Jedes Pferd hatte eine Nummer und einen Namen. Da gab es die üblichen Vornamen wie Max und Fritz. Doch es gab auch eine „Maus“, eine „Gurke“, eine „Krähe“, eine „Laus“, eine „Hündin“, eine „Katze“ – und eben eine „Kröte“.
Doch abgesehen von skurillen Vornamen war das Rösslitram, das ab 1882 auf den Zürcher Strassen verkehrte, alles andere als skurril.
Bis zu 14'000 Passagiere transportierte es täglich. Vier Linien wurden befahren. Am Limmatquai regierte der 3-Minuten-Takt. 8,9 Kilometer lang war das Netz.
Bruno Gisler arbeitet seit 25 Jahren für die Zürcher Verkehrsbetriebe (VBZ). Er hat nun die „Geschichte der Zürcher Pferdebahn“ aufgezeichnet. Drei Jahre lang hat er in den Archiven gestöbert und recherchiert. Ergebnis ist ein wunderbares Buch: 200 Seiten dick, voll von faszinierenden Fotos, Plänen, Statistiken, Karikaturen - und Anekdoten.
Die Pferde leisteten Schwerstarbeit. Die Wagen, die sie zogen, waren 1,7 Tonnen schwer. Jedes Tier war pro Tag über 22 Kilometer im Einsatz. Dann hatte es frei.
Da erfährt man, dass es ein Beerdigungstram gab. Für sechs Franken konnte man es mieten. Das 1 PS-Gefährt brachte die Trauergemeinde zum Friedhof, wartete, bis die Abdankung vorbei war, und fuhr die Leute zurück in die Stadt.
Nach der Eröffnung des Stadttheaters 1891 war auch ein „Theaterwagen“ im Einsatz. Er wartete vor dem Theater auf den Schluss der Vorstellung und brachte die Theaterbesucher nach Hause.
Die Wagen hatten Fenster, die nicht geöffnet werden konnten. Im Sommer herrschte im Innern eine Gluthitze. So bespritzte man das Wagendach mit kaltem Wasser. Mit wohl mässigem Erfolg.
Zu jener Zeit herrschte die Unsitte, dass Männer auf den Fussboden des Trams spuckten. Der Stadtarzt schlug Alarm. Er fürchtete das Ausbreiten der Tuberkulose. Schliesslich wurden Schilder angebracht: „Die Fahrgäste werden ersucht, das Ausspucken auf den Wagenboden zu unterlassen“.
Die Stadt Zürich hatte damals die Grösse des Kreises 1. Wer sich keine Droschke leisten konnte, musste zu Fuss gehen. 1861 deponierte Nationalrat Fierz im Zürcher Grossen Rat, dem heutigen Kantonsrat, eine Motion. Fierz verlangte eine Schienenverbindung vom Hauptbahnhof bis zum See.
Der Bau wurde ausgeschrieben, zwölf Bewerbungen gingen ein. Die Firma Meston & Co. aus London stach in der Schlussrunde das Bankhaus Erlanger & Cie. aus Frankfurt aus. Meston hatte bereits Strassenbahnen in mehreren englischen Städten gebaut, so in Cambridge, Northampton und Sheffield.
Schon damals wurde diskutiert, ob es ein „Rösslitram“ überhaupt noch brauche. Denn an der Elektrizitätsausstellung 1881 in Paris wurde die erste elektrische Eisenbahn von Siemens vorgestellt. Siemens führte den Strom durch die Schienen der Bahn zu. Das war gefährlich. Und ein Tram mit Oberleitung, so hiess es in Zürich, kam in einer Stadt nicht in Frage. Also doch das Rösslitram. Am 24. April 1881 hiessen die Stimmberechtigten in der St. Peterskirche den Trambau gut. Oppositionslos.
Am 16. Mai 1882 wurde mit dem Bau begonnen. Man arbeitete mit rasendem Tempo. Die Schienen wurden an Ort und Stelle gebogen. Schon im September des gleichen Jahres wurden die ersten drei Strecken eingeweiht (Tiefenbrunnen-Bahnhof-Paradeplatz; Paradeplatz-Stockgasse; Helmhaus-Zentralfriedhof). Meston & Co. entschied sich für die 1,44 Meter breite Normalspur. Heute fahren die Zürcher Trams auf der Ein-Meter-Schmalspur.
Die Zürcher waren keineswegs die ersten und einzigen, die ein Rösslitram bauten. 1832 wurde in New York die New York & Harlem Railroad in Betrieb genommen. Die erste Pferdebahn in der Schweiz wurde 1862 in Genf gebaut, vom Genfer Zentrum nach Carouge. 1874 folgten Rösslitrams in Freiburg und 1894 in Neuenburg. Insgesamt gab es weltweit über tausend Pferdebahnen.
Meston & Co. wählte auch gleich die Pferde aus. Sie stammten alle vom gleichen Pferdehändler in Luxemburg, von Alphonse Worms. Es waren „Ardenner“, ein Kaltblut. Die Rasse eignete sich besonders gut für den Trambetrieb. Die Pferde waren kräftig, von eiserner Konstitution, genügsam, unermüdlich und nicht schreckhaft. „Das war wichtig“, erklärt uns Bruno Gisler, „denn schon damals herrschte auf den Strassen ein reger Verkehr – Fuhrwerksverkehr“.
Ein Pferd kostete zunächst 850 Franken, später über tausend. Mit dem Zug wurden die Tiere von Luxemburg nach Zürich gebracht. „Man behandelte die Pferde sehr gut“, sagt Gisler, „sie kriegten viel und gutes Futter“. Das brauchten sie, denn sie waren gefordert. Nach jeder Haltestelle mussten sie den fast zwei Tonnen schweren Tramwagen wieder anziehen. Sechs Jahre stand ein Pferd in Zürich im Dienst, dann wurde es auf einer Gant verkauft, meist zu einem guten Preis.
In der Innenstadt waren die Strassen meist mit Pflastersteinen (Bsetzisteinen) gepflastert. Die harte Unterlage machte den Pferden und ihren Gelenken zu schaffen. Ausserhalb des Zentrums war das Trassee gekiest. Die Unterlage war weicher. Das war gut für die Pferde, aber schlecht für die Geleise. Die aufgewirbelten Kieselsteine gelangten oft in die Schienen. Deshalb entgleiste ab und zu ein Tram. Mit speziellen Geräten wurden die Schienen freigeschaufelt.
Die ersten Wagen lieferte die Schweizerische Industrie-Gesellschaft in Neuhausen. Doch man war nicht zufrieden. Das „Rollmaterial“ war schwerfällig, laut und mangelhaft. Später kaufte man Wagen der deutschen Firma Herbrand aus Köln. Und gegen Schluss der Rösslitram-Zeit, als schon feststand, dass bald das elektrische Tram kommt, kaufte man noch einige Occasionswagen in Leipzig.
Ein Billet kostete für Fahrten auf Stadtgebiet zehn Rappen. In den Wagen fanden je 24 oder 28 Personen Platz. Im Innern gab es zwei längsseitig angebrachte Bänke für je sechs Personen. Sie wurden vor allem von den Frauen benutzt. Denn „die Damen konnten mit einer eleganten Behandlung rechnen“, sagt Gisler. In der Verordnung hiess es: „Frauen haben ein Vorrecht auf die Sitzplätze.“
Rauchen war im Innern des Trams verboten. Deshalb standen die meisten Männer auf der hinteren Plattform im Freien, wo man rauchen durfte. Manchmal wurden glimmende Zigarren ins Innere des Trams geschmuggelt. Verbrieft ist ein Fall, in dem eine solche den Sonnenschirm eines Dienstmädchens in Brand steckte.
Während es im Sommer oft zu heiss war, war es im Winter oft zu kalt. Heizungen gab es nicht. Man experimentierte zwar mit Koksfeuerung oder Petroleumheizung. Doch die Gerüche, die sich in die Kleider einschlichen, waren derart penetrant, dass man auf eine Heizung verzichtete.
Auf- und abspringen während der Fahrt war erlaubt, denn die Trams fuhren langsam - etwa acht Kilometer pro Stunde. Zudem gab es immer lange Wartezeiten, denn viele Strecken waren nur einspurig. So mussten die Trams an Ausweichstellen anhalten und oft lange auf ein aus der Gegenrichtung kommendes Gefährt warten. Im Laufe der Jahre wurden die Linien immer mehr auf Doppelspur ausgebaut, damit sich die Trams kreuzen konnten. Der 3 Minuten-Takt galt nur am Limmatquai, dem meistbefahrenen Teilstück. Auf den andern Strecken herrschte ein 10 Minuten-Betrieb. Während der Landesausstellung 1883 fuhr alle fünf Minuten ein Tram.
Die Trams hatten noch keine Nummern, sondern verschiedene Farben. Es gab die Linien gelb, grau, braun, grün. Liniennummern kamen erst 1907 auf, an elektrischen Trams.
Der Trambetrieb erfolgte fast ausschliesslich auf flachen Strecken. Zwischen Bahnhof Enge und Sternen gab es jedoch eine kleine Steigung von 26 Promille. Dort hängte ein Vorspannjunge, ein "Röllibub", ein zweites Pferd an bis man oben war. War man dann oben, spannte der Junge das Pferd wieder aus, begleitete es nach unten und wartete auf das nächste Tram.
Während die Rösslitrams weiter in Betrieb waren, tauchte 1894 das erste elektrische Tram auf. Es fuhr vom Bellevue über den Kreuzplatz zum Römerhof oder über den Kreuzplatz zur Burgwies.
Am 17. September 1900 fuhr das letzte Rösslitram in Zürich. Es wurde beflaggt und mit einer Zeremonie verabschiedet. Fotos deuten darauf hin, dass auch Schulklassen eingeladen wurden.
Das Pferd Nummer 31 ging in die Geschichte ein. Es hiess Mirza. Ganze 14 Jahre lang stand es im harten Dienst. Dann wollte man es schlachten, doch Heinrich Hürlimann, der Wirt zum Dolder, hatte Erbarmen. Er kaufte das Tier und gewährte ihm einen ruhigen Lebensabend.
Der Tierschutz war schon früh aktiv. Angeführt von Pfarrer Wolff aus Weiningen sorgte der „Thierschutzverein Zürich“ dafür, dass die Pferde nicht ausgepeitscht und artgerecht behandelt wurden. Der Nebelspalter empfahl, dass die Passagiere die Pferde zu einer Fahrt einladen sollten.
Bruno Gisler: Rösslitram, Illustrierte Geschichte der Zürcher Pferdebahn, Verein Tram-Museum Zürich, Fr. 68.--. Zu beziehen im Shop des Tram-Museums Burgies oder über www.tram-museum.ch
Das Tram-Museum (geöffnet Mittwoch, Samstag, Sonntag, jeweils am Nachmittag) zeigt bis Ende Oktober eine Sonderausstellung zum Rösslitram.