Indien steht vor einem Scherbenhaufen in seinem Kampf gegen die Pandemie. Nach zwei Monaten Lockdown breitet sich das Corona-Virus weiter aus und hat nun über 100’000 Menschen erreicht, für dreitausend von ihnen mit tödlichen Folgen.
130 Millionen Wanderarbeiter
Dabei muss man die Dunkelziffer für Infektionen höher als in anderen Ländern setzen; 1 Million Tests lässt für ein Land, das dreizehnhundertmal mehr Bewohner hat, eine weit höhere Ansteckungszahl befürchten. Dasselbe gilt für die Toten: Selbst in normalen Zeiten wird nur für ein Viertel der Sterbefälle die Todesursache ärztlich zertifiziert.
Die Stilllegung des öffentlichen Lebens mag den Grossstädten geholfen haben, einen medizinischen Notfallbetrieb auf die Beine zu stellen. Aber der überfallartige Würgegriff hatte eine Massenpanik ausgelöst, die Millionen von Arbeitsmigranten zur Flucht auf die Strasse und zurück in ihre Dörfer trieb.
Indien zählt (gemäss Volkszählung von 2011) hundertdreissig Millionen Personen, die jedes Jahr ausserhalb ihres eigenen Bundesstaats Arbeit finden. Die Migration im eigenen Bundesstaat ist mehr als doppelt so hoch. Trotzdem ignorierte ein hastig geschnürtes Hilfspaket drei Tage nach dem Lockdown diese Millionen von mittellosen Flüchtlingen völlig.
Hilfspaket als luftiges Konstrukt
Es dauerte dann fast fünfzig Tage, bis Premierminister Modi am 12.Mai ein umfassendes Hilfspaket verkündete. Es war so umfassend, dass die Finanzministerin fünf tägliche Medienkonferenzen brauchte, um es vorzustellen. Auch die riesige Geldsumme – mit 20 Billionen Rupien (ca. 255 Milliarden Dollar) zehn Prozent des Wirtschaftsprodukts – sollte wohl den Eindruck vermitteln, dass der Staat nichts scheut, um die Krise aufzufangen.
Doch Indien ist ein armer Staat, dessen schwache Wirtschaftsleistung in den letzten Jahren zu einer Überschuldung der öffentlichen Finanzen geführt hat. Das Hilfspaket ist daher in grossen Teilen ein luftiges Konstrukt, das nur dann zu Liquidität wird, wenn der Empfänger Vorausleistungen erfüllt.
Fast die Hälfte der Summe – 130 Milliarden Dollar – sind Darlehen der Zentralbank an die Geschäftsbanken, die MSME-Unternehmen („Micro, Small and Medium Industries“) verbilligte Investitionskredite offerieren. Doch kaum freigestellt, verzichteten die meisten Banken darauf, „wegen mangelnder Nachfrage“.
Kaum Sozialschutz für KMU-Arbeiter
Wer denke schon an Investitionen, zitierte die Zeitung MINT eine Bank, wenn ein Produktionsbeginn ohne die geflüchteten Arbeiter eine Chimäre ist und wenn sich viele Konsumenten ohnehin im Lockdown befänden und ihre Kaufkraft eingebüsst hätten. Viele der Unternehmen hatten Cash-Auszahlungen erwartet, um zumindest Leermieten zu bezahlen.
Inzwischen sind die meisten Belegschaften ihren Arbeitgebern gerade in den MSME-Betrieben davongelaufen. Im Gegensatz zu den Grossbetrieben mit Festangestellten geniessen die MSME-Vertragsarbeiter kaum Sozialschutz und hofften, ihre Existenz zuhause im Dorf zu sichern.
(Eine Auflistung der MSME-Sektoren in der letzten Volkszählung zeigt farbig, wie breitgelagert diese Tätigkeiten sind: „Textiles, construction, stone quarries and mines, brick-kilns, small-scale industry: diamond cutting, leather accessories, etc., crop transplanting, sugarcane cutting, rickshaw-pulling, fish and prawn processing, salt panning, domestic work, security services, sex work, small hotels and roadside restaurants, tea shops and street vending”.)
Nicht bezahlte Steuern als Finanzhilfe
Auch andere Massnahmen im „Modi Package“ gehen am aktuellen Bedarf – der Existenzsicherung und der Schaffung einer minimalen Nachfrage – vorbei. Dazu zählen bizarrerweise ausländische Direktinvestitionen in die Waffenindustrie, die Teilnahme privater Firmen in Weltraum-Technologien, die Privatfinanzierung von sechs neuen Flughäfen. Ebenso kaltblütig verkündete die Finanzministerin, entgangene Steuereinnahmen wegen dem Corona-Virus seien Geld, das beim Konsument bleibe; deshalb werde es als Teil ihrer Finanzhilfe mitgezählt!
Nur etwa zehn Prozent der 255 Milliarden Dollar, so errechnete der Indian Express, könne als echte Finanzhilfe gelten, das den Armen direkt hilft, ihr Überleben sicherzustellen. Dazu gehört die Erhöhung des Beitrags für das Programm der Ländlichen Beschäftigungsgarantie um 5,5 Milliarden Dollar.
„There is no free lunch in life“
Dieses bereits bestehende Programm sieht vor, dass ländliche Arbeitslose während maximal hundert Tagen staatlich beschäftigt werden oder für diese Zeit einen Mindestlohn beziehen können. Es wurde von der Kongressregierung lanciert, und während Jahren wurde es von Modi vernachlässigt. Nun ist es die nahezu einzige Massnahme, die den Zugang zu Arbeit für Arme verbessert – mit Geld, das ihnen das Gesetz ohnehin zusichert.
Das vom Premierminister laut verkündete Modi Package entpuppt sich, wenn nicht als Mogelpackung, so doch als eine ausserordentlich kleinliche Aufforderung an den Bürger, selbst etwas zu tun, falls man an Geld – in Form eines Kredits notabene – kommen will. Der Spitzenbeamte des Finanzministeriums war ehrlich genug, in einem Kommentar das altbekannte Mantra des Geldverleihers zu zitieren: „There is no free lunch in life“.
Für Millionen von obdachlosen Migranten, die für ihr Überleben auf freie Mahlzeiten angewiesen sind, streut eine solche Formulierung Salz in die Wunden. Und in seiner Ankündigung vom 12. Mai unternahm der Premierminister nichts, um deren Leiden zumindest mit Worten zu lindern oder sich für das Missmanagement des Lockdown zu entschuldigen.
Modis Opfer-Rhetorik
Im Gegenteil: Bei der Ankündigung des „Modi Package“ erwähnte er das Schicksal der Millionen Menschen auf der Flucht mit keinem Wort. Stattdessen fuhr fort, vom Volk Opfer zu verlangen. Opferbereitschaft sei der Preis, mit dem es ihm helfe, das Land durch die Krise zu bringen. Nur so könne er daraus wieder die stolze Nation machen, die es einmal gewesen sei.
Es ist eine seit Beginn der Krise verfolgte Rhetorik – und sie zahlt sich aus. Trotz dem chaotischen Lockdown ist Modis Popularität ungebrochen. Selbst in den Slums – und sogar in Auffanglagern für Migranten – können die meisten Befragten kein Fehlverhalten ihres Premierministers feststellen.
Dieses geht auf das Konto der Politiker, Minister, der Bürokratie – aber Modi ist eben kein gewöhnlicher Politiker, sondern der strenge, besorgte Landesvater. Und er sorgt dafür, dass sich diese Unterscheidung durchsetzt. Tägliche Medienkonferenzen mit konkreten Massnahmen, Zielen, Korrekturen überlässt er den Beamten und Ministern. Er selber tritt nur alle paar Wochen vor die Kameras, bleibt hinter verschlossenen Türen, gibt keine Interviews.
Nicht zum ersten Mal nimmt Modi mit seiner Opfer-Rhetorik an Mahatma Gandhi Mass. Auch dieser appellierte an die reinigende Kraft des Leidens. „Gewaltlosigkeit“ war nicht nur gewaltfreies Handeln, sondern eine Kraft, die Gewalt des Täters zu erdulden. So klingt es auch bei Modi: „Hunger? Obdachlosigkeit? Erschöpfung? Wissen wir nicht von Mahatma, dass Leiden uns stark macht?“
Eine Form von Messianismus
Der Politologe Asim Ali nannte dies in einem kürzlichen Beitrag im Online-Portal „The Print“ eine Form von Messianismus. Aus einem Politiker wird eine gottähnliche Figur fabriziert, die über jede Kritik erhaben ist und deren jedes Wort einen Sinn ergibt, auch wenn es unverständlich bleibt.
Modi kultiviert dieses Image nicht nur durch strategisch gewählte Auftritte. Schon vor Jahren nannte er sich einen „Fakir“, einen Asketen also, der Familie und materielle Güter aufgegeben hat und allein über dem Kampfgetümmel der Politik thront. Sein vom Schicksal erteilter Auftrag ist, Indien wieder zur Grossen Nation zu machen, das es einmal war, als Yogis das Land bevölkerten und segneten.
Spirituell lohnender Dienst
Auch die Auftritte sind rituell eingefärbt, mit Sanskrit-Versen und religiösen Termini. Wer denkt da schon an „Grundrechte“ oder „Hilfsmassnahmen“ und Gratis-Mahlzeiten? Modi redet von „Tyag“ – Opferbereitschaft – und das Leiden der arbeitslosen Tagelöhner ist für ihn „Tapasya“ – Selbstzüchtigung. Schon als Provinz-Regierungschef hatte er die Dalits aufgefordert, die demütigende Tätigkeit der Kotbeseitigung als „Sewa“ zu verstehen, freiwilliger, spirituell lohnender Dienst.
„Auch wenn Modi ein falscher Prophet ist“, so beschloss der Politologe Selim Ali seine Analyse, “muss man ihm doch zugutehalten, dass er den Weg ins Verderben in den leuchtendsten Farben malt.“