Am Rande der Altstadt von Arles mit ihren Denkmälern aus Römerzeit und Hochmittelalter lag ein 65’000 Quadratmeter grosses aufgelassenes Industrieareal. Hier wartete die französische Staatseisenbahn SNCF seit 1848 in riesigen Hallen ihr Rollmaterial. Seit 1984 überliess man die Gebäude dem Zerfall. 2010 erwarb die Schweizer Kunstmäzenin Maja Hoffmann das Grundstück samt den Ruinen. Sie wandelte es im Folgenden zu einem kulturellen Begegnungszentrum um. Prunkstück des Areals ist der von Frank Gehry entworfene 56 Meter hohe Turm.
Bauwerk der Anspielungen
Der Gehry-Turm zieht die ganze Aufmerksamkeit auf sich. Man könnte glatt übersehen, dass zum ganzen Ensemble weitere wichtige Gebäude gehören. Der formale Overkill des Turmes droht sie zu ersticken.
Gehry liess sich vom Amphitheater in der Altstadt inspirieren. Der in Glas aufgelöste runde Sockel ahmt den Grundriss des römischen Monuments nach. Daraus wächst ein amorphes Gebilde hoch, das aus rund 11’000 polierten Stahlkästen und 53 markant gerahmten Fenstern besteht. Gehry, der die Camargue auf seiner Hochzeitsreise mit seiner zweiten Frau kennenlernte, wollte das besondere Licht dieser Gegend im Turm bündeln. Die allseitig ausgerichteten Flächen reflektieren die Sonne auf vielfältigste Weise.
Nachts soll das Lichtspiel mit künstlicher Beleuchtung fortgeführt werden. Gehry nennt hier explizit das berühmte Van-Gogh-Bild «Sternennacht», eines der wertvollsten Gemälde im New Yorker Museum of Modern Art, als Inspiration für seinen Entwurf. Schliesslich soll die unregelmässige Hülle an die Felsformationen der Alpilles erinnern, eines Hügelzuges, der die weite Ebene der Camargue im Norden begrenzt.
Befindet man sich im Park, so erkennt man, dass der skulpturale Kern von einem kantigen, mit Steinplatten verkleideten Doppelpfeiler gestützt wird. Den Niveauunterschied zwischen der Strasse und dem Park gleicht ein ausladender Unterbau aus mehreren Quadern aus. Der Bau beruht auf dem Dreiklang von Glas, Stahl und den hell-erdfarbenen Steinplatten.
Nur ein kleiner Teil im Innern des Turmes ist öffentlich zugänglich, nämlich die für Ausstellungen und Installationen vorgesehenen Untergeschosse und die Aussichtsplattformen, von denen man einen atemberaubenden Blick auf Arles und Umgebung geniesst. Die restlichen Räume sind für die Verwaltung und für spezielle Anlässe reserviert.
Einzigartig ist die eine vertikale Erschliessung mit einer zweiläufigen Wendeltreppe, deren Sog durch einen an der Decke befestigten rotierenden Spiegel verstärkt wird. Dieser Eingriff stammt von Ólafur Elíasson, der nebst anderen Kunstschaffenden hier einen Auftrag für ein In-Situ-Projekt erhielt. Eine weitere Treppe ist mit eingefärbtem Beton gerahmt. Die Wände der Liftzugänge sind mit quadratischen aus kristallisiertem Salz bestehenden Platten ausgefacht, eine Hommage an die Salinen, aus denen das beliebte Fleur de Sel gewonnen wird.
Als benützbares Kunstwerk wurde eine über drei Stockwerke reichende doppelte Rutsche installiert, in der Mutige die schnellste Abkürzung zum Erdgeschoss wählen können. Entworfen wurde sie von Carsten Höller, der zudem eine geschlossene Brücke in den Park setzte, für deren Durchschreitung man sieben automatische Schiebetüren passieren muss.
Von Industrie- zu Kunsthallen
Vier ausgedehnte Hallen reihen sich hinter dem Turm aneinander. Davon sind zwei vom in New York domizilierten Büro Selldorf Architects renoviert und in Betrieb genommen worden. Eine dritte, eine gigantische Halle mit Satteldach, wurde auf Initiative der Region Provence-Alpes-Côte d’Azur (PACA) von den Architekten Henri Rivière und Alain Moatti umgebaut. Ihre Eingriffe beschränken sich auf das Dach mit den Sonnenkollektoren und auf die zwei dekorativen Vorbauten an den Stirnseiten.
Bei der schmalen und länglichen Halle namens «Les Forges» verzichteten Selldorf Architects darauf, das zur Hälfte eingestürzte Paralleldach wiederherzustellen. Stattdessen schufen sie einen nur durch die Seitenwände eingefassten offenen Raum mit einzelnen frei hängenden Sonnen- und Regenschutzelementen. In das bedachte Volumen wurden zwei Geschosse für Ausstellungen eingefügt.
Von beeindruckender Grosszügigkeit ist die über quadratischem Grundriss errichtete Halle «La Mécanique Générale». Selldorf Architects gestalteten das Paralleldach teilweise als lichtdurchlässige Membran und veredelten die Gusseisenstützen zusammen mit den Trägern durch die schwarze Bemalung zu einem eleganten, filigranen Geflecht.
Insgesamt wurde mit diesen Hallen ein gewaltiges Potenzial für kulturelle Manifestationen auf höchstem Niveau geschaffen. Selldorf Architects bauten ferner das Gebäude um, das ehemals für der Weiterbildung des Bahnpersonals gedient hatte. Dazu passend entstanden hier Zimmer und Übungsräume für die Beherbergung von Kunstschaffenden während ihres Aufenthaltes in Arles.
Der für die Gestaltung des Parks eingeladene belgische Landschaftsarchitekt Bas Smets modellierte einen abwechslungsreichen Garten mit unregelmässig angelegten Wegen, die sich um die Vegetationsinseln schlängeln. Zwischen den Ausstellungshallen breitet sich eine teilweise mit Schilf gesäumte Wasserfläche aus. Aus dem hässlichen Entlein der verwahrlosten Industriebrache ist ein wunderschöner, stolzer Schwan geworden, der sich gerne zu Schau stellt und bewundert werden möchte.
«Anything goes»
Initiatorin und treibende Kraft von LUMA Arles ist die aus der Basler Hoffmann-Dynastie stammende Kunstmäzenin Maja Hoffmann. Sie investiert ihr beträchtliches Vermögen in Kunst- und Kulturförderung. Ihr Vater Luc Hoffmann, Mitbegründer des WWF, fand in der Camargue seine Bestimmung und setzte sich hier für die Erhaltung der einzigartigen Flora und Fauna ein. So verbrachte die Tochter Maja ihre Jugendjahre in dieser Gegend und besuchte auch die Grundschule in Arles. Obwohl sie weltweit aktiv ist, fühlt sie sich doch immer wieder zum Ort ihrer Jugend hingezogen. Dass sie in Arles ihren Traum einer Kulturstätte verwirklichen wollte, hängt wesentlich mit dieser biografischen Prägung zusammen.
Die von ihr 2004 gegründete Stiftung LUMA mit Sitz in Zürich, benannt nach den Vornamen ihrer beiden Kinder Luca und Marina, dient der Förderung kultureller Initiativen. Doch das Feld ist weit gesteckt: Es geht um Projekte im Umfeld von Kunst, Kultur, Menschenrechten, Umwelt, Erziehung und Forschung. Erst durch den Erwerb der aufgegebenen Industrieanlagen wurde die Möglichkeit geschaffen, die Bemühungen der Stiftung auf einen Ort zu fokussieren.
Der Stiftungszweck wird fragmentarisch in dem zur Eröffnung von LUMA Arles herausgegebenen Buch «LUMA ABCD» erahnbar. Neben Ausstellungen sollen Kongresse, Gesprächsrunden und Aufführungen stattfinden. Ein offen nutzbares Archiv ist geplant, dazu eine Bibliothek. Mehrfach erwähnt wird das Atelier LUMA, in dem unterschiedliche Fachleute an Lösungen für aktuelle Herausforderungen im Bereich Umwelt und Nachhaltigkeit arbeiten sollen. Dabei wird nicht ein streng naturwissenschaftlicher Forschungsansatz verlangt. Man möchte eine kreative, mitunter chaotische Strategie zulassen, als ob Paul Feyerabend mit seinem Slogan «Anything goes» hier Pate gestanden hätte.
Erhoffter Bilbao-Effekt
Zurzeit wirkt der ganze Komplex noch recht steril, und man ist als Besucher, als Besucherin etwas ratlos ob der Vielfalt der Angebote. Es bleibt abzuwarten, was aus dem Konzept – eher: den Konzepten – entsteht und ob die Anliegen von Maja Hoffmann mit ihrem Beraterteam adäquat umgesetzt werden können.
In den Medien wurde immer wieder der Bilbao-Effekt genannt, doch dieser Bezug wird in den Statements von Maja Hoffmann nirgends erwähnt. Es ist eher eine Hoffnung der lokalen Behörden, dass LUMA Arles für ihre wirtschaftlich arg gebeutelte Stadt einen ähnlichen Boom auslösen wird wie das ebenfalls von Gehry entworfene Museum in der baskischen Metropole. Nur, das Museum in Bilbao ist klar und deutlich, es ist ein präzis geschliffenes Juwel.
Was jedoch das Spezielle von LUMA Arles ist oder dereinst sein soll, ist im Augenblick schwierig zu ergründen. Die in der erwähnten Publikation (die übrigens wertvolle Informationen über die Camargue anbietet) zusammengestellten Ideenskizzen sind enigmatisch. Irgendwie ist vor lauter Enthusiasmus der Rote Faden abhandengekommen. Es wäre fatal, würde LUMA Arles auf Dauer nur deswegen aufgesucht werden, weil sich der Gehry-Turm als attraktives Fotomotiv anbietet.
Alle Fotos: Fabrizio Brentini
Nähere Informationen unter: https://www.luma.org/fr/arles
Empfehlenswert zudem die Publikation «LUMA ABCD». Verlag der Buchhandlung Walther und Franz Koenig, Köln 2021, ISBN 978-3-7533-0030-6.