Wenn in Deutschland jemand mit militärischen Ehren und einem Grossen Zapfenstreich aus dem Amt verabschiedet wird, hat der so Geehrte das Privileg, sich – ausserhalb der vorgegebenen Zeremonie – drei Musikstücke seiner persönlichen Wahl zu wünschen. Das galt natürlich auch für den scheidenden Bundespräsidenten Joachim Gauck. Und wer ihn kennt, konnte über die Auslese nicht verwundert sein. Die von ihm bestimmten Melodien symbolisieren, jede für sich, bestimmte Schwerpunkte seines Lebens und, zusammen genommen, praktisch die Maximen seines Denkens und Handelns.
Von „Karat“ bis Martin Luther
Da war, erstens, der Hit der einstmals populärsten DDR-Rockband Karat, „Über sieben Brücken musst Du geh‘n“. Der heute 77-Jährige hat den mit Abstand grössten Teil seines Lebens unter den Zwängen eines Regimes zugebracht, das die geistige und auch berufliche Entfaltung des Individuums nicht nur nicht zuliess, sondern im Zweifelsfall sogar mit aller Härte verfolgte und unterband.
Kein Wunder also, dass sich der Mann von der mecklenburgischen Ostseeküste das alte, aus den Befreiungskriegen gegen Napoleon stammende Volkslied Max von Schenckendorfs wünschte: „Freiheit, die ich meine“. Und die Zuversicht, diese Freiheit eines Tages tatsächlich auch erfahren zu können, schöpfte der frühere, in Rostock tätige, evangelisch-lutherische Jugendpfarrer aus seinem Glauben. Daher als dritter Musikwunsch das auf Martin Luther zurückgehende „Ein feste Burg ist unser Gott“.
Verzicht auf zweite Amtsperiode
Joachim Gauck hat sein Ausscheiden aus dem Amt selbst bestimmt. Das Gesetz hätte eine zweite Wahlperiode erlaubt. Es besteht kein Zweifel, dass er von einer überwältigenden Zustimmung getragen worden wäre – und zwar keineswegs nur aus den politischen Lagern, sondern auch aus der Bevölkerung. Indessen, er hatte Zweifel, ob sein Alter und die Gesundheit den Anforderungen des „Dienstes“ standhalten würden.
Ausser ihm haben von den übrigen zehn bisherigen Staatsoberhäuptern im westlichen und später vereinigten Deutschland nur drei eine solche Entscheidung getroffen: Gustav Heinemann (SPD), Karl Carstens (CDU) und Roman Herzog (CSU). Theodor Heuss (FDP), Heinrich Lübke (CDU) und Richard von Weizsäcker (CDU) amtierten zwei Mal. Walter Scheel (FDP) und Johannes Rau (SPD) hatten nach fünf Jahren in der Bundesversammlung nicht mehr die notwendige Stimmenmajorität. Bleiben noch Horst Köhler und Christian Wulff, die sich (aus unterschiedlichen Gründen) nicht gerade als Glücksgriffe erwiesen.
Zunächst nur „zweite Wahl“
Gauck war 2012 erst sozusagen im zweiten Anlauf ins Berliner Schloss Bellevue gewählt worden. Natürlich war er seinerzeit schon eine bekannte Figur. Nein, hat er mehrfach bekannt, ein Widerstandskämpfer im Sinne des Wortes sei er im SED-Staat nie gewesen. Seine Gegnerschaft zum Regime weisen freilich die mannigfaltigen Aktionen der Staatssicherheit aus.
Nach der „Wende“ 1989 begann seine politische Karriere – zunächst beim „Neuen Forum“ in der ersten, frei gewählten Volkskammer, später als erster Vorsitzender des Gremiums, das im Volksmund noch heute unter dem Namen „Gauck-Behörde“ bekannt ist: Amt des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen. Und keine Frage, wäre da nicht der norddeutsche Sturkopf gewesen, hätte die „Tagespolitik“ diese Behörde mit Sicherheit längst aufgelöst und die für Viele noch immer unangenehmen Dokumente in den Archiven verschwinden lassen.
Nicht von allen Deutschen gern gehört
Hier liegt natürlich auch der Schlüssel für das „Glaubensbekenntnis“, mit dem der jetzt scheidende Bundespräsident nicht wenigen Deutschen immer wieder auf die Nerven ging – zum Glück. Gauck trug den Begriff „Freiheit“ seine ganze Amtszeit über wie ein Banner vor sich her. Um es konkret zu sagen: Die Dauermahnung, dass die Menschen zwischen Rhein und Oder doch „Freiheit“ bitteschön nicht als Selbstläufer erachten sollten, sondern als ein hohes Gut, für das man immer wieder von Neuem eintreten und notfalls auch kämpfen müsse.
Das wurde bei weitem nicht von allen Deutschen gern gehört. Im Osten nicht, wo der Ruf nach Freiheit aus der „Wende“-Zeit längst leise geworden und nicht selten nationalistischen, ja selbst rechtsextremistischen Parolen gewichen ist. Und im Westen der Republik hatte das Wort ohnehin nicht diesen ehernen Klang, da in den Jahren seit Kriegsende schliesslich bereits einige Generationen Freiheit als Selbstverständlichkeit erlebt hatten. Und der Wert von Selbstverständlichkeiten ist nun einmal bekanntlich nicht besonders gross.
Resignation und Realismus
Tatsächlich konnte man in jüngster Zeit schon mal den Eindruck gewinnen, dass der des Wortes mächtige Bundespräsident müde geworden war, den Bürgern immer wieder das hohe, politische Freiheitslied zu singen. Dazu mochten auch deprimierende Ereignisse beigetragen haben, wie die zentrale Feier zum Tag der Wiedervereinigung am 3. Oktober vorigen Jahres in Dresden, wo eine grausige Meute die verantwortlichen Politiker als Volksverräter (und noch schlimmer) denunzierte. Mag sein auch, dass das Miterleben der mühsamen Tagespolitik den Optimisten – ja, ursprünglich vielleicht sogar nur an das Gute im Menschen glaubenden Utopisten – Gauck zu mehr Realismus bewegt hat. In diese Richtung jedenfalls deuten Gaucks in den vergangenen Monaten wiederholten Appelle an die Deutschen, sich darauf einzustellen, dass dem Staat (und damit auch den Bürgern) in Zukunft international bedeutend mehr Verantwortung abverlangt werden wird.
Liberaler Konservativer und aufgeklärter Patriot
Gefragt, als was er sich selbst im politischen Getriebe der Bundespublik sähe, hat sich Joachim Gauck mal als „liberalen Konservativen“, mal als „aufgeklärten Patrioten“ bezeichnet. Beide Attribute sind gewiss kein Gegensatz, sondern eher eine Ergänzung. Ganz sicher hat er das ihm Mögliche getan, um dem Volk Leitlinien an die Hand zu geben. Ob sie angenommen werden, wird Gaucks Nachfolger erfahren – der Sozialdemokrat und bisherige Bundesaussenminister Frank-Walter Steinmeier, der jetzt ins „Bellevue“ von Berlin einzieht.