Zwar hatten Meinungsforscher, Medien und andere sich mehr oder weniger kompetent fühlende Experten im Vorfeld der Wahlen zu den regionalen Parlamenten in den drei Bundesländern Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt die Öffentlichkeit auf spürbare Eruptionen vorbereitet. Auch aus der kürzlich erfolgten Kommunalwahl in Hessen konnten die demoskopischen Seismologen recht deutliche Signale von aufgestautem und sich noch weiter aufbauendem Wählerunmut gegenüber „denen da oben“ auffangen. Dass es also Risse in dem seit einem Vierteljahrhundert im Prinzip weitgehend unveränderten deutschen Staatsgebäude geben würde, kam nicht überraschend. Trotzdem ist jetzt das Rätselraten gross, mit welchen Mitteln die tatsächlichen oder vermeintlichen Schäden beseitigt werden könnten.
Das überragende Thema – Flüchtlinge
Unbestreitbar ist auf jeden Fall zweierlei. Erstens: Obwohl es sich eigentlich um die Neubestimmung von Landtagen handelte, haben die Wähler in keinem der drei Bundesländer allein (oder auch nur hauptsächlich) aus dem regionalen Blickwinkel heraus ein Kreuzchen gemacht. Das alles überragende Thema heiß: Flüchtlinge. Zweitens: Gleichgültig welche der „Altparteien“ am Ende die meisten Stimmen auf sich vereinen konnte – der wirkliche Sieger dieses Stimmungstests hiess „Alternative für Deutschland“, oder kurz „AfD“. Beides ist jedoch unlösbar miteinander verknüpft. Die ursprünglich einmal als Euro- und Europa-kritische Bewegung, gegründet von honorig-konservativen Professoren und Wirtschaftern, war im Sommer vorigen Jahres praktisch von der politischen Landkarte verschwunden. Dann kam Angela Merkels „Wir schaffen das“. Damit löste die Kanzlerin natürlich nicht den Massenzustrom aus Nahost und Nordafrika nach Deutschland aus; allenfalls beschleunigte sie ihn. Aber in weiten Teilen der heimischen und der europäischen Öffentlichkeit, als auch bei den Flüchtlingen selbst wurde dies als Einladung für Millionen empfunden.
Nicht zufällig sagte der AfD-Vizevorsitzende und Parteichef von Brandenburg, Alexander Gauland (der nach 40 Jahren aus Protest wegen deren angeblich nach links gerückter Politik die CDU verliess), bereits vor Weihnachten, die Flüchtlingskrise sei „ein Segen für uns“. Seit dem Herbst 2015 erhielt die AfD jedenfalls einen ständig steigenden Zulauf. Und zwar unabhängig davon, ob führende Repräsentanten aus ihrer Nähe zu Rechtsextremismus oder nationalsozialistischem Gedankengut überhaupt kein Hehl machten. Egal auch, ob keineswegs nur versteckt rassistisch gehetzt oder fremdenfeindlich aufgewiegelt wurde und keine einzige klare Distanzierung gegenüber Brandstiftern von Asylanten- und Flüchtlingsheimen erfolgte. Und gleichgültig auch, dass man – mit Ausnahme des Reizthemas „Flüchtlinge“ – den Bürgern nicht eine einzige andere Sachfrage präsentierte. Ganz abgesehen davon, übrigens, dass (Umfragen zufolge) die Wähler, mit Ausnahme von zwei oder drei Spitzenvertretern, praktisch keinen Kandidaten kannten.
Aus dem Stand zweistellig
Trotzdem fuhr die AfD, praktisch aus dem Stand heraus, am Sonntag zweistellige Ergebnisse ein. In Sachsen-Anhalt erhielt sie (24,2 Prozent) sogar fast jede vierte Stimme und wurde damit zweitstärkste Kraft im künftigen Landtag von Magdeburg. Das ist nicht nur sensationell. Das ist dramatisch, ja beängstigend. Und zwar nicht zuletzt deshalb, weil die traditionelle zweite deutsche Volkspartei, die SPD, als bisheriger Junior-Koalitionspartner von CDU-Ministerpräsident Reiner Haselhoff, von 21,5 auf jetzt 10,5 Prozent quasi atomisiert wurde und selbst die im Osten prinzipiell noch immer starke „Linke“ (also der Nachfolger der einstigen DDR-Staatspartei SED) um 7,5 Prozentpunkte auf nur noch knapp über 16 Prozent zurückgestutzt wurde. Mit 15 Prozent in Baden-Württemberg und 12,6 Prozent in Rheinland-Pfalz erscheinen die AfD-Erfolge zwar nicht ganz so triumphal. Das sieht jedoch schon gleich wieder ganz anders aus, wenn man diese Zahlen mit den Abstürzen der SPD in Sachsen-Anhalt und in Baden-Württemberg (12,7 Prozent) sowie der Grünen in den Landtagen von Mainz (5,3) und Magdeburg (5,2) vergleicht.
Wahlforscher machen sich in aller Regel gleich nach Schliessung der Wahllokale daran, das zu analysieren, was „der Wähler“ mit seiner Stimme angeblich sagen oder gar auslösen wollte. Auch am Sonntagabend klangen schnell die Stimmen durch, die von einer „Anti-Merkel-Wahl“ sprachen. Hatte die Standfestigkeit der Kanzlerin (wie die einen sagen) oder die „Sturheit“ (so die anderen) in der Flüchtlingsfrage, hatte ihr Festhalten an einer „europäischen Lösung“ wirklich die AfD gross gemacht und der eigenen CDU in Mainz und Stuttgart ein Fiasko beschert? Gleichgültig, wie man an diese Frage herangeht, es gibt keine eindeutige Antwort. Richtig ist, dass in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz die CDU die schmerzlichsten Verluste einstecken musste. Ausgerechnet in den Ländern also, die man doch „eigentlich“ als die eigenen „Stammlande“ betrachtet und die man unbedingt und sogar (Mainz) lange mit guten Aussichten zurück zu gewinnen hoffte.
Sieg für die Merkel-Unterstützer
Wie man weiss: In beiden Fällen zu früh gefreut. In Rheinland-Pfalz kann die bisherige sozialdemokratische Ministerpräsidentin Malu Dreyer nach einer sensationellen Aufholjagd in den vergangenen Wochen auch die nächsten fünf Jahre regieren. Und in Baden-Württemberg gab es einen triumphalen Sieg des grünen Regierungschefs Wilfried Kretschmann einerseits und eine katastrophale Erdrutsch-Niederlage für die früher Jahrzehnte lang unangefochtene CDU. Kretschmann führte die Grünen sogar erstmals in die Rolle einer stärksten Fraktion in Deutschland überhaupt. Was aber hat diese Entwicklung mit Angela Merkel und deren angeblich politisch angeschlagener Position zu tun? Nun, mit Malu Dreyer und Wilfried Kretschmann haben zwar (im Prinzip) politische Gegner der Kanzlerin ihre Stellungen sogar ausbauen können. Es waren jedoch ausgerechnet diese beiden, die Merkels Kurs in der Flüchtlings-Politik ohne Wenn und Aber unterstützten. Anders also als die Chef-Matadoren der CDU in Mainz und Stuttgart, Julia Klöckner und Guido Wolf, die zwischenzeitlich deutlich von der Kanzlerin ab- und in Richtung CSU hingerückt waren. Haben die Wähler am Ende also doch Standfestigkeit und klaren Kurs bei der Bewertung des alles überschattenden Problems honoriert?
Es liegt in der Natur von Erdbeben, dass es im Untergrund weiter grummelt. Und zwar noch eine ziemlich lange Zeit. Ob (und wenn ja wann) sich die Mitgliedstaaten der EU doch noch auf eine „Europäische Lösung“ der Flüchtlingsdramatik werden einigen können, steht – trotz des in dieser Woche bevorstehenden neuen Brüsseler „Gipfels“ – weiterhin in den Sternen. Ob sich Deutschland (und damit die Regierung Merkel/Gabriel) dem Druck im Innern wie auch von aussen wird auf Dauer entgegen stemmen können, ist zweifelhaft. Das gilt auch mit Blick auf die Bürger, die – wie gerade erlebt – eher in gehörigen Zahlen jenen nachlaufen, die „einfache Lösungen“ propagieren, obwohl es solche nicht geben kann. Schon gar nicht in einer globalisierten und sich zunehmend vernetzenden Welt, in der – erneut: wie gerade erlebbar – praktisch auf Knopfdruck ganze Völkerwanderungen ausgelöst werden können.
Ende der „guten alten Politikzeit“
Es ist gut und richtig, dass sich die demokratischen Kräfte im Lande vorgenommen haben, sich in Zukunft inhaltlich, thematisch, argumentativ mit populistischen Vereinfachern und Stimmenjägern à la AfD auseinanderzusetzen. Zum einen sind ganz sicher nicht alle Wähler verbohrte Dumpfbacken, sondern ganz viele von ihnen haben ein Recht darauf, dass ihre Sorgen und Anliegen ernst genommen werden. Und zwar auch (und vielleicht sogar gerade), wenn man sie nicht teilt. Nur so gibt es überhaupt eine Chance, jene vielleicht zurück zu holen, die sich enttäuscht abgewandt haben. Zum anderen werden sich die „alten“ (und die inzwischen „alt“ gewordenen) Parteien verändern müssen. Spätestens seit Sonntagabend weiss man, dass die guten alten Zeiten mit nahezu immer schon vorher feststehenden Koalitions-Kombinationen vorbei sind. Selbst die traditionelle „Grosse Koalition“ aus Christ- und Sozialdemokraten ist angesichts der SPD-Schwäche nicht mehr garantiert. Es wird demnächst politische Farbspiele in den Ländern und – warum nicht auch? – im Bund geben, die vielen heute noch als unvorstellbar erscheinen.
P.S.: Ein Lichtblick ist mit den Wahlen am Sonntag immerhin verbunden – die Wahlbeteiligung. Zum ersten Mal seit vielen Jahren lag sie in Deutschland wieder bei um die 70 Prozent. Allerdings, und das ist die Schattenseite, anders als in der Vergangenheit haben davon nicht die Traditionsparteien profitiert, sondern es war der rechte Flügel des politischen Spektrums.