Die Geschichte, sagt Sari Nusseibeh, sei manchmal schneller als es die Ideen sind. In jungen Jahren war der heute 63-jährige Rektor der Al-Quds Universität in Ostjerusalem ein Verfechter eines gemeinsamen Staates, 2002 lancierte er mit dem ehemaligen Chef des israelischen Geheimdienstes Ami Ayalon eine zivile Initiative zur Durchsetzung einer Zweistaatenlösung (The People’s Voice). Heute hat er sich von beiden Ansätzen abgewendet. Doch Nusseibeh besitzt nicht nur die Begabung, überholte Konzepte zu erkennen und loszulassen, er entwickelt auch Alternativen. Seinen neusten Vorschlag führt er im Buch mit dem Titel „Ein Staat für Palästina?“ aus und erklärte ihn diese Woche an einer Podiumsdiskussion in Zürich.
Jüdischer Staat, binationales Land
Nusseibeh schlägt eine israelisch-palästinensische Konföderation vor, indem Israel die besetzten palästinensischen Gebiete annektiert. Die Palästinenser bekämen zivile Rechte, darunter das Recht auf freie Bewegung, freie Wahl des Wohn- und des Arbeitsortes, zugesprochen. Jedoch müssten sie auf wesentliche politische Rechte verzichten, vor allem auf das Stimm- und Wahlrecht, wodurch die jüdische politische Mehrheit in Israel gewährleistet würde. Der Staat, schreibt Nusseibeh, bliebe somit jüdisch, aber das Land wäre binational, palästinensisch und israelisch.
Dem von Nusseibeh als Gedankenexperiment bezeichneten Vorschlag zugrunde liegt ein Überdenken des Wertes eines Staates. Für Nusseibeh ist ein Staat einzig Mittel zum Zweck, seinen Angehörigen Gleichheit, Gerechtigkeit und Sicherheit zu garantieren. Und er will nicht länger warten bis Israel einem palästinensischen Staat vielleicht eines Tages erlaubt, seinen Bürgern diese Güter zu garantieren. Zudem ist er skeptisch, ob ein zukünftiger palästinensischer Staat seinen Bürgern jemals mehr als hurrapatriotische Symbolik liefern würde. Auf die wehende Flagge, das eigene Wappen auf dem Reisepass, die militärische Blaskapelle, ist er bereit zu verzichten. Auf ein freies Leben nicht. Ist eine politische Zweiklassengesellschaft haltbar?
Gegen jeden Punkt seines Vorschlags regt sich beim Leser innerer Widerstand, man will einwenden: Würde die Bewegungsfreiheit für Palästinenser nicht unweigerlich zu Gewalttaten gegen Israelis missbraucht? Wieso sollen Palästinenser die von Israel seit Jahrzehnten praktizierte, völkerrechtlich illegale Besiedelung ihrer Territorien de facto akzeptieren? Können Bürgerrechte tatsächlich von politischen Rechten entkoppelt werden? Und ist eine politische Zweiklassengesellschaft, auch nur als Übergangsphase, haltbar?
Nusseibeh selber fragt, was heute überhaupt noch praktikable Alternativen zur Überwindung des menschenunwürdigen Status quo sind? Die Einstaatenlösung ist für Israel inakzeptabel da sie den jüdische Staat mit einer nichtjüdischen Mehrheit konfrontieren würde. Die Zweistaatenlösung ist nicht mehr umsetzbar, da die israelischen Siedlungsblöcke mit dem Archipel palästinensischer Hoheitszonen unentflechtbar verkeilt sind. Eine Konföderation der zwei Völker mit einer politischen Zweiklassengesellschaft ist zwar nicht ideal, aber dafür praktikabel, und sie würde die Lebensumstände der Palästinenser dramatisch verbessern.
Kein Vertrauen in die palästinensischen Dogmen
Die logische Herleitung, die besonnene Argumentation kaschieren kaum die Provokationen, die dieses Buch tatsächlich enthält. Nusseibeh weist darauf hin wie kollektive Einheiten - Ideologien, Religionsgemeinschaften und Parteien, im Buch etwas sperrig als „metabiologische Entitäten“ bezeichnet – Erwartungen an ihre Mitglieder stellen, dem Individuum Verhaltensmuster aufzwingen und ihre Interessen über die des Einzelnen stellen. Für den Autor jedoch sind nicht Widerstand und Befreiung, die Dogmen palästinensischer Politik, unantastbar, sondern die Gleichheit und Freiheit des Individuums. So entpuppt sich sein Vorschlag zur Lösung des Konflikts als liberales Manifest gegen die autoritäre Kultur des israelisch-palästinensischen Friedensprozesses, die Bevormundung der Bevölkerungen durch ihre Politiker, und gegen deren Anspruch auf ein Verhandlungsmonopol.
Damit nicht genug: Nusseibeh entzieht der palästinensischen Führung das Vertrauen. Erstens wirft er der palästinensische Verhandlungspolitik vor, auf einem Lösungsansatz zu beharren der heute unmöglich umsetzbar ist und deswegen einzig das Leben der Bevölkerung in der Misere suspendiert. Zweitens zweifelt er daran, ob ein zukünftiger palästinensischer Staat offen und demokratisch sein würde. Warum, fragt Nusseibeh, sollten Palästinenser glauben, dass die Regierung eines unabhängigen Palästina nicht ebenso von Undurchsichtigkeit, Ineffizienz und Persönlichkeitskult geprägt sein würde wie es heute die Autonomiebehörde in Cisjordanien und die Hamas in Gaza sind?
Rat an Israel
Israelische Kritik an der Gewaltbereitschaft einzelner palästinensischer Gruppen wird bisweilen von der Frage begleitet, warum es keinen „palästinensischen Gandhi“ gäbe. Die Frage drückt auch den geheimen Wunsch der Israeli aus, von einem Gandhi zu den Anpassungen des eigenen Verhaltens an den eigenen moralischen Anspruch gezwungen zu werden, zu denen Israel momentan aus eigenen Stücken nicht fähig scheint.
Sari Nusseibeh ist kein Gandhi. Und dennoch wäre Israel schlecht beraten, seine Gedankenexperimente zu ignorieren. Denn Persönlichkeiten vom Format eines Gandhis sind rar, nicht jeder Konflikt erhält seinen Mandela, seinen Martin Luther King. Und vielleicht ist ein Appel zur kompromisslosen Rückbesinnung auf moralische Grundwerte als Ausgangspunkt einer friedlichen Konfliktlösung, artikuliert von einem in seiner Heimat wenig beachteten Jerusalemer Philosophen, das nächstbeste, was Israel von palästinensischer Seite jemals geboten werden wird.
Sari Nusseibeh: Ein Staat für Palästina? Plädoyer für eine Zivilgesellschaft in Nahost. Kunstmann Verlag, 2012.