Jeder Kanton leistet sich einen Archäologen, ebenso grosse Städte wie Zürich. Andy Mäder ist der ‚Stadt-Archäologe‘ dort. Er erzählt, dass das Kantonsinventar über 5000 potentielle archäologische Fundstellen aufzählt.
Aber wie viel Archäologie braucht zum Beispiel ein Bhutaner? Die Schweiz kann sich Archäologie leisten. Kann es auch ein sehr armes Land? Ich stelle die Frage deshalb, weil ich die beiden Zürcher ‚Altertumsforscher‘ anfangs April in Bhutan traf, wo sie zusammen mit Peter Fux, einem Berufskollegen aus dem Rietberg-Museum, einen Workshop über Archäologie durchführten, organisiert von der ‚Schweiz-Liechtenstein Stiftung für Archäologie im Ausland‘(SLSA) und ihrem Generalsekretär, Eberhard Fischer. Was hatte ich dort verloren? Eigentlich nichts – ausser meiner journalistischen Neugier - und natürlich der Tatsache, dass kein Mensch eine Gelegenheit auslassen sollte, nach Bhutan zu reisen. Über die Menschen habe ich bereits berichtet, und im Vorbeigehen auch über die Architektur der Dörfer, Riegelbauten aus Holz und Lehm, und so apart bemalt, dass selbst ein armer Bauer in einem ‚Chalet‘ zu wohnen scheint. Falls man denn einen Bauern überhaupt vors Gesicht bekommt, denn auf einem Gebiet von knapp der Grösse der Schweiz lebt dort ein Zehntel von unserer Bevölkerung. Siebzig Prozent des Landes sind bewaldet, und wenn man die hochalpine Himalaya-Region dazu zählt, dann dürfte sich die besiedelte Fläche auf 3-4 Prozent beziffern lassen.
Aufmerksamer Blick in die Geröllhalde
Wir hatten das Glück, knapp vor der Blüte der Rhododendren und Magnolienwälder von der Hauptstadt Thimphu nach Bumthang in Zentralbhutan zu fahren. In einigen Wäldern hatten sich die Rhodendren-Blüten bereits geöffnet – grosse fleischige Blumen in karmesinrot, gelb, oder purpur zwischen den schweren knorrigen Eichenstrünken. Dagegen wirkten die Magnolienbäume wie ein postmodernes Arrangement, wo die Blätter den weissen Blüten Platz gemacht hatten, gefangen im filigranen Netz der Äste.
Es war ein kleines Wunder, dass wir der Naturschönheiten überhaupt ansichtig wurden. Denn wer mit Archäologen reist, schaut eigentlich ständig auf den Boden, oder in Felsformationen hinein. Als wir in Bumthang an einem Workshop-freien Tag eine Exkursion unternahmen, lief ich ein Stück des Weges mit den Zürcher Meistern. Sie schauten so aufmerksam in die Geröllhalde hinein, die die Strasse in die Moräne geschnitten hatte, dass ich meinen Blick fast verschämt auf Berge und Wälder richtete, und mit meinen groben Schuhen wahrscheinlich über mesolithische Kostbarkeiten trampelte. Am nächsten Tag erzählte Peter Fux den Workshop-Teilnehmern zu deren (und meinem!) Erstaunen, sie seien am Vortag an drei potentiellen archäologischen Fundstellen vorbeigekommen.
Schweizer graben Burgen aus
Die Exkursion hatte einer alten Burg gegolten, die in den letzten drei Jahren von Schweizer Archäologen unter dem Basler Professor Werner Meyer teilweise ausgegraben worden war. ‚Drapham Dzong‘ liegt in einem wunderschönen Tal nördlich von Bumthang, das ins Hochgebirge und in einen alten Passweg nach Tibet führt. Es ist wahrscheinlich, dass die Burg einen Verteidigungsriegel gegen militärische Exkursionen der Tibeter bildete. Sie war wohl auch eine Art Karawanserei, erzählte uns Eberhard, wo Yaks oder Maultiere gewechselt und Güter ausgetauscht wurden.
Der Zufall will es, dass der heutige Premierminister Jigme Thinley aus dieser Gegend stammt und als Junge in den Ruinen herumgeklettert war. Er war es, der vor sechs Jahren die Entwicklungsorganisation Helvetas anfragte, ob die Schweiz „zum ersten Mal in der Geschichte des Landes archäologische Projekte beginnen“ könne. Helvetas stimmte zu, die DEZA ebenfalls, und mit der SLSA und seinem unermüdlichen Generalsekretär war bald ein idealer (weil auch liquider) Partner zur Stelle. ‚Drapham Dzong‘ wurde als erste Projektstätte ausersehen. Der ‚Dzong‘ – ‚Burg‘ in der Drukpa-Sprache – stammt wohl aus dem 16. Jahrhundert, ist also kaum ‚archäologischen‘ Alters. Aber wie Professor della Casa im Workshop ausführte, beginnt für manche Archäologen die Arbeit dann, wenn keine Schriftspuren mehr zu finden sind. Und Bhutan, eine winzige und (bis auf Thimphu und einige Distrikthauptorte) weit zerstreute bäuerliche Gesellschaft, hat kaum schriftliche Dokumente produziert. Es gibt weder alte Geburtsregister noch Kataster-Urkunden, und die einzigen Zeugnisse sind buddhistische Schriften, die sich mit dem seelischen und nicht dem leiblichen Heil ihrer Schreiber und Leser befassen.
Unter der Erde leben die bösen Geister
Und wenn dort von der Natur die Rede ist, dann ist diese bevölkert von Dämonen und Geistern, und nicht Yak-Treibern und Salzhändlern. „Die meisten Bhutaner machen keinen Unterschied zwischen Geschichte und Religion, Geschichte und Mythen“, erklärte Dorjee Tshering, der Direktor der Kulturabteilung im Innenministerium. Im Volksglauben sei der Raum unter der Erde zudem von bösen Geistern bevölkert. Die vielen ‚Chörten‘, gedrungene raumlose Turmhäuschen, stecken offiziell vor allem Pilgerwege ab, aber sie haben auch die Aufgabe, die Geister unter ihnen zurückzuhalten.
Das Graben nach archäologischen Überresten kann daher rasch missverstanden werden, doch die Burgruine des Drapham Dzomng war abgelegen genug, um nicht Misstrauen zu wecken. Und eine der Aufgaben des Workshops war es, die ‚Cultural Officers‘ in den zwanzig Dzongs des Landes für die prähistorischen Wurzeln ihrer Gesellschaft zu sensibilisieren. Ihnen fällt, an der Schnittstelle von Staat und Volk, die schwierige Aufgabe zu, den langwierigen Prozess einer historischen Bewusstseinsbildung – jenseits von fliegenden Rimpoches und finsteren Erdgeistern – allmählich in den Köpfen der Menschen zu verankern. Doch zurück zur Ausgangsfrage: warum braucht Bhutan Geschichte und Archäologie? Auch im Workshop wurde darüber geredet. „Werden wir die Leute von der Notwendigkeit von Archäologie überzeugen können?“, fragte etwa der Kulturreferent Sangay Tashi. „Ich bin etwas besorgt. Die Priorität unseres Landes ist doch wirtschaftliche Entwicklung.“ Das ist nicht ganz richtig, korrigierte ihn der Kulturchef des Landes. Schliesslich stehe ‚kulturelle Identität‘ als einer der vier Pfeiler von ‚Gross National Happiness‘ gleichrangig neben ökonomischer Entwicklung.
Bruttosozialglück
Man könnte nachhaken und fragen: Warum diese hohe Priorität für Kultur in einem der ärmsten Länder der Welt? Ich fand eine Antwort in einer Broschüre mit dem Titel ‚Taking Happiness Seriously‘, die ein Workshop-Teilnehmer meiner Frau geschenkt hatte. Einer der elf Dialogpartner in diesem Interview-Bändchen, der ehemalige Journalist Kinley Dorji, formulierte sie so: „Bhutans grösste Herausforderung – sein oberstes Ziel – ist Überleben. Wir sind ein sehr kleines Land von einer halben Million Menschen, eingeklemmt zwischen zwei Giganten, China und Indien, jedes mit einer Milliardenbevölkerung. Dies gibt uns ein Gefühl extremer Verwundbarkeit, ein Gefühl, dass wir verschwinden könnten. (...) Wir werden nie eine Wirtschafts- oder Militärmacht sein. Daher müssen wir unsere Stärke in unserer kulturellen Identität finden. Wir müssen anders sein als die Milliarden von Menschen in unserer Region, von Globalisierung ganz zu schweigen. Sonst werden wir glatt geschluckt. Daher ist Kultur so wichtig. Daher der Stellenwert von Kultur im ‚Bruttosozialglück‘ – von Kleidung, Architektur, Sprache, religiösen Werten“. Und, könnte man hinzufügen, von einem (prä-) historischen Bewusstsein. Eine gemeinsame Zukunft ist dann eher möglich, wenn man auch eine gemeinsame Herkunft finden kann.