Fünf aufreibende Wochen nach der Landtagswahl hat Thüringen wieder einen Ministerpräsidenten. Es ist der alte – Bodo Ramelow. Und auch die dahinter stehende Mannschaft ist die alte – rot-rot-grün, oder auch Linke, Sozialdemokraten, Grüne.
Diese Entscheidung des Erfurter Regionalparlaments hat wenigstens zunächst einmal die Hängepartie beendet, die das politische Treiben in dem in der Mitte Deutschlands liegenden Bundesland seit Anfang Februar lähmte. Das heisst jedoch keineswegs, dass nun wieder Ruhe – oder gar Stabilität – eingekehrt wäre in das öffentliche Leben im Staat Germanien. Denn die Wiederwahl Ramelows war keineswegs ein Sieg. Der Ministerpräsident steht nämlich nur einer Minderheitsregierung auf wackeligem Boden vor. Aber die Opposition aus CDU, FDP und der rechtsaussen agierenden Alternative für Deutschland (AfD) verfügt eben auch über keine Mehrheit.
Entschiedenes Sowohl-als-auch der CDU
Es spricht immerhin für den alt/neuen Ministerpräsidenten als auch für die Haltung der thüringischen Christdemokraten, dass sie einen Weg fanden, das Land und damit letztlich auch das demokratische System vor Schaden zu bewahren. Das gilt auch dann, wenn Kritiker von einer Trickserei sprechen sollten. Aber die war legal. Die Erfurter CDU-Parlamentarier mussten sich schliesslich zugleich auch aus einer unangenehmen Zwickmühle befreien. Sie standen – einerseits – unter dem Kuratel des so genannten Unvereinbarkeitsbeschlusses der christdemokratischen Bundespartei. Also: Kein Zusammengehen und schon gar keine Kooperation mit der (in Teilen ganz sicher) rechtsextremen AfD und auch nicht mit den Nachfolgern der einstigen DDR-Staatspartei, den heutigen Linken. Aber darf man deshalb ein ganzes Bundesland führungslos lassen?
Was sich schliesslich im Erfurter „Hohen Haus“ vollzog, war in Wirklichkeit die Umsetzung kluger Vorschläge von gewieften Verfassungsrechtlern. Statt – wie allgemein vermutet – einige Kollegen bei der geheimen Wahl als Mehrheitsbeschaffer Ramelows von der Leine zu lassen, entschied man sich bei der CDU für ein politisches Sowohl-als-auch. Anders gesagt, man half nicht „aktiv“ dabei, „Bodo-ohne-Macht“ auf den Ministerpräsidenten-Sitz zu hieven, indem man am Ende halt einfach nicht für ihn stimmte.
In den zwei Wahlgängen zuvor, in denen die absolute Mehrheit gefordert war, votierte die CDU-Fraktion noch mit „Nein“. Im entscheidenden dritten Urnengang hingegen enthielten sich die Christdemokraten, wodurch Ramelow die notwendige einfache Majorität bekam. Ein kompliziertes Verfahren, gewiss. Aber doch auch wieder geschickt, weil – erstens – tatsächlich die Sorge um Land und Leute im Vordergrund stand, und – zweitens – die bei der vergangenen Landtagswahl gross und nahezu übermütig gewordene AfD mit deren rechtsextremen thüringer Vorsitzenden Björn Höcke in die Grenzen verwies.
Keine Ruhe und Entspannung
Also wieder Ruhe im Karton und Normalität in der deutschen Politik? Von wegen. Man muss wirklich kein Prophet sein, um gesellschaftliche Entspannung in ganz weiter Ferne zu sehen. Das Land sucht sich, im Gegenteil, offensichtlich selbst. Vielen Bürgern fehlt ein politischer Halt. Sicher, Thüringen ist unter den deutschen Ländern bei weitem nicht das grösste. Und, auch wahr, es ist Teil der einstigen DDR und schleppt damit eben auch spezielle, vor allem psychologische, Belastungen mit sich. Aber reicht das aus als Erklärung dafür, dass dort erstmals die früher als politische „Ränder“ bezeichneten Parteien links- und rechtsaussen stärker wurden als die politische Mitte?
Nicht nur medial tobt ja im Moment ein lauter Streit durch die deutschen Gaue, ob man denn wirklich „links“ und „rechts“ in der Ablehnung gleichwertig ansehen dürfe. Welch ein Unsinn! Natürlich hat die SED keinen Krieg begonnen und auch keine Konzentrationslager eingerichtet. Und natürlich gibt es, umgekehrt, in der AfD und über diese hinaus erschreckend viele Menschen, die wieder ganz offen mit Nazi-Parolen durch die Strassen ziehen und selbst vor Morden nicht zurückschrecken.
Jawohl, daraus erwächst zurzeit die grösste Gefahr im Lande. Umso mehr aber sind die Demokraten gefordert. Doch welch traurige Realität steht dieser Pflicht gegenüber. Der beklagenswerte Zustand der ältesten demokratischen Partei im Lande, der SPD, gibt eher zu Depressionen als zu Hoffnung auf Besserung Anlass. Aber ist die andere Volkspartei, die CDU, besser dran? Allein schon die Tatsache, dass der Wirbel um den ersten Versuch zur Wiederwahl Bodo Ramelows vor vier Wochen (also um die „gemeinsame“ Aktion von CDU, FDP und AfD) die christdemokratische Parteivorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer entnervt den Krempel hinschmeissen liess und die CDU sich in den kommenden Wochen möglicherweise in einen gnadenlosen Kampf um die nächste Führung und den künftigen Kurs verstricken wird – allein schon das zeigt die labile Verfassung von Staat, Politik und Gesellschaft.
Von aussen her betrachtet, erscheint die Lage mitunter kaum nachvollziehbar. Es geht der Bundesrepublik Deutschland gut, so gut wie eigentlich nie in der deutschen Geschichte. Dennoch herrscht in weiten Teilen der Öffentlichkeit eine nur schwer beschreibbare trübe Stimmung. Irgendwie ein Gemisch von Unsicherheit und Angst vor der Zukunft, Pessimismus und Misstrauen gegenüber der Belastbarkeit des demokratischen Systems.
Zauberwort „Konstruktive Opposition“
In diese Gemengelage passt der Kompromiss von Erfurt. Denn die Wahl von Bodo Ramelow war natürlich alles andere als ein Triumph. Neudeutsch könnte man von einem „deal“ sprechen. Die CDU sagte den Rot-Rot-Grünen eine „konstruktive Opposition“ zu. Dafür verzichteten die – zurzeit auf einem Popularitätshoch schwebenden – Linken im Verein mit den verbündeten Juniorpartnern SPD und Grünen auf die Forderung nach sofortigen Neuwahlen. Stattdessen setzte man dafür den 25. April 2021 fest. In diesem Jahr können tatsächlich etliche wichtige Entscheidungen für das Land getroffen werden, allen voran der Haushalt. Und zwar mit Unterstützung der CDU. Also, der thüringischen Christdemokraten. Denn man darf gespannt sein, wie in Berlin der Erfurter Alleingang aufgenommen wird und wie er auf die Kür der Kandidaten um das künftige Spitzenamt wirkt.
Zumal sich mit der Zuspitzung der Flüchtlingsproblematik an der griechischen Grenze nicht zuletzt für Deutschland eine neue, vielleicht dramatische Entwicklung vollzieht. Eine erneute Masseneinwanderung wie 2015 würde die Bundesrepublik mit Sicherheit weder politisch noch gesellschaftlich bewältigen. Umso wichtiger wäre eine starke Regierung, wären kraftvolle Parteien. Doch diese atomisieren sich, so scheint es, gegenwärtig lieber selbst.