«Höhenrausch» nennt Harald Jähner sein Buch über die Weimarer Republik. Er erfasst die Dynamik dieser Zeit so unmittelbar, als wäre er von ihr direkt mitgerissen worden. Seine Leser werden zu Zeitzeugen. Sie sehen auch den Glanz dieser Kultur.
In der Weimarer Republik gab es kulturgeschichtlich völlig neue Entwicklungen. Dazu gehörte das Auto, das weit mehr war als ein blosses Verkehrsmittel. Mit geradezu erotischer Leidenschaft beschreibt Jähner, wie Frauen das Auto für sich entdeckt haben und in welcher Weise die Werbung, die Fotografie und die Mode sich davon inspirieren liessen. Frau und Auto: Das war eine völlig neue Verbindung, die wiederum auf das Verhältnis einzelner Frauen untereinander wirkte. So hatten Ruth Landshoff, «Girldriver Ruth», wie sie sich selbst nannte, und die «eine der schillerndsten Figuren der Berliner Party- und Kulturszene» war, und die Fotografin Annemarie Schwarzenbach zeitweilig eine Affäre. Schwarzenbach war natürlich auch Autonärrin und machte mehrere legendäre Autoreisen um die halbe Welt.
Zeichen der Emanzipation
Überhaupt bildet der Blick auf die Frauen und ihre Emanzipation einen Schwerpunkt dieses Buches. Jähner schildert, wie sich die Frisuren veränderten und der «Bubikopf» zum Zeichen der Emanzipation wurde. Und natürlich der Tanz: In den Tanzpalästen waren der «Shimmy» und der «Charleston» auch deswegen so beliebt, weil es dazu keinen Tanzpartner brauchte und die Bewegungen weitaus freier waren als bei den herkömmlichen Gesellschaftstänzen. Und die Rhythmen der Jazzorchester oder Kapellen lösten Ekstase aus.
Wiederholt schildert Jähner die Verzückung, die mit neuen Entwicklungen einherging. So spielte das Bauhaus in Weimar, später in Dessau eine grosse Rolle in der Architektur, bei der Gestaltung von Möbeln und Gebrauchsgegenständen. Bis heute ist das Bauhaus ein Begriff, und manches, was damals entworfen wurde, ist auch heute noch sehr gefragt. Das Besondere damals aber war, dass das Bauhaus zum Inbegriff eines neuen Lebensgefühls wurde, mit dem ein Teil der Zeitgenossen einen Ausbruch aus der Enge der bisherigen Wohn- und Lebensformen verband.
Die Weimarer Kultur war von Ideen zur Lebensreform durchdrungen. Dazu gehörten die Jugendbewegung, die auf eigene Faust in die Natur aufbrach, was wiederum das Verhältnis der Geschlechter veränderte, aber auch andere Gruppen, die sich aufs Land zurückzogen, um dort dem Gift der Zivilisation zu entgehen.
Tippen in Grossraumbüros
Für die Massen wiederum war das Aufkommen des Films mit den regelmässigen Kinobesuchen ebenso ein Markstein wie die starke Ausweitung des Tourismus. Und nicht zu vergessen: die Technik. Sinnbild für atemberaubenden Fortschritt war der Zeppelin. Es gab in der Weimarer Zeit Phasen der Euphorie und der Hochstimmung. Aber Jähner schaut auch auf die weniger glänzenden Seiten. So schildert er den Alltag der Sekretärinnen und Schreibkräfte. Die sassen zum Teil in Grossraumbüros und mussten unter der Aufsicht eines Vorgesetzten in rasendem Tempo auf den damals noch recht schwergängigen mechanischen Schreibmaschinen Briefe und Dokumente tippen. Jähner vergleicht die Fingerfertigkeit mit der von Konzertpianisten. Der Druck auf die Sekretärinnen und Schreibkräfte wurde dadurch gesteigert, dass die Personalabteilungen dazu neigten, Ältere durch Jüngere zu ersetzen, um geringere Löhne zahlen zu können.
Aber auch unter diesen prekären Bedingungen entstand ein neues Selbstbewusstsein der Frauen, das unter dem Schlagwort der Emanzipation diskutiert wurde. Konservative verwendeten dieses Wort abwertend, andere benutzten es als Parole des Fortschritts. Zum neuen Selbstbewusstsein der Frauen gehörte zeitweilig die Abkehr von der bisherigen bürgerlichen Ehe mit ihrer Unterordnung unter den Mann. Die Stereotype der Geschlechterrollen wurden aber nur zeitweilig in Frage gestellt. Gegen Ende der Weimarer Republik, kurz vor dem Aufkommen der nationalsozialistischen Herrschaft, wurde das Frauenbild wieder traditioneller, was sich auch in den Frisuren und der Mode ausdrückte.
Leni Riefenstahl
Hier zeigt sich eine Ambivalenz, die ganz besonders an einer anderen Stelle zu Tage tritt: Leni Riefenstahl. Ihre Emanzipation liegt in ihrem grossen Talent und unbedingten Erfolgswillen. Nach ihren Erfolgen als Schauspielerin in halsbrecherischen Gebirgsfilmen griff sie mehr und mehr zum Mittel der Fotografie und produzierte schliesslich Filme als Propagandamaterial für den Nationalsozialismus. Das ist schon oft beschrieben worden und bekannt. Süffisant bemerkt Jähner, dass bei den Dreharbeiten für «Die weisse Hölle vom Piz Palü» (1929) die «Bergfexe» Arnold Franck, Luis Trenker und Sepp Allgeier «erbittert um sie konkurrierten».
Leni Riefenstahl ist eines von zahlreichen Beispielen für die fliessenden Übergänge von emanzipatorischen Bestrebungen und Tendenzen, die nicht davor gefeit waren, später in die Ästhetik und Propaganda des Nationalsozialismus zu münden. So huldigte Leni Riefenstahl einem Körperkult, der typisch war für die Weimarer Republik. Harald Jähner beginnt sein Buch mit der Erinnerung an eine Aufnahme, die die Fotografin Frieda Riess 1925 von dem jungen Boxer Erich Brandl angefertigt hat. Es handelt sich um eine Aktaufnahme von beträchtlicher erotischer Ausstrahlung. Der schöne athletische Körper, überhaupt das Boxen als weit verbreitetes Mittel zur Ertüchtigung und Formung des eigenen Körpers, fanden gerade in intellektuellen und künstlerischen Kreisen viel Wiederhall. Der Kult der Nationalsozialisten griff nur eine schon längst bestehende Tendenz auf.
Die «Nur-Autostrasse»
Das Gleiche gilt für das Marschieren, für das die SA berüchtigt wurde. Aber die synchrone Bewegung von Körpern war in der Weimarer Republik vom Formationstanz bis zum Marsch diverser Vereine und Vereinigungen gang und gäbe. Jähner zitiert den Historiker Sven Reichardt, der feststellte: «Die Faszination homogenisierter Körperbewegungen, wie sie in der Disziplin geschlossenen Marsches zum Ausdruck kam, strahlte auf den Demonstrationsstil aller politischen Richtungen ab.»
Eine besondere Pointe besteht bei Jähner im Hinweis darauf, dass nicht einmal die Idee zum Bau von Autobahnen von den Nationalsozialisten stammt. Es war der Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer, der die erste «Nur-Autostrasse» bauen liess, die am 6. August 1932 feierlich ihrer Bestimmung übergeben werden konnte. Sie verband Köln mit Bonn. Weil es Adenauer auch um die Schaffung von Arbeitsplätzen ging, durften keine Bagger eingesetzt werden. Die Idee der Arbeitsbeschaffung kam also von einem Antinazi aus den Reihen der Zentrumspartei, nicht von den Nazis, wie diese gerne behaupteten.
Hitler
Es gelingt Harald Jähner in unnachahmlicher Weise, Aufbruchsstimmung, Hochgefühl, Offenheit für neue Ideen und Experimentierfreude zu schildern. Streckenweise spürt man geradezu, mit welcher Begeisterung er sich in das schier uferlose Material der damaligen Zeit gestürzt hat. Und man staunt über seine Fähigkeit, daraus eine konzentrierte Erzählung zu machen, die nie ihre Spannung verliert. Schon in seiner Darstellung der Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Titel «Wolfszeit» (2019) hat er sein grosses Können unter Beweis gestellt.
Aber Jähner sieht auch die dunklen Seiten und schildert sie nicht minder eindringlich. So beschäftigt er sich eingehend mit den «Tagelöhnern des Todes», den Freikorpssoldaten, die sich zu einem Teil aus hoffnungslos enttäuschten Kriegsheimkehrern zusammensetzten und in der Weimarer Republik nur einen Ausfluss des Verrats an ihrem «Vaterland» sahen. Er beschreibt das Trauma der Inflation und später die Verzweiflung der Arbeitslosigkeit, die als Folge der Weltwirtschaftskrise sogar «Hunger in einem der reichsten Länder der Welt» hervorrief. Und die Politik fand kein Mittel, um im Zeichen dieser Verwerfungen Adolf Hitler von der Macht fernzuhalten. Zu raffiniert war seine Agitation, wobei er mit Vorliebe das Flugzeug nutzte, um in der ganzen Republik seine Reden zu halten. Dass Hitler sein erstes Ziel, zum Reichskanzler ernannt zu werden, am 30. Januar 1933 erreichte, kommentiert Jähner rückblickend: «Hitler hatte die Demokratie verstanden und besiegt. Am nächsten Tag machte er sich an ihre Abschaffung.»
Harald Jähner: Höhenrausch. Das kurze Leben zwischen den Kriegen. 560 Seiten, zahlreiche Abbildungen, Rowohlt Berlin, 2022, ca. 40 CHF