Kurz nach der Prinzipienerklärung vom 13. September 1993 («Oslo I») legte die Geberkonferenz der Weltbank in Washington ein umfangreiches Dollar-Programm zur wirtschaftlichen Entwicklung der palästinensischen Gebiete auf. Wenig später ergab sich die Gelegenheit, dass ich mich beim deutschen Vertretungsbüro in Ramallah nach den politischen Komponenten der Vorlage erkundigen konnte. Die Nachfragen lösten unwirsche Reaktionen aus.
Denn alle Welt, ausgenommen das israelische Kabinett Yitzhak Rabins, war davon überzeugt, dass mit den feierlichen Unterschriften vor dem Weissen Haus in Washington der Weg in den Staat Palästina geebnet sei. Doch auch die Interimsvereinbarung von 1995 («Oslo II») gab das Ziel eines palästinensischen Staates nicht her. Vielmehr räumten beide Dokumente samt dem Pariser Protokoll vom April 1994, besiegelt durch Arafats Unterschrift, allen israelischen Regierungen freie Hand ein, vor allem in der Zone C – und damit auf rund 60 Prozent der Westbank – das eigene politische und demographische Regiment zu etablieren und durchzusetzen. Die Zahl der Siedler erreichte Rekordmarken.
Auch zwei Jahrzehnte später hat die internationale Diplomatie von der Zwei-Staaten-Lösung nicht Abschied genommen, obwohl alle Fakten in eine andere Richtung weisen und weder Palästinenser noch Israelis an den nationalen Ausgleich beider Völker mehr glauben wollen. An den Realitäten und Stimmungslagen kommt auch John Kerry nicht vorbei, nachdem er am 3. Juni vor dem «American Jewish Committee» erklärt hat, dass die nächsten Tage über die Chancen des Friedens entscheidend würden. Dass Tony Blair als glückloser Beauftragter des Nahost-Quartetts mit der Leitung des neuen Vier-Milliarden-Dollar-Programms, das auf dem Weltwirtschaftsforum in Amman angekündigt wurde, zur wirtschaftlichen Gesundung der palästinensischen Gebiete betraut worden ist, stimmt nicht gerade optimistisch.
Beeindruckende Leistungen internationaler Hilfsorganisationen
Angesichts solch düsterer Aussichten haben weltweit abgesicherte Projekte mit Einsatz erheblicher finanzieller und personeller Mittel eine quasi-politische Verantwortung übernommen, die sich ihre Regierungen nicht zutrauen. Was sie Teilen der palästinensischen Bevölkerung unter den Bedingungen der israelischen Besatzung in Beratung, Planung, Qualifizierung, Transparenz, Koordination, Wettbewerbsfähigkeit und Entscheidungsfindung anbieten, kann als vorbildlich gelten. Denn ihnen sind Initiativen zu verdanken, die auf die selbsttragende Verantwortung der Adressaten abzielen, und zwar unter Vermeidung von Alleingängen, die auf die Abstimmung mit den jeweiligen Partnern verzichten.
Ein beeindruckendes Beispiel, das aus der deutschen «Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit» kommt, bieten die Programme zur Standardisierung von Aufgaben der lokalen Selbstverwaltung, zu denen auch digitale Personenstandsregister zählen. Aufgrund ihrer Dienstleistungsnähe bei gleichzeitig sinkenden öffentlichen Haushaltseinnahmen (zurückzuführen auf eine insgesamt stagnierende Wirtschaft mit beträchtlichen Arbeitslosenraten) bilden sie das administrative Rückgrat für die ansässige Bevölkerung. Diese Aufgaben scheinen beliebt zu sein, weil sie sich nicht von den prekären Konjunkturschwankungen in der Politik abhängig machen, denen etwa die «United States Agency for International Development» (USAID) durch Einflussnahmen des Senats in Washington ausgesetzt ist.
Zu den weiteren Schwerpunkten gehört es, die verschütteten Potentiale unter den palästinensischen Jugendlichen, und dort vor allem bei Mädchen und jungen Frauen, mittels (Fort-)-Bildung, Berufsfindung, sozialer Stabilisierung und lokalpolitischer Partizipation zu heben sowie Krisenprävention und -bearbeitung samt psychosozialer Betreuung anzubieten. Ziel ist die Entwicklung der Zivilgesellschaft, die von ihrer Kraft und von ihren Befähigungen im Alltag Gebrauch machen kann.
Einige strukturelle Daten
Diese Vorsätze sind aus arbeitsmarkt-, einkommens- und wirtschaftspolitischen Gründen von besonderem Gewicht. Denn nach einer neuen Veröffentlichung der «Palestinian Medical Relief Society» unter Leitung ihres Präsidenten Mustafa Barghouti waren im dritten Quartal 2011 von den rund 751’000 Arbeitskräften in der Westbank (= 45,3 Prozent aller verfügbaren Arbeitskräfte ab 15 Jahre) 488’730 im privatwirtschaftlichen Sektor (65 Prozent), 172’730 im öffentlichen Dienst (23 Prozent) sowie 87’000 in den jüdischen Siedlungen (12 Prozent) tätig. Interessanterweise wurden zu den im öffentlichen Dienst Beschäftigten fast 100’000 Menschen samt ihren Familien gerechnet, die nach der ersten und der zweiten «Intifada» beruflich aufgefangen wurden. Während der Durchschnittsverdienst in den Siedlungen bei 160,5 Neuen Shekel pro Tag lag, wurden anderenorts 84,8 und im Gazastreifen nur 60,2 Neue Shekel pro Tag verdient (Umrechnungskurs 1 Euro = 4,70 Neue Shekel).
Erste Tropfen auf einem heissen Stein?
Will man die genannten Ansätze auf eine gemeinsame Formel bringen, so wohnt ihnen eine Qualität inne, bei der die politische Rhetorik von den zwei Staaten von Konzepten und operativen Formaten der Hilfe zur Selbsthilfe überlagert wird, auch wenn sie heute noch wie ein Tropfen auf dem heissen Stein wirken. Doch könnten sie einer politischen Zukunft Vorschub leisten, die von Profilen der territorial und subsidiär definierten Selbstverwaltung und Eigenverantwortung geprägt ist.
Dann würden sie mit föderativen Theoriemodellen eines Verfassungsrechts korrespondieren, ohne jetzt schon das Problem von Gesamt- und Teilsouveränitäten anzugehen, das der Politik vorbehalten bleibt. Von einer solchen Entwicklung dürfte auch Israel mit seiner gescheiterten Melting-pot-Ideologie – der jüdischen «Einsammlung der Zerstreuten» (Deut. 30,3-5) – und mit seinem rund 20 Prozent umfassenden arabischen Bevölkerungsanteil nicht unberührt bleiben. Die Zahl der Palästinenser steigt, die um der sozialpolitischen Vorteile willen die israelische Staatsbürgerschaft anstreben, und das Amt des israelischen Ministerpräsidenten hat soeben die Anstellung von 400 arabischen Lehrern in jüdischen Schulen angekündigt, die am Lehrkräftemangel leiden.
Penetrant gefragt: Ist sich der politische Westen des prognostischen Wertes der Arbeit seiner NGOs bewusst, und ist er gewillt, ihre in eine erträgliche Zukunft weisende Bedeutung ernst zu nehmen? Vor einigen Jahren hatten der Israeli Tom Segev und der Palästinenser Sari Nusseibeh mit ihren Büchern «Es war einmal ein Palästina», «Es war einmal ein Land» und «Ein Staat für Palästina?» für erhebliche Diskussionen gesorgt. Gehört die politische Zukunft einem Gemeinwesen, in dem zusammenwächst, was territorial, wirtschaftlich und kulturell zusammengehört?
Erwähnte Literatur:
Tom Segev: Es war einmal ein Palästina. Juden und Araber vor der Staatsgründung Israels, Siedler Verlag, München 2005, 670 S., € 28,00
Sari Nusseibeh: Es war einmal ein Land. Ein Leben in Palästina, Antje Kunstmann Verlag, München 2008, 527 S., € 24,90
Sari Nusseibeh: Ein Staat für Palästina? Plädoyer für eine Zivilgesellschaft in Nahost, Antje Kunstmann Verlag, München 2012, 208 S., € 17.95