Die meist zum Voraus verfassten Nachrufe amerikanischer Zeitungen nennen häufig die Namen der engsten Hinterbliebenen. Als der frühere Verteidigungsminister Donald H. Rumsfeld am 30. Juni im Alter von 88 Jahren starb, listete die «New York Times» pflichtbewusst seine Frau Joyce Pierson, ihre drei Kinder Valerie Richard, Marcy Rumsfeld und Nicholas Rumsfeld sowie sieben Grosskinder und drei Urgrosskinder auf.
Die Mehrheit unter ihnen dürfte die Würdigungen gelesen haben, die nach dem Tod des ersten Pentagon-Chefs (2001–2006) unter Präsident George W. Bush erschienen sind. Ob die Verfasser dieser Beiträge jeweils an die Hinterbliebenen gedacht haben, als sie an jenen Mann erinnerten, den die satirische Website «The Onion» eine «Massenvernichtungswaffe» nannte?
Die Medien titelten teils nüchtern, wie etwa die «Times» es tat: «Donald H. Rumsfeld, Verteidigungsminister während des Irak-Krieges, im Alter von 88 Jahren gestorben». Schon deutlicher äusserte sich die Nachrichtenagentur AP, die Rumsfeld in der Überschrift als «gerissenen Führer» bezeichnete, der «einen ruinösen Krieg im Irak» beaufsichtigte. Dagegen äusserte sich die Website «The Daily Beast» ganz unverblümt: «Killer von 400’000 Menschen stirbt friedlich».
«De mortuis nihil nisi bene», sagt ein lateinisches Sprichwort: Über die Toten nichts als Gutes. Die einen Verfasser von Nachrufen mögen das beherzigt haben, die anderen nicht. Trotzdem ist erstaunlich, wie weit die Einschätzungen der Stärken und Schwächen, der Verdienste und Defizite Donald H. Rumsfelds auseinanderklaffen. Auf der einen Seite des Spektrums ist der treue Staatsdiener, auf der anderen der skrupellose Kriegsverbrecher.
«Von früheren Kollegen als zu gleichen Teilen smart und kämpferisch, patriotisch und politisch schlau gesehen, machte Rumsfeld in der Regierung unter vier Präsidenten und in der Wirtschaft während fast eines Vierteljahrhunderts Karriere», heisst es im Nachruf der AP: «’Rummy’, wie er oft genannt wurde, war ehrgeizig, witzig, einnehmend und grosser persönlicher Wärme fähig. Aber er irritierte viele mit seinem konfrontativen Stil.»
Weniger wohlwollend äussert sich im liberalen Monatsmagazin «The Atlantic» Autor George Packer: «Rumsfeld war der schlechteste Verteidigungsminister der amerikanischen Geschichte. Dass er jetzt gestorben ist, sollte nichts an dieser Einschätzung ändern.» Der Verstorbene, so Packer, sei der lautstärkste Befürworter aller Desaster nach dem 11. September 2001 gewesen: «Wo immer die amerikanische Regierung eine falsche Abzweigung erwog, Rumsfeld war als erster dort mit seinem harten Lächeln – blinzelnd, sich über die Vorsichtigen lustig machend und sein Land noch tiefer in ein Loch stossend.» Die Erklärung dafür? «Seine Fehleinschätzungen wurden nur durch seine absolute Selbstsicherheit aufgewogen. Ihm fehlte der Mut, an sich selbst zu zweifeln. Ihm fehlte die Weisheit, seine Meinungen zu ändern.»
Gegen George Packers Einschätzung wehrt sich auf der Website «Politico» Rumsfelds Redenschreiber Matt Lattimer, der über seinen früheren Chef schreibt, was die Nachrufe seiner Meinung nach nicht sagen: «Sie liebten ihn, als die Dinge gut liefen. Sie tadelten ihn, wenn die Dinge schlecht liefen. Und er beklagte sich nie.» Lattimer argumentiert, nicht zu Unrecht, dass der Entscheid, 2003 aufgrund falscher Informationen gegen Saddam Hussein in den Krieg zu ziehen sowie der desaströse Verlauf der «Operation Iraqi Freedom» nicht allein Donald H. Rumsfeld anzulasten seien.
Präsident George W. Bush, Vizepräsident Dick Cheney und eingefleischte Neokonservative wie Paul Wolfowitz, Doug Feith oder Lewis «Scooter» Libby dürften in Washington DC als Kriegstreiber ebenso einflussreich gewesen sein. Auch nicht vergessen werden darf die nicht über alle Zweifel erhabene Rolle der amerikanischen Medien egal welcher Couleur, die vor 2003 den Krieg im Irak mehrheitlich befürworteten und wie Rumsfeld kaum abweichende Stimmen zu Wort kommen liessen.
Lattimer erwähnt, weshalb die meisten Nachrufe auf den früheren Verteidigungsminister seiner Meinung nach falsch liegen: «Sie werden die Geschichte des Washingtoner Machers erzählen, der keine Gefangenen nahm und dessen starrköpfige Taktik uns in einen Krieg geführt hat, der nicht zu gewinnen war. Am Ende aber ist es äusserst ironisch, dass dieses angeblich so rücksichtslose politische Tier jenes Spiel nicht mitspielte, das andere gegen ihn spielten.»
Rumsfeld habe sich wiederholt geweigert, sich wie einst Robert McNamara (wegen Vietnam) für den Irak zu entschuldigen, was ihn gut hätte aussehen lassen. Oder Präsident Bush und andere Offizielle in der Regierung und im Weissen Haus für Entscheidungen zu kritisieren, an denen das Pentagon beteiligt war: «Stattdessen lebte er sein Leben – schrieb seine erfolgreichen Memoiren, verbrachte Zeit im Westen des Landes, half anderen, wo er konnte, versuchte, die Welt zu einem Ort ohne Bitterkeit oder Groll zu machen.»
Noch glühender verehrt in einer Kolumne der «Washington Post» Marc A. Thiessen, ein Mitarbeiter Rumsfelds im Pentagon, seinen früheren Vorgesetzten: «Mit dem Hinscheiden von Donald H. Rumsfeld hat unser Land einen grossen Führer verloren, der mitgeholfen hat, 50 Millionen Menschen aus der Tyrannei zu befreien, die Terroristen, die uns am 11. September 2001 attackierten, gerecht zu bestrafen und unser Militär für die Bedrohungen eines neuen Jahrhunderts zu wappnen.»
Unerwähnt lässt Thiessen, dass Saddam Hussein nicht, wie von den «Neocons» behauptet, mit Osama bin Ladens al-Quaida alliiert war, und gewagt ist es auch zu behaupten, Afghanen und Irakern gehe es heute besser als vor den Militäroperationen der USA. Der Irak ist heute weit davon entfernt, ein sicherer und stabiler Staat zu sein, und in Afghanistan dürfte die Rückkehr der Taliban an die Macht nach dem Abzug amerikanischer und alliierter Truppen nur noch eine Frage der Zeit sein.
«Die Auflösung von Ländern, um die wir uns nicht gross kümmern in der Folge der Gewalt, die wir ihnen antun, ist nicht immer dramatisch. Die Rumsfeld-Doktrin beinhaltete billige Kriege, deren wahre Kosten noch während Jahren nicht zu Tage treten», schreibt der Schriftsteller Phil Klay, der in der US-Marineinfanterie im Irak kämpfte, in einem Beitrag für die «Washington Post».
Am härtesten geht Phyllis Bennis im linksliberalen Magazin «The Nation» mit Donald H. Rumsfeld ins Gericht: «Anders als Hunderttausende Iraker, Afghanen und so viele andere, die in Kriegen getötet wurden, die er verantwortete, und in den Folterzellen, die er beaufsichtigte, ist Donald Rumsfeld friedlich gestorben.» Der Titel des Nachrufs? «Kriegsverbrecher im Alter von 88 Jahren tot aufgefunden». Als eine der wenigen beziffert die linke Aktivistin die Kosten der amerikanischen Kriege in Afghanistan und im Irak.
Am Hindukusch sind 2’372 US-Soldaten und vier zivile Mitarbeiter des Pentagon gefallen (Stand Ende Juli 2018). Hingegen sind seit 2001 in der Folge von «Operation Enduring Freedom» laut Schätzungen lokaler und internationaler Menschenrechtsgruppen rund 47’600 afghanische Zivilisten getötet worden, wobei aber auch die wiedererstarkten Taliban für viele Opfer verantwortlich sind. Währenddessen sind im Irak mehr als 4’400 amerikanische Militärangehörige und laut der Forschungsgruppe Iraq Body Count bis zu 208’000 Zivilisten gestorben.
Der NGO National Priorities Project zufolge haben die beiden Kriege in Afghanistan und im Irak mindestens 5,4 Billionen Dollar gekostet. «Wenn Rumsfeld und die Regierung Bush beschlossen hätten, die Attacken von 9/11 als das zu sehen, was sie waren, nämlich ein schreckliches Verbrechen gegen die Menschlichkeit, statt auf diese Anschläge mit einem globalen Krieg zu antworten, stell’ dir vor, wofür dieses Geld auch hätte eingesetzt werden können», folgert Phyllis Bennis in ihrem Nachruf.
Als Donald H. Rumsfeld 2002 an einer Pressekonferenz gefragt wurde, ob er Beweise dafür habe, dass Saddam Hussein plane, Terroristen mit Massenvernichtungswaffen aufzurüsten, antwortete er auf seine saloppe Art wie folgt: «Es gibt ‘known knowns’ – es sind Sachen, von denen wir wissen, dass wir sie wissen. Wir wissen auch, dass es ‘known unknowns’ gibt – d. h. wir wissen, dass es Sachen gibt, die wir nicht wissen. Es gibt aber auch ‘unknown unknowns’, jene Sachen, von denen wir nicht wissen, dass wir sie nicht wissen.» Auf die Frage, was denn nun gelte, antwortete Rumsfeld mit einem Grinsen: «Ich werde nicht sagen, welches es ist.»
In einem der rund 20’000 Memos, die er während seiner Zeit als Mitglied der Regierung von George W. Bush verfasste, hat Donald H. Rumsfeld zum Thema Massenvernichtungswaffen im Irak einmal sibyllinisch bemerkt: «Das Fehlen von Beweisen ist kein Beweis für das Fehlen.» Doch an Indizien, dass sein Erbe ein desaströses und toxisches ist, mangelt es nicht: Das Finden von Beweisen ist ein Beweis für deren Existenz.