André Malraux’ Prophezeiung „Das 21. Jahrhundert wird ein Jahrhundert der Religion sein, oder es wird nicht sein", hallt in unseren Ohren seit 9/11 nach.Das schreckliche Ereignis erscheint retrospektiv wie eine frühe schockartige Evidenz dieses Satzes. Und die Evidenz wirkt weiter als das Epizentrum eines kulturellen Erdbebens. Auf seinen seismischen Wellen surft heute eine bärbeissige Kohorte von Kulturkämpfern, die sich die „neuen Atheisten“ nennen. Diese Anti-Gotteskrieger sind ungäubige Wissenschaftsgläubige, Neurobiologen wie Sam Harris („Das Ende des Glaubens: Religion, Terror und das Licht der Vernunft,“ deutsch 2007), Zoologen wie Richard Dawkins („Der Gotteswahn,“ 2008), Philosophen wie Daniel Dennett („Den Bann brechen: Religion als natürliches Phänomen“, 2008), Physiker wie Steven Hawking, oder auch Journalisten wie der verstorbene Christopher Hitchens („Der Herr ist kein Hirte: Wie Religion die Welt vergiftet,“ 2009). Ihre Botschaft: Religion schürt Machtwahn und Gewalt-Eruptionen; ihre Mission: Ersatz der Religion durch ein säkulares, wissenschaftlich erhärtetes Wertesystem.
Ernst Häckel, der Evangelist der „monistischen Religion“
Weder solche Forderungen noch deren vorlaute missionarische Orgeltöne sind neu. „Der unermessliche Schaden, welchen der unvernünftige Aberglaube seit Jahrtausenden in den gläubigen Menschen angerichtet hat, offenbart sich wohl nirgends auffälliger als in dem unaufhörlichen ‚Kampfe der Glaubensbekenntnisse’,“ schrieb 1899 Ernst Häckel in seinem Bestseller „Die Welträtsel“ (mit dem Nachwort „Das Glaubensbekenntnis der reinen Vernunft“). Häckel - der „deutsche Darwin“ - vertrat offensiv die Meinung, dass eine Erklärung nur dann als legitim angesehen werden kann, wenn ihr das naturwissenschaftliche Plazet erteilt worden ist. „Monismus“ nannte er diesen Totalerklärungsanspruch. Und der „Aberglaube“, den er anprangerte, war das Christentum; heute würde er ohne Zweifel den Islam hinzufügen. Dabei fällt auf, dass das Vertrauen in die Wissenschaft sich als eine neue, eine „monistische Religion“ verstand; als eine Art von kulturellem Antidot, das die überholten und zerstrittenen Welterklärungsansätze des Glaubens durch jene der Vernunft und der Wissenschaft ersetzen sollte. Nicht unähnlich also zum Vertrauen der neuen Atheisten in die Wissenschaft. Und die Inbrunst, mit der diese ihre Gottlosigkeit in die Welt hinausschmettern, steht jener der Gottgläubigen in nichts nach – nur dass sie sie als Leidenschaft für die Emanzipation von der Religion interpretieren.
Der Erhaltungssatz des Spirituellen
Derartige Konflikte erzeugen in der Regel mehr Hitze als Licht. Deshalb sind sie Teil des Problems, das sie zu lösen vorgeben. Der Grund: In der Religion drückt sich etwas aus, das sich nicht „lösen“ oder „überwinden“ lässt. Mit dem Glauben verhält es sich wie mit der Energie. Sie kann nicht vernichtet werden, sondern nur transformiert. Und deshalb liesse sich vielleicht in vorsichtiger Analogie zum physikalischen Erhaltungsatz der Energie von einem Erhaltungssatz des Religiösen - oder neutraler: des Spirituellen – sprechen.
Der grosse amerikanische Philosoph John Dewey schlug vor, das Substantiv „Religion“ zugunsten des Adjektivs „religiös“ zu verabschieden. Ziel ist die Emanzipation des Religiösen von der Religion, ihren Institutionalisierungen und Immunisierungen gegen Veränderung. Religiös sind nicht Erfahrungen spezifischer und schon gar nicht übernatürlicher Art. Religiös kann jede Erfahrung sein, weil deren Qualität sich nicht an ihrer Ursache oder ihrem Objekt bemisst, sondern an ihrer Wirkung – und diese Wirkung zeigt sich für Dewey in einer Neuausrichtung („adjustment“) unseres Lebens. In diesem Sinn können wissenschaftliche, ästhetische, moralische, politische Erfahrungen eine religiöse Dimension erhalten, insofern als sie in uns Kräfte freisetzen, die unseren Handlungshorizont über das Bestehende hinaus erweitern: „Religion bedeutet stets ein besonderes Korpus von Glaubensüberzeugungen und –praktiken, mit einer festen oder losen institutionellen Organisation. Im Gegensatz dazu meint das Adjektiv „religiös“ nichts Derartiges wie eine spezifizierbare Gesamtheit, sei sie nun eine Einrichtung oder ein Glaubenssystem. Es bezeichnet nichts, auf das hingewiesen werden könnte wie auf eine historische Religion oder eine existierende Kirche (..) Es bezeichnet Einstellungen, die wir zu jedem Gegenstand und zu jedem angebotenen Ziel oder Ideal haben können.“
Religiosität des Profanen
Ich halte diese Auffassung für das emanzipatorische Moment am religiösen Glauben. Sie verträgt sich durchaus mit einer säkularen, ja, atheistischen Haltung. Und hier kommt einem unweigerlich ein grosser Religionsgelehrter in den Sinn, nämlich Friedrich Schleiermacher mit seinen grandiosen „Reden an die Gebildeten unter den Verächtern“ der Religion (1799): seine umwerfend einfache Bestimmung des Religiösen als „Sinn und Geschmack für das Unendliche“. Ich ziehe hier vor zu sagen: Sinn und Geschmack für das Unerschöpfliche der Dinge, um den Anschluss an Dewey herzustellen.
Was heisst das? Betrachten wir das Phänomen des Wunders. Der schon zu seiner Zeit avancierten Entzauberung der Welt hielt Schleiermacher eine Definition des Wunders entgegen, die gerade in einer säkularisierten Welt ihre Bedeutung behält: „Was ist denn ein Wunder! Sagt mir doch, in welcher Sprache (..) es denn etwas andres heisst als ein Zeichen, eine Andeutung? Und so besagen alle jene Ausdrücke nichts, als die unmittelbare Beziehung einer Erscheinung aufs Unendliche (..); schliesst das aber aus, dass es eine ebenso unmittelbare aufs Endliche und auf die Natur gibt? Wunder ist nur der religiöse Name für Begebenheit, jede, auch die allernatürlichste, sobald sie sich dazu eignet, dass die religiöse Ansicht von ihr die herrschende sein kann, ist ein Wunder (..) Je religiöser ihr wärt, desto mehr Wunder würdet ihr überall sehen.“
Eine neue Bedeutung von Säkularität
Schleiermacher spricht von „religiöser Ansicht.“ Es wäre vermessen zu sagen, sie sei heute die „herrschende“. Aber dennoch, sie ist eine immer mögliche. Sie bedeutet einen permanenten Reflexionsprozess, der den Einspruch der Religion ernst nimmt: Die Welt im Ganzen ist mehr, als uns die „entzaubernden“ Naturwissenschaften jemals enthüllen werden. Der Schriftsteller Ludwig Hohl hat meines Erachtens die schönste und einprägsamste Formel für den Anstoss zu dieser Reflexion gefunden: „Dass fast alles anders ist als man denkt..“ Ich halte die Formel für tief religiös. Denn sie sensibilisiert uns für die Offenheit, für die Andersheit der Welt, und zwar gerade gegen jedes abschliessende Bescheidwissen, das mir sagt: So ist die Welt, so läuft sie, so steht es geschrieben, so ist es gesagt worden.
Ich will jetzt nicht sagen, dieses Andere sei das Religiöse. Hingegen glaube ich, ist es der von Hohl gehegte Verdacht, der unsere Neugier und Kreativität auf allen Gebieten menschlichen Lebens und Zusammenlebens kennzeichnet: unsere Empfänglichkeit für die Brüche und Risse in unseren Gewohnheiten, in unseren Doktrinen und Dogmen. Die Spuren des Andern machen das Wirkliche tief. Und mit „Tiefe“ meine ich kein Geraune über Absolutes oder Weltengründe, sondern die ganz elementare Erfahrung, dass unser Denken, ja, unser Leben nicht ein für allemal fest gefügt ist, sondern aus den Fugen geraten kann, und dass vielleicht gerade durch die Fugen hindurch der Sinn für eine andere existenzielle Dimension geweckt wird, für die Epizentren des Religiösen – nun ganz nach Dewey - in unserem Alltag. Warum nicht das Religiöse als einen besonderen Sinn für diese Weltrissigkeit und Rätselhaftigkeit begreifen: für Schleiermachers „Unendlichkeit“? Eine solche Erfahrung gelingt aber nur, wenn wir den Blick vom Übernatürlichen abwenden und im Natürlichen und Sinnlichen, in unseren Körpern beheimatet bleiben, weshalb ich gegen den Religionsbekämpfer Feuerbach behaupten möchte („Folge den Sinnen. Wo der Sinn anfängt, hört die Religion und hört die Philosophie auf“): Wo die Sinne anfangen, beginnt auch der Spürsinn (Spursinn) für das Andere, das Religiöse. Also überall. Der britische Autor und Photograph Tim Robinson fodert geradezu eine Sprache nicht nur der Geographie, sondern der „Geophanie“, also eine Sprache, die „der säkularen Zelebrierung der Orte“ angemessen wäre.
Inspirierte Resignation
Dieser Sinn kann einen Eingang zum Religiösen öffnen, das heisst, er kann in dem, was nicht festgefügt ist, Fragespuren entdecken, deren Verfolgung uns wertvoll erscheint, sogar unser Leben erfüllen kann, ohne dass wir hoffen können, je an ihr Ende zu gelangen. Vom Ende her betrachtet, machen solche Spuren die Welt im wahrsten Sinne des Wortes unabgeschlossen, unendlich, und sie halten die Spannung aufrecht zur einzigen Gewissheit, die wir haben, nämlich endlich zu sein. Alle anderen Signaturen der Gewissheit vermag dieses Unabgeschlossene immer wieder rückgängig zu machen: zu re-signieren. Das Wort erinnert an einen ganz grossen Liebhaber der Natur, der freilich nie so recht Aufnahme in den Kreis der Naturwissenschafter gefunden hat. Goethe sprach im Zusammenhang mit seinem Studium des Urphänomens von „Resignation“, sogar von „ehrfurchtsvoller Resignation“: „Wenn ich mich beim Urphänomen zuletzt beruhige, so ist es auch nur Resignation; aber es bleibt ein grosser Unterschied, ob ich mich an den Grenzen der Menschheit resigniere oder innerhalb einer (..) Beschränktheit meines bornierten Individuums“. Hier ist er gar nicht so weit weg von Einstein, dem Vertreter jener mathematischen Zunft, die Goethe immer ein kleiner Gräuel gewesen war. In einem Brief schreibt der Physiker: „Das Seltsame (ist), dass wir uns damit zufrieden geben müssen, das ‚Wunder’ anzuerkennen, ohne dass wir über eine legitime Methode verfügten, dahinter zu sehen.“
Vielleicht ist es gar nicht so abwegig, Religiosität mit Resignation zu verbinden. Wir müssen letztlich resignieren, aber wir können lernen, inspiriert zu resignieren. Wer das tut, atmet, bei aller bekennenden Säkularität, religiösen Geist.