Die militärische Lage in Syrien hat sich im vergangenen Jahr nicht entscheidend verändert. Nach der politischen Krise folgt nun die Gesellschaftskrise.
Schon vor einem Jahr war die Stadt Aleppo umkämpft und geteilt. Homs (genauer die Ruinen der Stadt) befanden sich weitgehend im Besitz der Regierungstruppen, nachdem die Aussenquartiere im Jahr 2011 bitter umkämpft worden waren. Die Hauptverbindungsachse, die Strasse zwischen Damaskus und Aleppo, ist nach wie vor nicht fest in der Hand der Regierung.
Damaskus, Raqqa
In Damaskus beherrschten die Rebellen die Vorstädte und umliegenden Ortschaften. Aus manchen wurden sie im vergangenen Jahr vertrieben, andere wurden völlig zerstört. Doch den Regierungstruppen gelang es nicht, den Ring der Aufständischen um die Hauptstadt zu sprengen. Die Rebellen ihrerseits konnten nicht in die inneren Quartiere von Damaskus vordringen.
Die Bergregion von Idlib blieb in der Hand der Rebellen. In den Gebieten zwischen Aleppo und der türkischen Grenze haben sie einiges Gelände verloren, doch sie sind dort immer noch die dominierende Kraft. In den weiten Gebieten am Euphrat und darüber hinaus bis an die irakische Grenze gibt es nur kleinere Enklaven, die wichtigste liegt bei der Stadt Deir az-Zor, in denen die Regierungstruppen sich halten. Dort befindet sich Raqqa, die einzige Provinzhauptstadt, die von den Rebellen gehalten wird. Vor dem Krieg war dies eine Stadt von 250 000 Bewohnern, doch heute sollen sich gegen eine Million Menschen dort aufhalten, weil viele Flüchtlinge in ihr Schutz gesucht haben.
Offensive, Gegenoffensive, Status quo
Die Kurden in drei getrennten Enklaven an der türkischen Grenze haben mehr Unabhängigkeit erkämpft und versuchen, ihr eigenes Regime einzurichten.
An der Südgrenze sind die Rebellen nicht entscheidend voran gekommen, doch sie beherrschen noch einen engen Streifen, der an die von Israel besetzten Golanhöhen angrenzt. Die nördlich und östlich davon liegenden Regionen, auch jene an der jordanischen Grenze, gelten als umstritten, das heisst, keine der beiden Seiten beherrscht sie völlig.
An der libanesischen Nordgrenze haben die syrischen Truppen im Juni die Schlacht um das Städtchen Qussair gewonnen, offenbar mit entscheidender Hilfe der libanesischen Hizbullah-Milizen. Doch dieser Sieg hat sie auch nicht so weit gebracht, dass sie Mittelsyrien mit der Orontesebene voll beherrschten.
Schliesslich haben Einheiten der Rebellen versucht, von der türkischen Grenze aus in die Berge oberhalb Lattakiyes vorzustossen. Dies ist der Jebel Alawi, historisches Rückzugsgebiet der Alawiten. Ihr Ziel soll gewesen sein, das Heimatdorf der Asad-Famlie, Qardaha, zu erobern. Doch der Versuch schlug fehl. Durch eine Gegenoffensive der syrischen Armee wurden sie zurückgeschlagen.
Die Regierung hat nicht genügend Soldaten
Gesamthaft gesehen gilt nach wie vor die Faustregel: die Regierung verfügt über eine gut bewaffnete und schlagkräftige Armee, doch diese ist nicht gross genug, um alle syrischen Gebiete, die sie erobert hat, gleichzeitig besetzt zu halten. Die Armee kann mit ihren weit überlegenen Waffen, einzelne Stützpunkte und Orte einnehmen oder sie soweit zerstören, dass sie nur noch Ruinen sind. Sie tut dies nur allzu systematisch, weil ein solches zerstörerische Vorgehen für sie den Vorteil hat, dass sie ihre Kampftruppen nicht gefährdet. Doch die Armee hat nicht genügend Soldaten und Offiziere, auf welche sie sich verlassen kann, um alle Territorien Syriens zu besetzen und zu beherrschen.
Viele der Soldaten und Offiziere aus der sunnitischen Mehrheit sind im Verlauf des ersten und des zweiten Jahres des Bürgerkriegs zu den Rebellen übergelaufen. Sie können heute nicht mehr zurück und stehen vor der Wahl, jenseits der Grenzen Zuflucht zu suchen oder sich einer der Kampfgruppen anzuschliessen.
Das Jahr brachte Vorteile für die Regierung
Umgekehrt hat sich die Feindschaft zwischen den Sunniten und den Alawiten soweit vertieft, dass auch die Alawiten keine andere Wahl mehr haben, als in der Regierungsarmee zu dienen und in ihrem Schutz ihr Leben zu fristen. Die anderen Minoritäten, Christen, Drusen, Ismailiten, 12er Schiiten, sehen sich ebenfalls gezwungen, auf Seiten der Regierung zu treten, um ihren Schutz zu geniessen. Sie alle fürchten den wachsenden Fanatismus der sunnitischen Kämpfer.
Obwohl sich im territorialen Bereich im vergangenen Jahr nicht sehr viel verändert hat, brachte das Jahr Entwicklungen, die das Gleichgewicht der Kräfte verschoben haben: zum Vorteil der Regierung und zum Nachteil der Rebellen. Die wichtigste dieser Entwicklungen drehte sich um die Giftgasangriffe vom 21. August und das ihnen folgende diplomatische Nachspiel.
Keine Hilfe für die nichtreligiösen Kämpfer
Ein russischer Schachzug führte dazu, dass als Gegenleistung für eine Unschädlichmachung der syrischen Gaswaffe die USA auf einen bewaffneten Angriff auf Syrien verzichteten. Asad stimmte dem zu und hielt sich auch an die Abmachungen. Dafür erwirkte er sich praktisch Sicherheit gegen ein militärisches Einschreiten der Amerikaner.
In der politischen Praxis bedeutete dieser Schritt auch, dass die syrischen Kämpfer alle Hoffnungen auf direkte Hilfe aus dem Westen begraben mussten. Es waren gerade jene Kampfgruppen, die nicht religiös motiviert waren, welche am meisten auf solche Hilfe gezählt hatten. Solche Hilfe war ja in Libyen zustande gekommen. Dass das gleiche nun in Syrien endgültig nicht geschehen sollte, war ihnen anfänglich so gut wie unbegreiflich.
Für die religiös motivierten Gruppierungen war es auch eine Enttäuschung. Doch sie hatten für ihre Aktionen weniger auf die Hilfe aus dem Westen und viel mehr auf jene aus der islamischen Welt gesetzt. Diese Hilfe mit Geld und Waffen ging weiter.
Erstarkte islamistische Kämpfer
Die Giftgas-Diplomatie hatte eine weitere wichtige Konsequenz: Die islamistischen Kampfgruppen, das heisst alle jene, die nicht ein demokratisches Syrien anstreben, sondern einen "islamischen Staat" Syrien, gewannen mehr und mehr an Bedeutung, und die nicht islamistischen, demokratisch ausgerichteten Gruppierungen und Individuen, die ursprünglich die Erhebung gegen das Regime ausgelöst hatten, erlitten Rückschläge. Diese gingen so weit, dass gegen Ende des Jahres die Kämpfer der sogenannten Freien Syrischen Armee, kaum mehr von Bedeutung waren.
Diese Freie Armee war ohnehin immer nur ein jenseits der Grenze in der Türkei angesiedelter Kopf gewesen, dem sich jedoch in besseren Zeiten manche der Kampfgruppen unterstellt oder angeschlossen hatten, weil sie sich davon Waffenhilfe, Geld und letztlich die militärische Unterstützung des Westens erhofft hatten.
Als sich die westliche Hilfe auf "nicht tödliche" Militärhilfe beschränkte und als die islamistischen Gruppen mehr Geld, bessere Waffen und bessere Verpflegung erhielten, schlossen sich viele dieser nicht-islamistischen Gruppierungen den Islamisten an. Man musste sich nur den Bart wachsen lassen. Die Übermacht der Islamisten führte dann dazu, dass die westliche Hilfe an der türkischen Grenze gedrosselt wurde. Die westlichen Mächte wurden unsicher darüber, in wessen Hände schliesslich ihre tödliche und "nicht tödliche" militärische Hilfe gelangte. An der Südfront, über die jordanische Grenze hinweg, soll noch etwas Hilfe weiter gewährt werden.
Die Islamisten rücken zusammen
Das Gewicht der Islamisten nahm nicht nur wegen der ungleichen Hilfsströme zu. Es erwies sich auch immer deutlicher, dass sie zielbewusster und energischer kämpften, als ihre nicht-islamistischen Brüder. Sie zögerten auch nicht, grausamer und rücksichtsloser vorzugehen. Es waren islamistische Extremisten, die begannen, Selbstmordanschläge durchzuführen, sowohl in Damaskus wie auch in Aleppo.
Die nicht islamistischen Kämpfer vermochten es nicht, gemeinsame Zielvorstellungen und eine koordinierte Strategie zu entwickeln. Demokratie blieb für sie nur ein Schlagwort, das in der Praxis zu endlosen inneren Diskussionen und verbalen Machtkämpfen führte. Doch die Islamisten brachten es fertig, punktuell zusammenzuarbeiten, indem sich mehrere Gruppen zu bestimmten Aktionen zusammentaten und jeweils dafür sogar ein gemeinsames Kommando aufstellten.
Hunderte Rebellengruppen
Die Nicht-Islamisten, deren Oberhäupter im Ausland sassen, konnten sich immer nur untereinander darüber streiten, welcher von ihren Gruppen es zukäme, "Syrien zu repräsentieren". Sie spalteten sich in Gruppen, die von Qatar und andere, die von Saudi-Arabien unterstützt wurden. Qatar befreundete die exilierten syrischen Muslimbrüder und deren Freunde; Saudi-Arabien ihre "salafistischen" Gegner und Gegenspieler. Als Mursi Anfang Juli in Ägypten gestürzt wurde, wirkte sich diese Machtverschiebung auch auf die syrischen Exilpolitiker aus. Von da an erlangten die Gegner der Muslimbrüder unter dem Schutz ihrer saudischen Gönner die Oberhand in der syrischen Exilpolitik.
Diese Exilpolitik ist nur deshalb von Bedeutung, weil die westliche Diplomatie nach wie vor auf "Genf 2" hinarbeitet und weil für eine solche Konferenz eine Vertretung der Asad-feindlichen Kräfte notwendig wäre. Die kämpfenden Gruppen gedenken nicht teilzunehmen, und sogar wenn sich die eine oder die andere doch noch dazu überreden liesse, könnte keine von ihnen einigermassen glaubwürdig behaupten, sie spreche für alle die Hunderten von verschiedenen Rebellengruppen, die in Syrien im Felde stehen, und sie sei imstande, bindende Abmachungen für alle zu treffen. Die Exilierten hingegen sind bereit, sich von den westlichen "Freunden Syriens", von denen sie abhängen, überreden zu lassen, nach Genf, oder wie neuerdings vorgesehen, nach Montreux zu reisen. Dort allerdings werden sie notgedrungen nicht mehr als Statisten sein.
Nusra-Front und ISIS
Gegen Ende des Jahres ist deutlicher als zuvor die Gesamtkonstellation der islamistischen Gruppen hervorgetreten. Es gibt die beiden aktivsten, militärisch erfolgreichsten und auch der Bevölkerung gegenüber brutalsten Gruppierungen, die sich der al-Qa'eda Führung unterstellt haben. Dies sind die eher syrische Nusra-Front und die syrisch-irakische Gruppe von ISIS (Islamischer Staat im Irak und in Syrien), der auch die meisten ausländischen Kämpfer zuströmen. Hinter diesen beiden stehen offiziell weder Qatar noch Saudi-Arabien. Ihre Gelder scheinen jedoch aus den Golfstaaten zu stammen, dem Vernehmen nach sind ihre Paten primär private Geschäftsleute aus Saudi-Arabien und aus Kuwait.
Islamische Front
Es gibt weiter seit November einen Zusammenschluss der salafistischen islamistischen Kämpfer, ursprünglich aus fünf wichtigen Gruppierungen, später kamen noch andere hinzu. Er nennt sich Islamische Front, und kämpft für einen Islamischen Staat, jedoch nicht für die Ziele der Qa'eda, der es direkt um die Rolle der Grossmacht Amerika geht.
Saudi-Arabien soll hinter dem neuen Zusammenschluss stehen. Die Islamische Front erklärt sich bereit, mit anderen "aufrichtigen" bewaffneten Gruppen zusammenzuarbeiten. Sie schliesst nicht die pro-Qa'eda Gruppen aus und auch nicht die Freie Syrische Armee (FSA). Doch mit dieser ist sie zusammengestossen, als sie am 6. Dezember die Waffenlager der FSA an der türkischen Grenze von Bab al-Hawa überfiel und plünderte.
Wie bei den Taliban
Die Gruppen der Front und die beiden al-Qaeda unterstellten haben begonnen, sich Gebiete und Bevölkerungen anzueignen, die sie zu regieren suchen. Diese Gruppen hatten gemeinsam die Stadt Raqqa erobert. Doch in der Folgezeit scheint ISIS die anderen Gruppen dort ausgestochen und die Stadt unter ihre Herrschaft gebracht zu haben. ISIS soll Berichten nach dort ein "islamisches" Gewaltregime führen, das jenem Asads in nichts nachsteht.
Es erinnert an die Herrschaftszeit der Taliban in Afghanistan. Feindliche Personen aus der Bevölkerung wandern in Gefängnisse, wo sie mit Misshandlungen rechnen müssen. Die Kämpfer setzen offenbar auf die Angst der verbleibenden grossen Bevölkerungsmehrheit in der Provinzhauptstadt, um ihre Macht über sie zu festigen.
„Zweiter syrischer Krieg“
ISIS steht gleichzeitig auch im Kampf gegen die irakische Regierung unter al-Maliki, die sie als schiitische Regierung ablehnt. Die Wüstengrenze zwischen den beiden Ländern stand bis jetzt den Kämpfern von ISIS offen. Nach den jüngsten Informationen haben die Amerikaner der irakischen Armee soeben "Hell fire"-Raketen und Drohnen geliefert, um ISIS in der irakischen Wüste zu bekämpfen. Sie beliefern damit die irakischen Freunde Asads, um dessen Feinde, auf deren Seite auch Washington steht, aktiv zu bekämpfen...
Kein Wunder, dass weitblickende Kommentatoren bereits von einem bevorstehenden "zweiten syrischen Krieg" sprechen, in dem es dann darum gehen wird, ob die Qa'eda-Leute oder deren salafistische Gegner mit Hilfe der Saudis und der Amerikaner Syrien - oder auch nur die nicht unter Asad stehenden Teile des Landes - beherrschen werden.
Geiselnahmen
Der Rest der weiten Gebiete östlich des Euphrats ist aufgeteilt in zahlreiche "Kleinherrschaften", in denen jeweils die eine oder die andere der islamistischen Gruppen die Macht ausübt, oder auch - in ihren Wohngebieten - die kurdische Miliz der DYP (Demokratische Unionspartei), der syrischen Kurden. Jede dieser Gruppen sucht "ihr" Gebiet durch "Checkpoints" abzusichern und festzulegen. Diese Strassensperren dienen auch dazu, unliebsame Individuen, die sie überqueren, festzunehmen.
Geiselnahmen, viele einfach um Geld zu erpressen, sind zahlreich und nehmen ständig weiter zu. Bei alledem sind natürlich die dortigen Erdölvorkommen, Bohrung um Bohrung, besonders umstrittene und besonders willkommene Beute. Das Rohöl wird auf Lastwagen über die Grenze in die Türkei gebracht und dort in den Schwarzmarkt eingespeist. Doch es dient auch, um die lokalen Elektrizitätswerke zu versorgen.
Widerspruch wird nicht geduldet
In den weiten Gebieten des syrischen Ostens hat Asad nur über seine Luftwaffe Zugriff. Sie bombardiert gelegentlich Raqqa und andere Städte. Es gibt auch noch einige isolierte Truppeneinheiten der syrischen Armee, die weiterhin ihre Stellungen halten. Sie müssen mit Helikoptern mit Lebensmitteln versorgt werden.
Hauptinteresse der islamistischen Gruppen scheint zu sein, dass sie versuchen, eine jede für sich, Herrschaftsgebiete zu schaffen, auf denen sie leben und deren Bevölkerung sie verwalten, beherrschen und ausbeuten können unter dem Vorwand natürlich, sie vor den feindlichen Truppen und Flugzeugen Asads zu schützen und ihnen ausserdem noch ein Leben unter dem "wahren Islam" zu "erlauben". Widerspruch wird nicht geduldet. In ihren Gebieten führen die Islamisten stets Schari'a Gerichte ein. Die Qadis (Richter) sind ihre eigenen Ideologen, die sich selbst als "Gottesgelehrte" betrachten.
Das Land zerfällt
Die Kampfmethoden beider Seiten, der Aufständischen und der Regierungsarmee, führen dazu, dass das Land Schritt für Schritt zerstört und die Bevölkerung obdachlos wird. Die Armee sieht sich veranlasst, sogar gezwungen, ihre schweren Waffen, die für die Feldschlacht bestimmt sind, in bewohnten Gebieten einzusetzen. Sie sieht die dortige Bevölkerung als Komplizen der Rebellen. Ursprünglich bestand sie ja wohl auch überragend aus deren Sympathisanten. Die Luftwaffe geht daher dazu über, die "feindliche" Zivilbevölkerung als solche zu verfolgen und ihre Häuser, oft sogar ihre Spitäler und Schulen, zu zerstören.
Die Rebellen ihrerseits sehen sich darauf angewiesen, innerhalb der Städte, Dörfer und Wohnquartiere zu kämpfen. Anfänglich genossen sie die Zuneigung der zivilen Bevölkerung. Wo diese heute angesichts der zerstörerischen Folgen ihrer Parteinahme beginnt lauer zu werden, sorgen sie mit Gewalt dafür, dass die Bevölkerung auf ihrer Seite verharrt, und sie verhelfen ihr auch zur Flucht, wenn ihre umkämpften Wohnstätten völlig unbewohnbar und ausserdem unsicher geworden sind. Denn sogar eine Flüchtlingsbevölkerung unter "ihrer Obhut" ist ihnen lieber als eine, die auf die Seite ihrer Feinde übergeht.
Keiner kennt seine neuen Nachbarn
Die Regierungsseite steht ihrerseits unter der Herrschaft der Sicherheits-, Polizei- und Geheimpolizeidienste, die Hunderttausende von Gefangenen halten und quälen. Dies sorgt dafür, dass die Flüchtlinge aus den zerschlagenen rebellischen Ortschaften und Stadtquartieren es nach Möglichkeit vermeiden, sich unter den Schutz der Regierung zu begeben.
Mit der Zerstörung der Städte und Dörfer und der gesamten Infrastruktur werden auch die alteingespielten Nachbarschaftsverhältnisse durcheinander gewirbelt. Bisher gab es nachbarschaftliche Beziehungen, auch über die Religionsunterschiede hinweg. Nachbarn in der eigenen Ortschaft und in der näheren Umgebung, waren als Menschen und Mitbürger, oft auch wirtschaftliche Partner, bekannt, ungeachtet der Religionsunterschiede. Doch in der nun durcheinander gewirbelten Flüchtlingsgesellschaft kennt keiner seine neuen Nachbarn. Das Kriterium der Religionszugehörigkeit, die die flüchtigen Menschen mit sich tragen, wird daher zum einzigen, das Freund und Feind unterscheiden hilft. Jeder sucht Zuflucht und Sicherheit bei den Seinen; die Anderen werden dadurch automatisch zu potentiellen und schliesslich auch wirklichen Feinden. Auch auf diesem Weg wächst die Macht der Islamisten über "ihre", sunnitische Bevölkerungsmehrheit.
Kriegsverbrechen auf beiden Seiten
Auch auf diesem Weg nimmt die Grausamkeit immer zu. Sowohl die Regierungsseite wie auch die Rebellen schrecken immer weniger vor Kriegsverbrechen zurück, wenn sie nur annehmen, dass diese ihre Ziele fördern.
Die Zivilbevölkerung der Gegenseite wird als Feind eingestuft und behandelt. Die Regierung ist im Lauf dieses Jahres von der Bombardierung ziviler Wohnquartiere zum Beschuss von Wohnhäusern durch Raketen, dann zu den improvisierten "Kanisterbomben" (barrel bombs), Brandbomben, übergegangen, die über Wohnvierteln, besonders in Aleppo, aus Helikoptern ohne Zielvorrichtungen ausgestreut werden. Vom Giftgas, wer immer es angewandt haben mag, gar nicht zu reden.
120 000 Tote
Statistische Zahlen überdecken die Grausamkeit und die Brutalität des Geschehens. Doch Zahlen sind notwendig, um die Ausdehnung der Katastrophe zu ermessen, die ein ganzes Land von 25 Millionen Bewohnern heimsucht. Die Zahl der geschätzten Kriegstoten betrug Anfang des Jahres 60 000, sie ist seither auf ungefähr 120 000 gestiegen.
Die Zahl der Flüchtlinge und Heimatlosen im Lande ist noch stärker als erwartet worden war, angewachsen. Im Januar 2013 rechneten die internationalen Hilfswerke mit 4 Millionen Hilfsbedürftigen in Syrien. Doch Ende des Jahres war diese Zahl auf 6,8 Millionen gestiegen. 7 Millionen sollen ihre Häuser verloren haben. Etwa 60 % Prozent der früher arbeitenden Bevölkerung gelten als arbeitslos. Zwei der vier wichtigsten Industriestädte, Aleppo und Deir az-Zor, sind völlig lahm gelegt.
Das Brot wird knapp
Flüchtlinge ausserhalb Syriens in den angrenzenden Ländern, die Hilfe brauchten, wurden zu Jahresbeginn auf 700 000 geschätzt. Doch Mitte des Jahres belief sich ihre Gesamtzahl bereits auf eine Million. Sie stieg weiter bis Ende Jahr auf 2,3 Millionen, und immer neue Flüchtlinge kommen in Libanon an, in Jordanien, in der Türkei und sogar in Ägypten.
In ganz Syrien beginnt das Brot knapp zu werden, auch für Personen, die noch eine Arbeit haben und daher einen Lohn beziehen. Es gibt sehr billiges vom Staat subventioniertes Brot in den staatlichen Bäckereien. Dafür muss man lange anstehen, und nicht alle, die anstehen, bekommen etwas. Daneben gibt es private Bäcker mit sehr viel teurerem Brot.
Das syrische Pfund befindet sich im freien Fall. Die staatlichen Finanzen werden durch Hilfe aus Russland und aus Iran getragen. Die Kämpfer beziehen ihre Gelder aus der Golfregion und den verbleibenden Ressourcen der von ihnen beherrschten Bevölkerungsteile. Die Waffenträger beider Seiten werden die letzten sein, denen die Nahrung fehlt.
Es besteht wenig Aussicht, dass die geschilderten katastrophalen Zustände im kommenden Jahr beendet werden können. Wenn dies nicht geschieht, heisst das natürlich auch, dass das Elend aller noch schneller um sich greifen wird, als im vergangenen Jahr. Warum keine oder nur wenig Friedensaussichten bestehen, versuchen wir in einem zweiten Teil dieser Schilderung darzulegen.