Das Militär spielt in der deutschen Geschichte seit 1870 eine herausragende Rolle, wird aber heute negativ bewertet. In seiner vielschichtigen Studie kommt Sönke Neitzel zu differenzierten Urteilen und liefert eine höchst lesenswerte Gesellschaftsgeschichte.
Der Titel klingt nicht bestsellerverdächtig. Nur eine Minderheit der Leser dürfte spontan grosse Neigung verspüren, sich mit dieser Seite der deutschen Geschichte näher zu beschäftigen. Zu viele negative Assoziationen sind damit verbunden. Keiner dürfte das besser wissen als Sönke Neitzel, Jahrgang 1968, der den bislang einzigen deutschen Lehrstuhl für Militärgeschichte an der Universität in Potsdam innehat. Warum, so wird er zahllose Male gefragt worden sein, interessiert er sich gerade für dieses Thema?
Analyse statt Empörung
Sein Buch erschien zuerst 2020, erlebte mehrere Auflagen und kommt in diesen Tagen als Taschenbuch heraus. Es liegt nahe, diesen Erfolg mit dem Ukraine-Krieg in Beziehung zu setzen, aber auch die Brillanz seiner Studie dürfte sich mittlerweile herumgesprochen haben. Und Sönke Neitzel macht als Experte bei zahlreichen TV-Auftritten eine gute Figur. Dadurch weckt er Interesse an seinem Thema, und es sinkt die Hemmschwelle, sich mit der Gestalt des «deutschen Kriegers» auseinanderzusetzen, die die Gesellschaft doch mehrheitlich für immer und ewig auf dem Abfallhaufen der Geschichte entsorgt wissen wollte.
Schon in den ersten Sätzen seiner Einleitung kommt Sönke Neitzel zum Kern seiner Argumentation. Die Vorlage dafür liefert ihm die ehemalige Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, die aus Anlass eines Zwischenfalls mit rechtsradikalem Hintergrund am 3. Mai 2017 dekretierte, dass die «Wehrmacht» in keiner Weise für die Bundeswehr traditionsstiftend sein könne, sondern nur «einige herausragende Einzeltaten im Widerstand». Nun liessen sich aber nicht nur die inkriminierten Erinnerungsstücke aus den Zeiten der Wehrmacht in einem Aufenthaltsraum einer Kaserne im elsässischen Illkirch nicht übersehen. Es gab sie auch in zahlreichen anderen Kasernen. Anstatt sich zu empören, fragt Sönke Neitzel, worin denn überhaupt die Traditionen von Streitkräften bestehen und ob Soldaten ohne diese Stützen auskommen. Kann es Vorbilder zum Beispiel für Mut und Tapferkeit geben, auch wenn die Ziele, für die gekämpft wurde, aus heutiger Sicht fragwürdig oder gar verwerflich waren?
Realität der Gewalt
In seinen gründlichen und unvoreingenommen Untersuchungen gelingt es Sönke Neitzel, sich detailliert vom Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 an bis zum Afghanistan-Einsatz unserer Tage in den Alltag des Militärs in Krieg und Frieden zu vertiefen. Er verliert darüber nie die jeweils leitenden Fragestellungen aus dem Blick. So enthält das Buch geradezu fesselnde Schilderungen, wahrt aber stets die zur Analyse notwendige Distanz. Doch es sind gerade die genauen Beschreibungen der Lebensumstände und Schicksale der Soldaten, aus denen der Leser lernt, warum Tradition ein sehr vielschichtiges Phänomen ist, auf das auch heute nicht verzichtet werden kann, auch wenn mancher politisch motivierte Blick dafür nicht weit genug reicht.
Dass Menschen auf Menschen schiessen, ist in der bürgerlichen Gesellschaft schwer vorstellbar, aber im Krieg ist es Realität – und normal. Meisterhaft versteht es Neitzel, diesen gigantischen Bruch der bürgerlichen Werteordnung mit der völlig anderen Realität der Kriege verständlich zu machen. An keiner Stelle erliegt er der Gefahr – wie zum Beispiel Ernst Jünger – die Realität der Gewalt auch nur im Mindesten zu heroisieren oder zu idealisieren. Er beschreibt einfach, wie ganz normale Bürger in das Militär gezogen werden, in Kriege geraten und sich in einem für sie völlig anderen Normensystem orientieren. Sie müssen ihr Leben und das ihrer Kameraden sichern, indem sie auch töten. Bei Einzelnen kann dabei eine Art Lust eine Rolle spielen, die in einem bürgerlichen Leben völlig undenkbar wäre.
Neitzel beschreibt, dass die Bundeswehr nicht ohne das Know-how und die militärische Motivation der an ihrer Gründung beteiligten ehemaligen Wehrmachtssoldaten beziehungsweise Offiziere und Generäle möglich gewesen wäre. Zugleich gab es eine intensive Auseinandersetzung um die demokratische Neuausrichtung unter dem Stichwort der «inneren Führung». Prototypisch setzt er Wolf von Baudissin und Heinz Karst gegeneinander. Baudissin, der Mann der demokratischen Werte, und Karst, der für «eine strenge christlich-patriotische Werte- und Normenordnung» eintrat und für den «Disziplin, Autorität und Gehorsam» auch in der Bundeswehr unverzichtbar waren.
Der Ausnahmezustand
Erstaunlicherweise aber erfuhr die Bundeswehr eine starke Akzeptanz im Nachkriegsdeutschland. Gerade mal 5 Prozent des Jahrgangs 1950 machten von der neuen Möglichkeit der Kriegsdienstverweigerung Gebrauch. Und dennoch – Neitzel schreibt es nicht, aber wer diese Zeit als junger Mensch erlebt hat, erinnert sich daran – haftete an der Bundeswehr das alte Fluidum der Wehrmacht. Die Generäle, Offiziere und unteren Dienstränge als Ausbilder waren überwiegend keine alten Nazis, aber sie verkörperten einen Geist, der die jungen Rekruten das Fürchten lehren konnte. Wer damals Wehrdienst leistete, erzählte davon. Neitzel erwähnt ein paar Skandale, in denen Rekruten ums Leben kamen, und andere legendäre Schindereien. Aber so ganz trifft er nicht den Schrecken, den die neue Bundeswehr mit ihrem noch nicht völlig überwundenen alten Geist auf einige junge Menschen ausübte.
Aber er sieht den zentral wichtigen Punkt. Gerade weil die Bundeswehr anfangs in der Tradition des militärischen Denkens der früheren deutschen Armeen stand, stellte sie an sich hohe Anforderungen. Das gilt nicht nur für die körperlichen Belastungen der Rekruten und Soldaten, sondern auch für den Einsatz und den Verbund der verschiedenen Waffengattungen. An diesen Ausführungen, aber auch schon an den Schilderungen des Krieges von 1870/71 und dem Ersten Weltkrieg wird nach und nach klar, worin militärische Traditionen auch bestehen. Das Leben des Soldaten ist, aus einer bürgerlichen Perspektive betrachtet, ein Ausnahmezustand. Er nimmt Entbehrungen und körperliche Strapazen auf sich, ist seiner Privatsphäre beraubt und das Ziel feindlicher Angriffe. Seine Aufgabe wiederum besteht darin, den Feind zu besiegen. In den verschiedenen Waffengattungen entstehen jeweils ganz spezifische «tribal cultures», die für Aussenstehende schwer zu verstehen und zu durchschauen sind.
Verbrechen der Wehrmacht
Leichter nachvollziehbar ist allerdings die Tatsache, dass es ganz unabhängig von der jeweiligen politischen oder militärischen Zielsetzung in einer Armee anständiges und unanständiges Verhalten gibt. In dieser eng aufeinander bezogenen Gemeinschaft macht es einen grossen Unterschied, ob der Einzelne ehrlich, fair und verlässlich ist oder nicht. Und im Kampf zeigt sich, ob jemand mit Extremsituationen zurecht kommt und für seine Kameraden einsteht oder nicht. Am Beispiel der Fallschirmjäger in Afghanistan macht Sönke Neitzel klar, dass diese extrem belasteten Elitesoldaten selbstverständlich nach Vorbildern aus der Vergangenheit Ausschau halten, um jeweils mit Situationen des Chaos, ihrer eigenen Angst oder auch einer Verwundung während eines Kampfeinsatzes besser zurechtzukommen.
Ausführlich beschäftigt sich Neitzel mit den nahezu unvorstellbaren Lebensbedingungen der deutschen Soldaten während des Zweiten Weltkriegs insbesondere im Osten: «endlose Märsche, Schlafmangel, Hitze, Kälte, Dreck, Durst, Hunger und Läuse». Diese Strapazen prägten die Psyche und stärkten die Gewaltbereitschaft. Neitzel untersucht sehr genau, welchen Einfluss die Ideologie des Nationalsozialismus auf die Soldaten hatte und stellt fest, dass in der Armee zahlreiche Soldaten dienten, die dieser Ideologie fern standen. Die Wehrmacht habe eine «hohe Integrationskraft» besessen. Dazu gehörte auch die verbreitete Überzeugung, den entscheidenden Kampf gegen den «Bolschewismus» zu führen. Die Verbrechen der Wehrmacht sind also nicht allein dem Nationalsozialismus zuzurechnen, sondern haben unterschiedliche Wurzeln, was sie nicht besser macht oder gar entschuldigt.
Desinteresse der Politik
Gegen Kriegsende allerdings kam es zu einem regelrechten Exzess des Nationalsozialismus, nachdem das Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944 gescheitert war. Die Führung um Hitler und das Militär handelten wie im Wahn. Der Januar 1945 «war der verlustreichste Monat des ganzen Krieges: Rund 450’000 deutsche Soldaten fielen. Zum Vergleich: Die Vereinigten Staaten verloren im gesamten Zweiten Weltkrieg an allen Fronten 410’000 Soldaten».
Die deutsche Gesellschaft hat daraus ihre Lehren gezogen, und die Bundeswehr hat mit der ehemaligen Wehrmacht nichts mehr gemein. Sönke Neitzel analysiert aber auch die Schattenseiten dieser positiven Entwicklung: das absolute Desinteresse der Politik am Thema der Verteidigung. Auch der Afghanistan-Einsatz, in dem die Bundeswehr zum ersten Mal seit dem 2. Weltkrieg in Kämpfe verwickelt wurde und Tote in den eigenen Reihen zu beklagen hatte, wurde von nahezu atemberaubender Verständnislosigkeit seitens der Politik begleitet. Wiederholt nimmt Neitzel Ursula von der Leyen ins Visier, die stets nur ihre eigene Karriere im Blick hatte und in der Truppe herzlich unbeliebt war. Karl Theodor zu Guttenberg machte eine Ausnahme, allerdings bekanntermassen etwas kurz.
Die Folgen dieses Desinteresses und der Inkompetenz, die nicht auf Deutschland beschränkt sind, zeigen sich jetzt dramatisch: «Der Kontinent ist sicherheitspolitisch ein Zwerg, der Russland und vor allem China im militärischen Bereich ohnmächtig gegenübersteht.»
Sönke Neitzel: Deutsche Krieger. Vom Kaiserreich zur Berliner Republik – eine Militärgeschichte. 832 Seiten, Ullstein Verlag 2020, Taschenbuchausgabe Sommer 2022, ca. 20 Euro