Wie viele Arbeitslose mehr am Jahresende zu den ohnehin insgesamt schon 6 Millionen, die entweder vollständig arbeitslos sind oder nicht in einem normalen Arbeitsverhältnis stehen? 700’000 oder eine Million mehr? Die Arbeitsämter bräuchten Abertausende neuer Mitarbeiter. Diese müssten aber erst mal ausgebildet werden.
Wie viele Betriebsschliessungen? Die Handelsgerichte im Land sind in Panik vor dem, was da auf sie zukommen wird. In der kleinen Geschäftsstrasse nebenan, im 18. Pariser Arrondissement, haben nach diesem Sommer gut 10 Läden nicht wieder aufgemacht.
Die Wirtschaftsleistung des Landes ist im 2. Quartal von April bis Juni 2020 um fast 14% eingebrochen. Nur Spanien steht in der EU noch schlechter dar.
La Rentrée
Das in Europa ohnehin schon einmalig pessimistische Land Frankreich hat nach dem durchmischten Sommer seit Anfang September das Leben wieder aufgenommen, das zu Optimismus allerdings nicht viel Anlass gibt. Vielmehr hängt so etwas wie eine Wolke der Angst und Verunsicherung über der „Rentrée 2020“, dem Zeitpunkt, an dem hierzulande nach dem langen Sommer das gesellschaftliche, ökonomische und politische Leben normalerweise wieder zu seinem gewohnten Rhythmus zurückkehrt. Doch das will in diesen Tagen nicht so recht funktionieren.
Denn Covid-19 ist immer noch oder eben schon wieder da und ganz besonders aktiv gerade in den ökonomischen Hochburgen des Landes: in der 12-Millionen-Einwohner-Region rund um Paris, an der gesamten Mittelmeerküste mit den Grosstädten Nizza, Marseille oder Montpellier und auch rund um Bordeaux im Südwesten und in der nordfranzösischen Metropole Lille. 50 positiv Getestete pro 100’000 Einwohner ist die Alarmgrenze. In Marseille sind es mittlerweile 280 und die Intensivbetten der Krankenhäuser sind erneut fast vollständig belegt. In der Grossregion Paris liegt die Zahl bei 150, und die Verunsicherung ist gross. Und in Regierungskreisen flüstert man immer hörbarer: „Nur kein zweiter Lockdown!“
Ein nervöser Präsident
Staatspräsident Emmanuel Macron hält sich aus den Diskussionen um die Corona-Gefahr seit dem Sommer eher zurück. Es sei denn, er staucht hinter den Kulissen die Mitglieder seiner Regierung zusammen, weil bestimmte Dinge nicht schnell genug gehen oder mancher Minister den Mund zu weit oder anders als der Präsident geöffnet hat. Emmanuel Macron ist sichtlich nervös. Und prompt ist ihm schon wieder eine dieser flapsigen, arroganten Bemerkungen herausgerutscht, die ihm in der Vergangenheit schon reichlich geschadet haben.
Nachdem auch in Frankreich seit zwei Wochen eine heftige Debatte über das 5G-Handynetz ausgebrochen ist und rund 60 Politiker der Linken und der Grünen für ein Moratorium plädiert hatten, sagte der Präsident vor Vertretern der High-Tech-Industrie, es gebe eben immer welche, die zur Öllampe zurückkehren wollten, er aber glaube nicht, dass man mit der Lebensweise der Amischen die ökologischen Herausforderungen der Zukunft bewältigen könne. Da war er wieder, dieser allwissende, über jede Kritik erhabene Präsident, dieser abgehobene Jupiter, der die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben scheint, den die Gelbwesten und viele andere im Land aber gerade deshalb im Laufe der letzten zwei Jahre immer weniger ertragen konnten.
Innere Sicherheit
Nach seiner Rückkehr aus den Ferien hat der Präsident – für viele überraschend und als 180-Grad-Wende empfunden – plötzlich das Thema „Innere Sicherheit“ und den so genannten „Separatismus“ im Land in den Vordergrund gerückt.
Mit anderen Worten: Die fast schon altbekannte Tatsache, dass in immer mehr Vororten der französischen Grossstädte die Gesetze der Republik nur noch sehr begrenzt gelten, die Ordnungskräfte sich dort kaum noch hinwagen und bestimmte Gesetze des Islam das gesellschaftliche Zusammenleben stärker regeln, als es die Gesetze der Republik tun. Seit der Regierungsumbildung Anfang des Sommers hat der Präsident für diese Offensive in Sachen „Innere Sicherheit" auch den entsprechenden Innenminister: Gerald Darmarin, ein waschechter Sarkozy-Zögling, der die harte und forsche Sprache seines Mentors spricht, wenn es um öffentliche Ordnung, Kriminalität, Drogen oder um die Problemvororte geht. Darin hat der ehrgeizige Minister, kaum im Amt, eine „Verwilderung" des Lebensstils ausgemacht und damit gleich für die erste Polemik während der Rentrée gesorgt.
Schon beginnen sich die ersten Elysee-Exegeten zu fragen, ob Macron nicht gerade dabei ist zu beginnen, was ein gewisser Nicolas Sarkozy schon in den Jahren 2005 bis 2007 erfolgreich vorgeführt hatte. Nämlich mit einer harten Law-and-Order-Rhetorik die Stimmen für das ultrarechte „Rassemblement National“ von Marine Le Pen bei der nächsten Präsidentschaftswahl im April 2022 möglichst gering zu halten und in Le Pens Wählerpotential zu plündern. Zur Erinnerung: Sarkozy hatte dank dieser Methode Jean Marie Le Pen bei den Wahlen 2007 doch tatsächlich auf ganze 11Prozent reduziert !
Macron-Partei in Nöten
Eines scheint klar: Covid-19 und die bevorstehende Wirtschaftskrise nebst weiterer Arbeitslosigkeit hin oder her: Präsident Macron blickt und handelt bereits intensiv in Richtung Frühjahr 2022, dem Datum der nächsten Präisdentschaftswahlen.
Dabei kommt ihm nicht gerade zu Gute, dass seine ehemalige Bewegung und jetzige Partei La Republique en Marche 3½ Jahre nach seinem spektakulären Sieg bei den Präsidentschafts- und den folgenden Parlamentswahlen 2017 inzwischen aus dem letzten Loch pfeift. LREM – so die Abkürzung – hat bei den Kommunalwahlen in diesem Frühjahr 2020 dem ganzen Land schonungslos vorgeführt, dass die Partei es in all dieser Zeit nicht geschafft hat, sich lokal zu verankern. Keinem einzigen Kandidaten der Präsidentenpartei LREM gelang es, den Bürgermeistersessel in einer französischen Stadt mit mehr als 100’000 Einwohnern zu erobern. Ja schlimmer noch: Selbst diejenigen, die sich Ende Juni für die entscheidende Stichwahl mit den traditionellen Konservativen, den Republikanern ( LR), verbündeten, schafften es nicht und wurden von mehr oder weniger grün- roten Bündnissen geschlagen. So geschehen unter anderem in Strassburg und Lyon.
Ganz zu schweigen davon, dass in der Nationalversammlung, in der Macrons Partei eine absolute Mehrheit besass, in den letzten Monaten fast 50 Mitglieder die LREM-Fraktion verlassen und mehrere Kleinfraktionen gegründet haben. Überwiegend handelte es sich dabei um Abgeordnete, die 2017 aus dem eher linken sozialdemokratischen Spektrum zu Macron gestossen waren.
Schluss mit „Sowohl rechts als auch links“
Für die letzten 18 Monate seiner Amtszeit ist Macron im Parlament jetzt auf die Stimmen der Zentrumspartei „Modem“ des Altpolitikers François Bayrou angewiesen. Prompt hat der Präsident für diesen nimmersatten Apologeten der Zentrumspolitik, der schon dreimal bei Präsidentschaftswahlen angetreten und gescheitert war, noch mal – auch wenn ein Lachen durch das Land ging – ein Amt mit dem grossspurigen Namen geschaffen „Hochkommissariat des Plans“. Macron, der eine „Neue Welt“ versprochen hatte, greift auf Uraltes zurück.
Frankreich hatte zwischen 1947 und 1995 doch tatsächlich immer wieder Mal einen „Minister des Plans“ und in den 1970er Jahren gab es noch so etwas wie Fünfjahrespläne. Der Altvordere, François Bayrou, der vor einem Vierteljahrhundert unter anderem mal Erziehungsminister war, soll nun also als Hochkommissar die Zukunft Frankreichs planen.
All die rund 50 oben zitierten Abtrünnigen der Präsidentenpartei können oder wollen nicht mehr mittragen, was nach über drei Jahren Macron-Politik auch dem Letzten klargeworden ist: Das berühmte „Sowohl links, als auch rechts“ des Staatspräsidenten hat endgültig das Zeitliche gesegnet.
Macrons Politik ist rechts. Basta. Ist ja nichts Aussergewöhnliches und nicht unbedingt schlimm, aber deutlich sagen sollte man es schon. Mit Jean Castex, einem ehemaligen Sarkozy-Berater, hat sich Präsident Macron im Juni erneut einen Premierminister geangelt, der – wie zuvor Edouard Philippe – aus dem konservativen Lager der Republikaner kommt. Der wichtige Innenminister ist, wie schon gesagt, ein junger, aufstrebender Sarkozy-Boy. Und das andere wichtige Ministerium, das der Finanzen, ist unter Macron von Anfang an und bis heute mit dem konservativen Bruno Le Maire besetzt. Alles andere ist Staffage.
Die Republikaner
Diese Positionierung Macrons bringt die ehemalige Sarkozy-Partei „Die Republikaner“ mit Blick auf 2022 in höchste Nöte, zumal sie seit Macrons Wahl zum Präsidenten immer noch einem Trümmerhaufen gleicht und man jetzt schon spürt, dass das Finden eines Kandidaten oder einer Kandidatin für die Präsidentschaftswahl 2022 einem Wadenbeissen und Messerstechen gleichen wird.
Einer hat sich in den letzten Tagen bereits wiederholt in Position gebracht. Xavier Betrand, der Präsident der Region „Hauts de France“ im einst proletarischen Norden Frankreichs, jahrzehntelang die Hochburg der Sozialisten und Kommunisten. Der ehemalige Minister unter Chirac und Sarkozy gilt als Konservativer mit sozialem Anstrich, hat allerdings ein Manko: Er hat nach dem Fiasko rund um die Kandidatur von François Fillon bei den letzten Präsidentschaftswahlen die Partei „Die Republikaner“ verlassen. Würde diese sich jetzt trotzdem hinter ihn stellen und auf einen hauseigenen Kandidaten verzichten?
Neben Bertrand sitzt auch die Präsidentin der Grossregion Paris, Valérie Pécresse, in den Startlöchern, und viele fragen sich auch, ob der trotz guter Umfragewerte gerade entlassene Premierminister Edouard Philippe – immerhin politisches Ziehkind von Ex-Premier- und Aussenminister Juppé und Mitglied der Republikaner – sich in den nächsten Monaten damit begnügen wird, Bürgermeister von Le Havre zu bleiben oder doch weitergehende Ambitionen haben könnte.
Und noch eine Variante wird ins Spiel gebracht, die für die Partei „Les Républicains“ allerdings fatal sein könnte. Aus ihrem Inneren vernimmt man bereits mehrere Stimmen – die des Ex-Sarkozy-Vertrauten und Bürgermeisters von Nizza, Christian Estrosi, ist die bekannteste –, die offen fordern, man solle für 2022 eine Art Koalition mit Emmanuel Macron eingehen.
Kein Duell Macron – Le Pen?
Bei diesem Warmlaufen für die Präsidentschaftswahlen 2022 eint die Konservativen und die Linke in Frankreich eines: Es soll nicht noch einmal in der entscheidenden Stichwahl ein Duell zwischen Macron und der rechtsextremen Marine Le Pen geben. Besonders Frankreichs nach wie vor weit zersplitterte Linke träumt davon, in 18 Monaten Marine Le Pen zumindest den Zugang zum 2. Wahldurchgang zu vermasseln.
Jeder im Land weiss, dass dies nur möglich wäre, wenn sich die gesamte Linke und die Grünen, die zusammen nach wie vor bestenfalls ein Drittel der Wähler auf sich vereinen, auf einen einheitlichen Kandidaten oder eine Kandidatin einigen könnten. Doch davon scheint man auf nationaler Ebene nach wie vor Lichtjahre entfernt.
Dabei hat es bei den Kommunalwahlen in der ersten Hälfte dieses Jahres durchaus funktioniert. Fast überall, wo sich Grüne, verbliebene Sozialisten und Vertreter der Linkspartei von Jean-Luc Mélenchon auf einen Kandidaten, meist einen Grünen oder eine Grüne, einigen konnten, haben sie für grosse Überraschungen gesorgt. Seitdem schweben – nicht unbedingt Sozialisten oder Linkspartei – vor allem Frankreichs Grüne auf einer Wolke. In 10 der 50 grössten französischen Städte stellen sie tatsächlich für die nächsten sechs Jahre den Bürgermeister oder die Bürgermeisterin. Und das ist auf den ersten Blick in der Tat beachtlich.
Bordeaux, seit Ende des 2. Weltkriegs von Konservativen regiert, wird nun grün verwaltet. Lyon, die zutiefst bürgerliche Stadt, ebenso. Und dann: Marseille, seit einem Vierteljahrhundert von einem konservativen Urgestein, Jean Claude Gaudin, regiert, hat für eine grüne-linke Liste gestimmt. Grenoble hat seinen seit sechs Jahren regierenden grünen Bürgermeister wiedergewählt, er hat nun Kollegen und Kolleginnen auch in Annecy, Besançon, Tours und Poitiers.
Landesweit
Landesweit allerdings sieht zur Stunde niemand wirklich, wie der egozentrische Chef der Linkspartei, Jean-Luc Mélenchon, in 18 Monaten auf eine eigene Kandidatur verzichten könnte, um einem Kandidaten der Grünen den Vortritt zu lassen.
Frankreichs Sozialisten haben dieses Problem nicht. Sie sind auch dreieinhalb Jahre nach dem Fiasko der Präsidentschaftswahlen 2017 – 6% – nicht aus den Tiefen wieder auferstanden.
Es sei, ja es sei denn ... die sozialistische Bürgermeisterin von Paris, Anne Hildago, könnte sich zu einer Kandidatur für das Präsidentenamt durchringen. Sie und ihr Vorgänger, Bertrand Delanoe, haben fast 20 Jahre lang vorexerziert, wie es gemeinsam mit den Grünen und Teilen der Linkspartei oder verbliebenen Kommunisten funktionieren kann und man dabei sogar wiedergewählt wird. Im Fall von Anne Hidalgo in diesem Juni sogar triumphal. Zumindest hat Anne Hidalgo am Wochenende die Möglichkeit einer Kandidatur erstmals nicht mehr vollständig ausgeschlossen.
Und die Grünen?
Auch sie werden angesichts der umweltfreundlichen Stimmung im Land wohl nicht auf einen eigenen Kandidaten verzichten. Gleichzeitig schiessen sie nach ihren Erfolgen bei den Kommunalwahlen auf Landesebene aber gerade einen Bock nach dem anderen. Da verkündet erst der neue grüne Bürgermeister von Bordeaux, in seiner Stadt werde es in Zukunft vor dem Rathaus keinen Weihnachtsbaum mehr geben. Kurz darauf prügelt sein Kollege in Grenoble während der Alpenetappen der Tour de France auf eben diese Tour de France ein, das grösste und beliebteste Volksfest im Land, nannte die Tour umweltschädigend und antifeministisch. Selbst wenn dies durchaus nicht ganz falsch ist, muss ein politisch Verantwortlicher das just in dem Moment sagen, da sich Millionen Franzosen an diesem Spektakel ergötzen? Ein Verantwortlicher, der einer Partei mit nicht mal 10’000 Mitgliedern angehört und deren Kandidaten bei Präsidentschaftswahlen in den letzten Jahrzehnten, man höre und staune, nicht mehr als 2 bis 3% und ein einziges Mal sagenhafte 5,2% erzielt haben.
Doch damit nicht genug. Der Europaabgeordnete Yannick Jadot, ein Realo, der die Statur eines möglichen Präsidentschaftskandidaten der Grünen erlangt hat, unterlag am Sonntag bei einer internen Abstimmung über den Zeitpunkt der Kandidatenkür im höchsten Parteigremium glasklar gegen die Fundis in der Grünpartei, und zwar mit 30 gegen 70%.
Es ist, als kämen Frankreichs Grüne auch bei besten äusseren Bedingungen und nach über 30-jährigem Bestehen aus ihrem politischen Analphabetismus einfach nicht heraus.