nur ein einziger Kandidat aus ihrem alles andere als geeinten Lager antritt, das heisst eine Art Koalition vor der Wahl einzugehen. Und das scheint eher unwahrscheinlich.
Das Beste, was aus der Sicht von Mélenchon, Le Pen und Zemmour passieren kann ist, dass Macron keine klare Parlamentsmehrheit erhält und die Situation in der Nationalversammlung mehr oder weniger blockiert ist.
Auch dies würde die kommenden fünf Jahre für den frisch wiedergewählten Präsidenten nicht leichter machen.